Von Christian Schmitt
In der deutschen Presselandschaft ist der Zustand der Demokratie ein in den vergangenen Monaten viel diskutiertes Thema gewesen. Wachsende Politikverdrossenheit, Antiparlamentarismus und rechter Terror werfen die Frage auf, wie akut die von Rechtspopulismus und -extremismus ausgehende Gefahr für unser etabliertes Staats- und Gesellschaftsmodell wirklich ist und wie man ihr begegnen muss. Eine Ausgabe von „Aus Politik und Zeitgeschichte“ (APuZ) aus dem Oktober 2016 sammelt zu diesem Thema sieben Beiträge und geht der Frage nach, ob eine Krise der repräsentativen Demokratie tatsächlich existiert und, falls ja, worin ihre Ursachen liegen.
Wolfgang Merkel widmet sich im einführenden Beitrag der These vom weltweiten Rückzug der Demokratie. Der Autor stellt zunächst fest, dass eine Krise der Demokratie statistisch nicht gestützt wird und dass einschlägige Indizes in globaler Hinsicht nach wie vor leichte Fortschritte anzeigen. Merkel macht auf den Anpassungsdruck als ständige Herausforderung demokratischer Systeme aufmerksam; „Institutionen und Verfahren des demokratischen Staates“ (S. 5) müssen sich Veränderungen im Inneren wie im Äußeren anpassen, um nicht dysfunktional zu werden.
„Zweidritteldemokratie“ lässt untere Schichten außen vor
Merkel zeigt weiterhin Bedingungen und Prozesse auf, die, wie etwa in Ungarn oder der Türkei geschehen, aus Krisenerscheinungen Krisen der Demokratie machen können. Er unterscheidet anhand mehrerer historischer Beispiele zwischen „akuten Krisen“, die unter Umständen zu einem Kollaps der Demokratie führen können, und „latenten Krisen“ mit schleichendem Demokratieverlust über mehrere Jahre. Aus den Befunden vergangener Analysen sieht Merkel bisher ungelöste Herausforderungen insbesondere im Bereich sozioökonomischer und politischer Ungleichheiten, jedoch keine bevorstehende existentielle Krise der Demokratie. Dennoch diagnostiziert er mit Sorge eine Art „Zweidritteldemokratie“ (S. 11), die von den gebildeten Schichten gestaltet wird und die unteren Schichten außen vor lässt. Von einer Rückbesinnung der Mitte-Links-Parteien auf „sozial-kommunitäre Forderungen“ (ebd.) hänge schließlich die „Güte und Stabilität unserer Demokratie“ (ebd.) ab und damit auch ihre Standhaftigkeit gegen chauvinistische und fremdenfeindliche Rechtspopulisten.
Ein auch in der medialen Debatte häufig herangezogener Vergleich sucht nach Analogien zwischen der Krise der Weimarer Demokratie und der heutigen Situation. Auch die vorliegende APuZ-Ausgabe nimmt sich diesem Vergleich in Person von Elke Seefried an. Die Autorin arbeitet in ihrem lesenswerten Beitrag zunächst einige Krisensymptome des Weimarer Staates heraus. Die ungeheure Anzahl von zeitweise 15 Fraktionen im Reichstag und eine erodierende Parteienmitte führten demnach zu einer Klientelpolitik und begünstigten ein Erstarken systemfeindlicher Parteien. Der Aufschwung dieser extremistischen Parteien brachte gleichzeitig Gewalt durch deren paramilitärische Formationen auf die Straßen. Probleme in der Koalitionsbildung sorgten außerdem dafür, dass der Weimarer Staat die meiste Zeit seines Bestehens von Minderheitsregierungen oder Großen Koalitionen regiert wurde.
Fragmentierung des Parteiensystems seit der Wende - Weimarer Verhältnisse?
Auch wenn sowohl die innen- als auch außenpolitischen Probleme unserer Zeit nur schwer mit denen der Weimarer Republik zu vergleichen seien, sieht Seefried analoge Tendenzen: Zum einen die Wirtschaftskrise 1929/30 beziehungsweise den Börsencrash 2008 mit ihren jeweiligen globalen Auswirkungen, zum anderen die geopolitische Brisanz in Form der „fragilen Lage Deutschlands und Europas nach dem Ersten Weltkrieg“ (S. 22) beziehungsweise der Konflikte im Zuge der EU-Osterweiterung sowie Euro- und Flüchtlingskrise.
Auch im 21. Jahrhundert stellt die Autorin einen Schwund an Mitgliedern und Bindungskraft bei den großen deutschen Volksparteien fest und bilanziert eine verstärkte Fragmentierung des Parteiensystems seit der Wende mit der Erweiterung durch Linkspartei und neuerdings die AfD. Den aktuellen Rechtsruck nennt sie ebenso wie die wachsende politische Gewalt. Die vielen Regierungsjahre der Großen Koalition bremsen Seefried zufolge zudem den „Pendelschlag des Parlamentarismus“ (S. 23.) wie einst in Weimar.
Weitere Beiträge der Ausgabe untersuchen die Konstellationen demokratischer Repräsentation und die damit verbundenen Herausforderungen an die jeweiligen Repräsentanten, arbeiten den Unterschied zwischen „Anti-Establishment-Bewegungen“ und Populisten heraus und analysieren mögliche Ursachen von und institutionelle Maßnahmen gegen die sinkende Wahlbeteiligung. Ein Artikel widmet sich den Einstellungen junger Menschen zur Demokratie, die sie einerseits mehrheitlich befürworten, andererseits der Politik mehr und mehr den Rücken zuwenden. Thema sind außerdem Machtverschiebungen zugunsten der Exekutive bei politischen Entscheidungen, bedingt durch ihre Auslagerung in Expertengremien und Kommissionen.
Zusammenfassung
Die APuZ-Ausgabe „Repräsentation in der Krise?“ geht ihrer im Titel formulierten Ausgangsfrage aus der Perspektive verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen nach und zeichnet ein vieldimensionales Bild vom Zustand der westlichen, insbesondere der deutschen Demokratie. Ohne die Augen vor politischen Missständen oder sozialen Fehlentwicklungen zu verschließen, leistet sie damit einen angenehm sachlichen Beitrag zu einer aktuell oftmals hysterisch geführten Debatte.
APuZ 40-42/2016 ist kostenfrei im Onlineshop der Bundeszentrale für politische Bildung erhältlich.
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- 23 Nov 2016 - 07:01