Unentdeckte Täterschaften. Nicht Hitlers Hunde, Frauen und Kameraden, sondern Täterschaft in meiner Hood
Von Kathrin Krahl
„‚Ich finde nicht schön, daß Hitler die Juden umgebracht hat. Jeder von Ihnen verdient unser Mitleid.‘ Das hinterließ eine Neuntklässlerin im Gästebuch einer Ausstellung. ‚Wieso Hitler? Dein Opa!‘, schrieb ein anderer Besucher in Verkürzung des landläufigen Täterdiskurses dahinter.“
Dieser Artikel diskutiert das Spannungsfeld zwischen den global bekannten Täter_innen des Nationalsozialismus und der unsichtbaren lokalen Täterschaft in der eigenen Stadt, dem eigenen Dorf. Anders als im Histotainment nach Art von Dokumentationen wie „Hitlers Helfer“ sind in Lokalrecherchen die kleinen und großen unentdeckten Täterschaften zentral – Nachbar_innen, Bürgermeister_innen, Bauern und Bäuerinnen, Polizei und KZ-Außenlager-Personal.
Der Fokus in der historisch-politischen Bildungsarbeit verschiebt sich seit einigen Jahren von der Erforschung der Biografien der verfolgten und ermordeten Jüdinnen und Juden hin zur Erforschung und Diskussion von Täterschaft. Das ist keine Abwendung von den Verfolgten und Opfern, sondern dient einer kritischen Auseinandersetzung mit denen, die Verfolgung anstifteten. Da die Verfolgten nahezu aller Rechte und individuellen Entscheidungen beraubt wurden, kann anhand ihrer Biografien über individuelle Handlungsspielräume nur sehr schwer diskutiert werden. Daher scheint es mehr und mehr wichtig, die Täter_innen zu erforschen und anhand ihres Handelns politische Meinungsbildungsprozesse zu diskutieren, die zu Verfolgung, Bereicherung, Gleichgültigkeit bis hin zum Widerstand führten. Das Ziel eines historischen Verstehens meint keineswegs, Verständnis für Täter_innen zu entwickeln. Wenn wir die gesamtgesellschaftliche Struktur des eliminatorischen Antisemitismus begreifen wollen, wie es zu den nationalsozialistischen Verbrechen gekommen ist, muss die Betrachtung der Täter_innen Eingang in die Auseinandersetzung finden. Denn sie, nicht die Verfolgten, haben die Entscheidungen getroffen, die zu millionenfachem Mord führten.
Lokale Täterforschung untersucht, welche ansässigen Institutionen, welche lokal gelebten Ideologien und welche Bedingungen die Täter_innen vorfanden, um den Mord an den europäischen Jüdinnen und Juden zu vollstrecken. Zentral sind dabei gerade die Taten, die in Ausbildung und Beruf eingebettet waren, da dort die Schaltzentralen von der Diskriminierung bis zum Mord lagen - von der Erfassung von Menschen, die als Jüdinnen und Juden kategorisiert wurden, in den Ämtern bis zu den Deportation in die Vernichtungslager durch Mitarbeiter_innen der Reichsbahn. Wie befreie ich mich von der in vielen Arbeitsprozess angelegten instrumentellen Verstrickung in Verbrechen? Wie und warum funktioniert ein Mensch wie Adolf Eichmann, der nicht fragt, ob Menschen zu deportieren sind, sondern wie es logistisch am besten zu bewerkstelligen ist? Das sind Fragen, die auch lokalgeschichtlich relevant sind.
Das Erarbeiten und Diskutieren eines Spektrums von Abweichung von der Mehrheit ist ebenfalls Teil der Betrachtung- ein störrischer Bauer, der Ausgrenzung nicht versteht, eine Chorleiterin, die das jüdische Kind nicht aus dem Chor verbannt, ein Bäcker, der jüdische Nachbarn versorgt und später versteckt.
Nationalsozialistische Täterschaft gewinnt mit der Adresse in der eigenen Stadt merklich an Konturen
„Hier, in meiner Stadt, gab es Ausgrenzung und Stigmatisierung, hier gabs mal ein KZ-Außenlager, hier gab es Zwangsarbeit und Deportationen, hier passierten Todesmärsche!“, so die Erkenntnisse aus der Lokalgeschichte. Die Shoah ist Teil der Menschheitsgeschichte, und Menschen haben dieses Verbrechen anderen Menschen angetan. Daher untersucht die Täterforschung konkrete Handlungsentscheidungen der Menschen während des Nationalsozialismus. Die Tat, die Handlung und die Vollstreckung, steht im Mittelpunkt. Denn die Shoah war möglich, weil einzelne Menschen an allen Orten mit ihren Entscheidungen und Handlungen gemeinsam die Bedingungen für die Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden geschaffen haben. Daher bedarf es der Auseinandersetzung mit der Vielschichtigkeit der Tat(en). Die Täterschaft definiert sich aus der Abgrenzung zu den Handlungen der anderen Akteur_innen, die sich nicht an der Verfolgung der Jüdinnen und Juden beteiligt haben, Menschen, die Widerstand geleistet oder geholfen haben.
Für die Praxis heißt das, unterschiedliche Biografien in der Lokalgeschichte ausfindig zu machen. Jede Biografie steht somit für ein Tat- und Handlungsmotiv. Zentral ist dabei, auf die individuellen Möglichkeiten der_des Einzelnen hinzuweisen. Lokalgeschichte ist hier ein wichtiger Träger, ehemalige Verfolger_innen wie Verfolgte haben eine Adresse in der eigenen Stadt.
Täterschaft wird am deutlichsten über Unterlassung, Widerstand und Hilfe, also über die Ausnahmehandlungen Weniger
Die Orientierung an der konkreten Handlung lokaler Akteur_innen fokussiert eine einzelne Tat; anhand der Tat kann deren Beurteilung stattfinden. Folgende Gruppen von Akteur_innen bieten sich für eine ausdifferenzierte Betrachtung an: Täter_innen, Verfolgte und Ermordete, Gerechte unter den Völkern und Widerständler_innen. Jeder Typ repräsentiert eine Entscheidungsweise und untersucht somit ein Tat- und Handlungsmotiv. Mit dem Idealtyp oder Phänotyp der Täterschaft sind jene gemeint, die sich pro-aktiv am Nationalsozialismus beteiligt haben, Mitglieder der SS, SA und NSDAP-Größen. Sie können als überzeugte ideologische Täter_innen begriffen werden. Häufig handelt es sich um Bürgermeister und lokale NSDAP-Mitglieder. Die Schreibtischtäterschaft beschreibt die im Beruf befindlichen Verbrecher_innen, z. B. Menschen, die sich an der Registrierung, dem Ausschluss aus der Schule, Verfolgung am Reißbrett und nach Gesetz beteiligt haben. Auf diese Personen stoßen wir in Behörden, Schulen, Universitäten und Ämtern. Täter_innen der Stadt-/Dorfgesellschaft sind meist anonyme Protagonist_innen der antisemitischen Ausgrenzung, der Schikane, des Raubes und des vermeintlichen Wegsehens. Ihre Taten ermöglichen die Alltäglichkeit der Verfolgung und normalisieren das Verbrechen. Die Betrachtung von Täterschaft bedarf der Kontrastierung durch jene Menschen, die sich keines Verbrechens schuldig gemacht haben. Das Spektrum umfasst hier jene, die verfolgt wurden, und alle, die sich den Verbrechen versagt haben. Ihre Biografien geben der Täterschaft Konturen.
Die Biografien von Gerechten unter den Völkern und Widerständler_innen sind insofern wichtig, als sie zeigen, dass die Gesellschaft nicht unveränderbar ist. Weil der Nationalsozialismus kein Hochwasser oder eine Umweltkatastrophe war, hat jede und jeder ihren_seinen Teil für oder gegen diese Art von Gesellschaft geleistet. Die Biografien der Widerständigen und Gerechten sind in der Lage, ein Role-Modell zu stiften und der Urteilsfindung zu dienen. Der_die Gerechte_r unter den Völkern ist ein in Israel eingeführter Ehrentitel für nichtjüdische Personen, die während des Nationalsozialismus ihr Leben einsetzten, um Jüdinnen und Juden vor der Ermordung zu retten. Sie zeigen, was die meisten Menschen versäumt haben, den mutigen Einsatz für eine andere Person. Der damit veranschaulichte Kontrast setzt das Handeln der Mehrheit in ein anderes Licht und zeigt ungenutzte Spielräume auf. Die Widerständler_innen entlarven das Sprechen über „man konnte ja nichts tun“ als falsch. Lokaler Widerstand von Anarchist_innen, Rom_nja und Sint_ezze, Kommunist_innen, Jüdinnen und Juden und Intellektuellen uvm. zeigt die Handlungsspielräume des Individuums.
In die lokale Gegenwart
Die historische Beschäftigung mit der Shoah bleibt ein wichtiger Ausgangspunkt für die historisch-politische Bildungsarbeit, weil das Erinnern an die Ermordeten und Verfolgten noch immer keinen Eingang in unsere Alltäglichkeit gefunden haben. Zu wenig bekannt und markiert ist die Geschichte über die ermordeten jüdischen Nachbar_innen und die im Ort verfolgten Jüdinnen und Juden aus Europa. Meist Jugendliche versuchen diese Lokalgeschichte zu recherchieren und in ihrem eigenen Wirken in der Gegenwart, für die Verfolgung Verantwortung zu übernehmen - nicht für eine Nation oder eine Generation, sondern für ihren unmittelbaren Nahraum: die Schule, die Straße, das Schwimmbad, die Kommune. Das Bemühen um die Biografien, diese Lebensfragmente, zeugt vom Bedürfnis, den Verfolgten einen Platz in der Gegenwart einzuräumen.
Der Beschäftigung mit dem Gestern folgt ein Heute: Debatten um die Umbenennung von lokalen Plätzen nach Verfolgten und Ermordeten der Shoah, die Markierung der Verbrechen in den Kommunen sowie das Sichtbarmachen der Verbrechen des Nationalsozialismus zum Ausgangspunkt von politischem Handeln zu machen. Denn die Geschichte der deutschen Täterschaft hat auch eine Gegenwart: Es gibt eine Vielzahl an Forderungen Verfolgter und deren Angehöriger, denen sich angeschlossen werden kann - Restitution des ehemaligen und geraubten Vermögens und der Kunst, medizinische Versorgung und Unterhaltszahlungen für die Überlebenden, die teilweise in ärmlichsten Verhältnissen leben müssen, Kompensation für geleistete Zwangsarbeit etc.
Die Dauerschleife im Fernsehen, auf den Spiegel-Covern und im Internet zu „Hitlers Helfern“ kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine wirkliche Auseinandersetzung mit der Tat, dem Zivilisationsbruch noch aussteht. Die Auseinandersetzung um lokale Täterschaft bringt die nationalsozialistische Geschichte vor die eigene Haustür, da, wo vielerorts wieder rechte Einstellungen zum Mainstream werden. Lokale Täterforschung provoziert die Selbstbefragung im Angesicht von rassistischer und antisemitischer Gewalt und rechtem Terror: Welche Rolle will ich übernehmen, die des Mittuns oder die des Widerstands und der Gerechtigkeit?
Literatur
Heinrich-Böll-Stiftung Brandenburg & Weiterdenken - Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen (Hg.): Ortsbegehung: Erfahrungen und Ergebnisse zur lokalen Auseinandersetzung mit Shoah und Täterschaft, 2015.
Oliver von Wrochem (Hg.) / Christine Eckel (Mitwirkende): Nationalsozialistische Täterschaften: Nachwirkungen in Gesellschaft und Familie (Reihe Neuengammer Kolloquien), 2016.
Nina Schulz / Elisabeth Mena Urbitsch: Spiel auf Zeit. NS-Verfolgte & ihre Kämpfe um Anerkennung & Entschädigung, 2016.
Hilmar Sack: Gebt Hitler nicht Eure Telefonnummer – Eine Rückschau auf die Ausstellung Holocaust, in: Ästhetik und Kommunikation, Heft 122/123, 34. Jahrgang, 2003.
Florian Wenninger: Die Wohnung des Rottenführers D. Über Opferfokus und Täterabsenz in der
zeitgeschichtlichen Vermittlungsarbeit, in: Hilmar, Till: Ort, Subjekt, Verbrechen. Koordinaten historisch- politischer Bildungsarbeit im Nationalsozialismus, 2010.
Raul Hilberg: Täter, Opfer, Zuschauer: Die Vernichtung der Juden 1933-1945, 1997.
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- 14 Dez 2016 - 08:40