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Die enthemmte Mitte. Autoritäre und rechtsextreme Einstellung in Deutschland

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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Dr. Juliette Brungs promovierte 2013 an der University of Minnesota in Minneapolis zu politisch interventionierender Gegenwartskunst und -literatur. Sie forscht in den Bereichen German-Jewish Studies, Trauma Studies und Performance Studies. Seit 2014 ist sie bei der Stiftung SPI als Beraterin beschäftigt, seit 2015 im Projekt der BBS »Annedore« tätig.

Von Juliette Brungs

Die in diesem Sommer vorgestellte Studie der Universität Leipzig, der Heinrich Böll Stiftung (Grünen-nah), der Otto Brenner Stiftung (Gewerkschafts-nah) und der Rosa-Luxemburg-Stiftung (Linke-nah) ist in mehrfacher Hinsicht stark kritisiert worden. Zu Unrecht. Ein Resümee.

Das erste Missverständnis liegt in der Interpretation des Titels

Von Professor Klaus Schroeder (FU Berlin) wurde der Titel der Studie in einem Gespräch mit dem Deutschlandfunk vom 15.Juni 2016 als „reißerischer Titel, der Aufmerksamkeit bringen soll“ bezeichnet. Dabei fokussiert die Studie allerdings gerade nicht den Anteil der Menschen, in deren Einstellung sich eine rechtsextreme Ideologie wiederfindet. Sie widmet sich vielmehr der Untersuchung des Ausmaßes an Radikalisierung in autoritären-rechtsextremen Milieus und ist aus diesem Grunde so benannt worden. Dass wir zudem gesellschaftlich eine Radikalisierung erleben konnten, dürfte angesichts der seit 2015 von diversen Gida-Bewegungen organisierten Versammlungen und Demonstrationen, sowie anderer gesellschaftlicher Verschiebungen niemand bestreiten wollen.

Durchführung und Finanzierung der Studie

Seit 2002 werden die Mitte-Studien im zweijährigen Rhythmus durchgeführt. Von 2006 bis 2012 wurden sie in Zusammenarbeit mit der Friedrich-Ebert-Stiftung (SPD-nah) als Teil des bei ihr angesiedelten Projekts „Gegen Rechtsextremismus“ durchgeführt. Die Studie von 2014 entstand in Kooperation mit dem Meinungsforschungsinstitut USUMA. Seit 2016 finanzieren die oben genannten Stiftungen die Erstellung, deren Datenerhebung weiterhin USUMA liefert.

Die Unterstellung

Von den Kritikern wird der Studie per se eine Voreingenommenheit für linke Positionen unterstellt. Professor Schroeder nennt die Studie „interessengeleitet“. Jasper von Altenbockum bezeichnete in der FAZ die „Leipziger Arbeitsgruppe“ als eine, „die mit Adorno, Horkheimer, Marcuse und Fromm ihren antifaschistischen Weg“ gehe, „der unter den Deutschen den ‚autoritären Charakter‘ aufspüren will“ (Was ist Rechtsextremismus? Die enthemmten Wissenschaftler, FAZ, 17.06.2016). Altenbockums Verwendung stereotyper antisemitischer Anwürfe gegen die von ihm so genannten „enthemmten Wissenschaftler“ ist frappierend, wenn auch nicht überraschend. Denn selbstverständlich waren alle genannten Theoretiker des Institutes für Sozialforschung jüdischer Herkunft. Angelehnt an eine übernommene Rhetorik steht dieses Faktum hier als Synonym für „un-deutsch “, „bolschewistisch“ und selbstverständlich „enthemmt“ ob in Theorie oder Sexualität. So lässt sich allerdings heute nicht mehr öffentlich unkommentiert, unkritisiert oder ungestraft denunzieren. Altenbockum versucht den Ansatz der auf soziologischen Standards basierenden Untersuchung mit dem schlecht versteckten Vorwurf, sie wolle etwas „aufspüren“ (das demnach ja gar nicht da sei) zu brandmarken. Er sagt damit zugleich: Den Deutschen würde von „enthemmten Wissenschaftlern“ in ‚benannter (jüdisch-marxistischer) Tradition‘ eine Neigung zum Autoritären untergeschoben. Damit schließt Altenbockum an bekannte deutsche Entschuldungsdebatten an und hat sich selbst aufgrund von tendenziöser Unsachlichkeit aus der sachlich geführten Debatte entfernt.

Die Studie

Bei den „Mitte“-Studien handelt es sich um Repräsentativerhebungen, das heißt, jedes relevante soziodemographische Merkmal in der Bevölkerung hat in der Stichprobe (2000-5000 Probanden) die gleiche Chance, in die Stichprobe einzugehen. Im Zentrum der Studie steht der Fragebogen zur rechtsextremen Einstellung, der diese im Hinblick auf Chauvinismus, Befürwortung einer rechtsautoritären Diktatur, Ausländerfeindlichkeit, Antisemitismus, Sozialdarwinismus und NS-Verharmlosung abfragt. Zu jeder dieser Dimensionen erhielten die Befragten drei Aussagen, die mit Hilfe einer fünfstelligen Skala zu bewerten waren. Es werden in jeder Erhebungswelle weitere  Fragebögen zur politischen Einstellung miterhoben, so z.B. zur Akzeptanz der Demokratie. Mit zusätzlichen Fragebögen wurden 2016 Einflüsse auf die politischen Einstellungen wie beispielsweise zur politischen und sozialen Deprivation, Verschwörungsmentalität und Autoritarismus untersucht und dabei Indikatoren der gesellschaftlichen Prozesse und des Funktionierens der Demokratie gewonnen. Mit weiteren sechs Items einer Kurzskala beleuchteten die Wissenschaftler_innen Akzeptanz von und Verhaltensbereitschaft zu Gewalt. Diese zusätzlichen Fragebögen dienten der gezielten Prüfung von Hypothesen zur politischen Lage, sowie der Gewinnung von Erkennentissen zu gesellschaftlichen Prozessen. Der in der Studie verwendete schriftliche Fragebogen bestand aus zwei Teilen, von denen der erste, soziodemographische, gemeinsam mit dem_r Interviewer_in, der zweite aus Diskretionsgründen eigenständig zu beantworten war.

Die Resultate wiesen seit Beginn der Studien deutlich darauf hin, dass rechtsextreme Einstellungen in allen Bevölkerungsschichten anzutreffen sind; dabei erreichte seit Jahren die Ausländerfeindlichkeit in Ost und West besonders hohe Zustimmungswerte. Diese schlugen sich bisher jedoch nicht in Mobilisierungsverhalten nieder, d.h. auch diese potentiellen Wähler waren bis dato an die großen Volksparteien angebunden geblieben.  

Wichtige Ergebnisse der Studie 2016 sind einerseits, dass Rechtsextreme in der AfD nun eine Heimat gefunden haben und zunehmende Radikalisierung, Gewaltbereitschaft und Polarisierung unsere Gesellschaft erfassen. Hinzukommt, dass sich eine starke Ausprägung rechtsextremer Einstellungen unter Pegida-Anhängern, sowie ein hoher Anteil rechtsextrem Eingestellter bei jungen Erwachsenen in Ostdeutschland nachweisen lässt. Das heißt zugleich, dass der Anteil an Menschen, „bei denen sich rechtsextreme Ideologie in der Einstellung wiederfindet“, seit 2006 eher gesunken ist, zugleich aber „in den autoritär-rechtsextremen Milieus eine Radikalisierung“ stattfindet (Die Leipziger „Mitte-Studie 2016 – Eine Stellungnahme, S.2).

War ein gesellschaftlicher Trend eventuell durchaus wahrnehmbar, so liefern diese Ergebnisse doch den im weitesten Sinne im Bildungsbereich Tätigen wertvolle und nützliche empirische Daten.

Die Kritik

Die Studie ist in der Öffentlichkeit in Aufbau, Durchführung und Ergebnis mitunter scharf angegriffen worden, durchaus mit dem Ziel, sie zu diskreditieren. Erhebungen dieser Art arbeiten mit fachspezifischem Handwerkszeug, statistischen Überprüfungen und Indikatoren, welche wie oben beschrieben die Fragebogengüte sicherstellen sollen. Die Kritik ließ mitunter den Einblick in diese üblichen statistischen Methoden vermissen. Zugleich wurden der Studie Suggestivfragen oder unzureichende Formulierungen unterstellt. Das Verfahren der Studie beruht auf für diese Art Befragungen üblichen Standards. Teststatistische Überprüfung der in beiden Studienreihen verwendeten Aussagen sind standardisiert, die Items entstammen zum Teil der „Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften“ (ALLBUS) und anderen nationalen und internationalen Vergleichsuntersuchungen. Der Cronbachs Alpha, der die innere Konsistenz einer Studie misst, liegt für die Mitte Studie 2016 bei sehr guten 0.94. Gemessen werden hierbei eben nicht die Beantwortung der Aussagen, sondern die ihnen innewohnenden Tendenzen, mit dem letztlichen Ziel, ein Konstrukt zu erfassen. Für eine beispielhafte Beschreibung der Kritik verweise ich aus Platzgründen auf die als PDF im Internet abrufbare Reaktion der Wissenschaftsgruppe „Die Leipziger „Mitte-Studie 2016 – Autoritäre und rechtsextreme Einstellung in Deutschland. Eine Stellungnahme“.

Fazit und Empfehlung

Die Studie zeigt wissenschaftlichen Standards entsprechend seit mehreren Jahren kontinuierlich Bewegungen im Bereich deutscher Zustände und Befindlichkeiten. Sie knüpft damit an die unter Wilhelm Heitmeyer an der Universität Bielefeld entwickelten und regelmäßig durchgeführten Erhebungen und Untersuchungen „Deutsche Zustände“ an. Wie in den Sozialwissenschaften üblich, werden anhand pauschalisierender Statements Tendenzen bestimmt: im vorliegenden Fall wird testübergreifend untersucht, inwieweit die Probanden in ihren Antworten eine Tendenz aufzeigen, indem sie einer generalisierenden Aussage oder einem Vorurteil zustimmen oder diese/s ablehnen.

Die Studie sollte, wer thematisch im Bereich arbeitet, unbedingt zur Kenntnis nehmen. Sie reiht sich in die vorangegangenen Studien ein und dokumentiert die gesellschaftlichen Verschiebungen seit 2014. Die Studie ist ein guter Gradmesser und liefert einige wichtige Richtwerte. Es hilft uns nicht, wenn wir die politischen Bewegungen in der Gesellschaft über- oder unterinterpretieren. Die Leipziger Studie „Die enthemmte Mitte“ dokumentiert den aktuellen wissenschaftlichen Beobachtungsstand zum antidemokratischen Potential in unserer Gesellschaft und erläutert die Ergebnisse in kurzen Artikeln. Sie ist schlicht gesagt ein Standardwerkzeug für alle Demokrat_innen.

Oliver Decker, Johann Kies und Elmar Brähler (Hrsg.): Die enthemmte Mitte. Autoritäre und rechtsextreme Einstellung in Deutschland. Universität Leipzig 2016.

 

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