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Von Christoph Jünke
Die Nachricht aus Moskau kam überraschend und löste weltweit Schockwellen der Verwirrung aus. Knappe zehn Jahre nach der die Welt bewegenden sowjetrussischen Revolution von 1917 kündigten die Staatsmedien Mitte August 1936 einen öffentlichen Schauprozess gegen eine ganze Reihe der wichtigsten alten Bolschewiki an, deren Namen untrennbar mit der Oktoberrevolution und dem daran anschließenden Bürgerkrieg verbunden waren.
Grigori Sinowjew, Lew Kamenew, Iwan Smirnow und 13 weitere Oktoberrevolutionäre wurden angeklagt, ein „sinowjewistisch-trotzkistisches Zentrum“ gegründet zu haben, um terroristische Attentate gegen führende Partei- und Regierungsvertreter wie den Leningrader Parteisekretär Kirow und den KPdSU-Generalsekretär Stalin durchzuführen. Juristische Beweise oder entlarvende Dokumente jedoch konnte das bereits wenige Tage später am 19. August zusammentretende und nur ganze fünf Tage tagende Gerichtnicht vorweisen. Die gesamte Anklage wie auch die dann folgenden Todesurteile beruhten auf den vermeintlich freiwilligen Geständnissen jener Angeklagten, die der Generalstaatsanwalt Wyschinski öffentlich als „Lügner, Clowns, elende Pygmäen“, als „Kettenhunde des Kapitalismus“ beschimpfte, als „eine Bande von Mördern und kriminellen Verbrechern“. Und um die Verwirrung dieser gespenstischen Szenerie vollständig zu machen, gestanden die Angeklagten die ihnen vorgeworfenen schweren Verbrechen anscheinend bereitwillig und nahmen diese ungeheuerliche Erniedrigung und das Todesurteil weitgehend regungslos hin.
Konturen des Terrors
Die sowjetische Presse berichtete tage- und wochenlang ausgiebig von diesem Prozess. Plakate, Broschüren und stenografische Berichte wurden massenwirksam vertrieben, Massendemonstrationen wurden organisiert, auf denen das Volk seine Abscheu über diese „oppositionellen Verbrecher“ kund tun konnte und musste. Briefe, Telegramme und Resolutionen aus allen Ecken des Landes riefen zur revolutionären Wachsamkeit gegen Feinde und Saboteure des sozialistischen Aufbaus auf und forderten die Hinrichtung der Angeklagten – ein Klima der landesweiten Lynchjustiz, das die Massen politisch mobilisierte und den Prozess legitimatorisch abrundete.
Dasselbe Schauspiel wiederholte sich noch zwei weitere Male. Im Januar 1937 wurden 17 namhafte Partei- und Staatsführer wie Juri Pjatakow, Karl Radek u.a., im März 1938 schließlich auch Nikolai Bucharin, Alexei Rykow, Christian Rakowski und 18 weitere (unter ihnen auch Genrich Jagoda, der derselben Verbrechen „überführte“ Organisator des ersten Schauprozesses) entsprechend angeklagt, verurteilt und danach zumeist hingerichtet. Auch hier wieder beruhten Anklage und Verurteilung ausschließlich auf den vermeintlich freiwilligen Geständnissen und Selbstbezichtigungen der Opfer. Ein weiterer Prozess gegen fast die gesamte Generalität der Roten Armee wurde im Mai 1937 geheim geführt und endete auch hier mit der weitgehenden „Enthauptung“ derselben.
Allen Beobachtern war schon damals klar, dass die drei Schauprozesse nur die Spitze eines gewaltigen Eisberges von Prozessen und Verfolgungsmaßnahmen überall im Lande waren – wenn man auch nicht die genauen Ausmaße dieses Eisberges kannte. Agierte die Partei- und Staatsführung im Jahre 1936 überwiegend offen, ging man in den Jahren 1937 und 1938, als die Suche nach den inneren Feinden in umfassende Massenrepressalien überging, vor allem nicht-öffentlich vor. Doch mit der in den 1980er und 1990er Jahren erfolgten Öffnung der sowjetischen Archive kommt nun zunehmendes Licht ins Dunkel der bisherigen Ungewissheit. Im Großen Terror der 1930er Jahre kam nicht nur die sogenannte alte bolschewistische Garde fast vollständig um. „Gesäubert“ wurden auch die Kommunistische Partei, die Rote Armee und alle anderen Staats- und Parteiorganisationen – also die politische, ökonomische oder Verwaltungselite als Ganze – in einem quantitativen Ausmaß, dass die Sowjetunion am Ende der 1930er Jahre schon rein physisch eine gänzlich andere war als noch Ende der 1920er Jahre.
Und dieser stalinistische Terror betraf, mehr noch, alle Schichten und Gruppen der Gesellschaft. Wissenschaftler_innen, Intellektuelle und Künstler_innen jeder Art, Arbeiter_innen und Bäuer_innen, Geistliche, in Sowjetrussland lebende Ausländer_innen und ganze nationale Minderheiten wurden grausam verfolgt – der scheinbar willkürliche Terror machte vor niemandem halt. Allein vom August 1937 bis zum Oktober 1938 wurden etwa 1,5 Millionen Menschen verhaftet, die Hälfte davon, ca. 700.000 Menschen hingerichtet, die anderen in die Gefängnisse und Arbeitslager gesteckt. Mit den Opfern der Repression aus früherer und späterer Zeit summieren sich diese Zahlen auf mehrere Millionen Menschen, die als einzelne Individuen nach juristischen Kriterien fast durchgängig unschuldig gewesen sind, denn das Politbüro hatte in der Regel bereits vor ihrer Verhaftung offensichtlich willkürlich festgelegte Opferquoten bestimmt, die am Ende der Repressalien herauskommen mussten. Dies alles und noch viel mehr ist heute gut belegt.
Die volle Verantwortung und die Regie für diese Verhaftungs-, Deportations- und Hinrichtungswelle, auch dies ist heute nicht mehr zu bestreiten, trug der engste Führungszirkel der regierenden Kommunistischen Partei, das sogenannte Politbüro mit Stalin an der Spitze. Hier wurden die Opferquoten und Opferlisten für Verhaftungen, Deportationen und Hinrichtungen beschlossen, die von den lokalen Partei- und Geheimdienstorganen abzuarbeiten und von einzelnen Politbüromitgliedern wie Stalin, Kaganowitsch, Shdanow u.a. persönlich abzuzeichnen waren – die meisten Listen hat Stalin persönlich unterzeichnet. Stalin wusste nicht nur über (fast) alles Bescheid, er war auch nachweislich der Initiator und die treibende Kraft sowohl des Großen Terrors wie auch der gesamten Repressionspolitik der 1930er Jahre – und er beendete das Morden im Jahre 1938 ebenso bürokratisch, wie er es begonnen und durchgeführt hatte.
Die Logik des Terrors
Haben wir es beim „Großen Terror“, wie immer wieder behauptet wird, mit einem explosiven Ausbruch an historischem Irrationalismus zu tun, mit einem Exzess der unbeschränkten Macht Stalins? Waren Stalin und seine oligarchischen Genossen nur die willigen Vollstrecker einer im marxistischen Sozialismus angelegten utopischen Idee der Gesellschaftsumwälzung? Eher weniger. Man muss die irrationalistischen Momente auch dieser Geschichte nicht leugnen, um zu erkennen, dass dem Ganzen eine spezifische Logik innewohnte. Schon kritische Zeitgenossen, die die Verhältnisse in Sowjetrussland aus eigener Anschauung gut kannten, v.a. also die von den Repressalien betroffenen antistalinistischen Oppositionellen, haben damals vielfach darauf hingewiesen, dass und wie dieser Terror als Mittel einer historisch neuartigen Herrschaftsformierung fungierte, als die schleichende Machtergreifung und gewaltsame Machtsicherung einer in den zwanziger Jahren aufkommenden neuartigen, bürokratischen Herrschaftskaste.
Es war die sogenannte „Zweite Revolution“, die die UdSSR seit dem Ende der zwanziger Jahre durchmachte, d.h. es waren die 1928 begonnene Zwangskollektivierung der russischen Bauernschaft und die sie begleitende Politik einer forcierten Industrialisierung, die nicht nur Stalin zum unumschränkten Alleinherrscher werden ließ, sondern auch eine Periode der kumulativen Radikalisierung auslöste, an dessen Ende nichts mehr so sein sollte wie zuvor.
Die mit Gewalt und Terror in die Kolchosen und Sowchosen getriebenen russischen Bäuer_innen, die sich schon im Übergang zu den 1930er Jahren mit ebensolcher Gewalt gegen das ihnen aufgezwungene Schicksal zur Wehr setzten; die mit massiven Repressionsmethoden damals aus dem Boden gestampfte, und mit rigiden Arbeitsmethoden klein gehaltene neue sowjetische Arbeiterklasse; die Vertreibung und Ermordung der alten Intellektuellenschicht und ihre Ersetzung durch ehemalige Arbeiter_innen und Bäuer_innen; die Ersetzung der alten Machtelite durch eine von Stalin und dem Parteiapparat abhängige neue Verwaltungselite – all dies sind die sozialgeschichtlichen Folgen einer als Schock-Strategie erfahrenen Industrialisierung und Kollektivierung. Vor diesem Hintergrund waren es die Schauprozesse, die einer gewaltsam atomisierten, entmündigten und physisch bedrohten Bevölkerung einen Sündenbock, eine Erklärung und auch ein Ventil des Unmutes für all die Leiden und Entbehrungen dieser überstürzten und historisch einmaligen Gesellschaftsumwälzung anboten – und jene disziplinierten, die dem Regime und den Erfahrungen und Folgen dieser Schock-Industrialisierung mit Widerwillen oder gar Widerstand begegneten.
Aufs Ganze betrachtet erweist sich die „Große Säuberung“ als ein Akt realer und präventiver Repression gegen jede Form von Nonkonformismus, Renitenz und Opposition, sei sie auch noch so marginal oder unpolitisch – als Mittel zur Herstellung eines neuen, umfassenden („totalitären“) Konformismus im Prozess der Herausbildung und Festigung einer neuen „sozialistisch“-bürokratischen Herrschaftsform. Der Terror war deswegen dem historischen Stalinismus grundlegend immanent, systemischer Natur und Endpunkt eines konterrevolutionären Prozesses, bei dem aus dem Formierungsbedarf der neuen Macht der Repressionsbedarf gegen reale und potentielle Widerstände resultierte, so wie umgekehrt aus dem Repressionsbedarf der Formierungsbedarf erfolgte.
Literatur
Ausführlich zum Thema Christoph Jünke: „Schädelstätte des Sozialismus. Stalinistischer Terror Revisited“, in Gruppe INEX (Hrsg.): Nie wieder Kommunismus? Zur linken Kritik an Stalinismus und Realsozialismus, Münster 2012 (Unrast-Verlag), S.84-106. Dort auch umfangreiche Hinweise zur weiterführenden Literatur.
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- 28 Mär 2017 - 18:55