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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel Sie müssen angemeldet sein, um das Benutzerprofil zu sehen |
Von Jonas Frykman und Christoph Schulze
Düster ist das Bild unserer Gesellschaft, das Enrico Graziani an einem sonnigen Nachmittag in der Potsdamer Fußgängerzone heraufbeschwört: Täglich werde heftiges Unrecht in Deutschland verübt, „durch das völlige, totale Versagen und an Inkompetenz nicht zu überbietende deutsche Systempolitiker“. Graziani ist eine Art Wanderprediger im „Pegida“-Milieu. An diesem Sonnabend im August 2016 gibt er den Einheizer für die „Patrioten Potsdam“: „Die Volksverräter“, ruft er auf dem Luisenplatz, „wollen ihr eigenes Volk mit Absicht auslöschen!“ „Volksverräter, Volksverräter!“ skandieren viele der knapp einhundert Anhänger_innen daraufhin. Applaus brandet auf, als Graziani sein Publikum schließlich zum „Widerstand“ aufruft: „Wir haben die Pest überlebt, so werden wir auch diese BRD-Diktatur überleben mit Merkel an der Spitze!“
Szenen wie diese spielten sich in den vergangenen zwei Jahren in vielen Orten in Deutschland ab. Die Dresdner „Pegida“-Demonstrationen, zu denen bis zu 20.000 Menschen kamen, waren das Vorbild, nach dem flächendeckend Protestbündnisse entstanden – besonders stark im Osten der Republik. Im Land Brandenburg fanden 2015 insgesamt 105 extrem rechte beziehungsweise flüchtlingsfeindliche Demonstrationen mit einer Mindestteilnehmerzahl von 50 Personen statt. In den 15 Jahren zuvor waren es nie mehr als elf rechte Demos pro Jahr gewesen. Die Mobilisierung und inhaltliche Ausgestaltung der Proteste wurde vor allem über Facebook-Seiten und -Gruppen organisiert, die parallel zu den Demonstrationen entstanden und ihre Reichweite schnell steigerten. Etwa 85.000 „Likes“ versammeln die rund einhundert einschlägigen brandenburgischen Seiten inzwischen auf sich.
Begleitet wurde die Zunahme der Proteste von Gewalt: Die Opferberatungsstelle „Opferperspektive“ meldete 203 rechte Gewalttaten in Brandenburg im Jahr 2015 – so viele, wie seit 15 Jahren nicht mehr. Bemerkenswert ist, dass in den Landkreisen, in denen besonders viele rechte Demonstrationen stattfanden, auch deutlich mehr Gewalttaten verübt wurden. In Nauen (Havelland) beispielsweise marschierten seit dem Frühjahr 2015 monatlich um die einhundert Flüchtlingsgegner_innen auf; parallel häuften sich Anschläge auf Büros und Autos von demokratischen Politiker_innen und in der Flüchtlingshilfe engagierten Vereinen. Schließlich wurde im August 2015 eine als Notunterkunft für Flüchtlinge vorgesehene Turnhalle durch einen Brandanschlag zerstört. Ende November 2016 beginnt der Prozess gegen die Tatverdächtigen – unter ihnen ein Nauener NPD-Funktionär.
Vom Protest zum „Widerstand“
Seit dem Frühjahr 2016 nehmen die Anzahl und Größe der Demonstrationen ab. Gleichzeitig werden die Versammlungen zunehmend von Neonazis dominiert, und immer öfter sind Delegationen anderer Protestbündnisse zu Gast. In Rathenow etwa waren im Herbst 2015 noch bis zu 600 Personen den Aufrufen des „Bürgerbündnisses Havelland“ zu Demonstrationen gegen die Aufnahme von Flüchtlingen gefolgt. Ein Jahr darauf war die Zahl auf 50 Teilnehmer_innen geschrumpft. Unter ihnen waren nun aber Anhänger_innen von „Bärgida“ aus Berlin, der „Bürgerbewegung Altmark“, der „Brigade Magdeburg“ sowie der Partei Alternative für Deutschland (AfD). Die Demonstrationen dienen zunehmend der Vernetzung mit Gleichgesinnten; zu beobachten ist auch, dass die vertretenen Inhalte radikaler geworden sind. Es geht bei diesen Versammlungen nicht (mehr) um einen Protest von Anwohner_innen, die Mitsprache darüber fordern, wo, wie und wie viele Flüchtlinge untergebracht werden. Die Unzufriedenheit mit der Asylpolitik der Bundesregierung soll sich nach dem Willen der Protagonist_innen vielmehr zu einem fundamentalen „Widerstand“ gegen das demokratische System entwickeln. Dazu passt auch, dass die Zahl der Gewalttaten gegen Flüchtlinge und ihre Helfer_innen in der ersten Jahreshälfte 2016 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum noch zugenommen hat.
Bis 2014 waren bei Straßenaktionen gegen die Aufnahme von Flüchtlingen fast ausschließlich Anhänger_innen und Aktivist_innen aus einem Milieu zwischen NPD, Kameradschaften, „Der III. Weg“, „Die Rechte“, Hooligans und Rechtsrockfans. Das hat sich 2015 geändert. Sowohl als Organisator_innen wie als Teilnehmer_innen von Demonstrationen sind Bürger_innen aktiv geworden, die keine Verbindung zu diesen rechtsextremen Organisationen haben. Die meisten der Protestbündnisse betonen auch, dass sie lediglich für den „gesunden Menschenverstand“ und für „Demokratie“ einträten. Auf Vorwürfe, sie verträten vielmehr rechtes Gedankengut, reagieren sie mit Verweisen auf die Meinungsfreiheit und beklagen sich darüber, dass sie „als Nazis diffamiert“ würden.
In der Tat waren es, wenn 2015 „Bürgerbündnisse“ auf die Straße gingen, vielfach organisierte Rechtsextreme, die Banner mitbrachten oder sich um die Lautsprechertechnik kümmerten. Die NPD hatte ihre Kader aufgefordert, bei den Protesten die eigene Gesinnung aus taktischen Gründen zu verheimlichen. So trat Manuela Kokott mehrfach als Rednerin auf und sprach, als sei sie eine „besorgte Bürgerin“ und nicht eine erfahrene NPD-Aktivistin. Hauptfigur des brandenburgischen „Pegida“-Ablegers „Brandenburger für Meinungsfreiheit und Mitbestimmung“ (BraMM) war der bis Februar 2015 amtierende Landesvorsitzende der Rechtsaußenpartei „Die Republikaner“, Heiko Müller. In Frankfurt (Oder) warb das örtliche Protestbündnis mit der Parole „Freundliches Frankfurt“ für seine Aktionen – die Initiator_innen gehören zum Umfeld der radikalen Neonazi-Partei „Der III. Weg“.
Trotz dieser Verquickungen wäre es ein Fehlschluss, die Proteste insgesamt als getarnte Neonazikampagne zu werten. Vielen Sprecher_innen der neuen Bürgerinitiativen kann man ohne Weiteres eine rassistische Haltung gegenüber Muslimen und Flüchtlingen attestieren; dem klassischen Neonazimilieu entstammen sie aber nicht. In Golßen im Spreewald etwa protestierte im Mai 2015 eine Bürgerinitiative gegen die im Ortsteil Zützen vom Landkreis vorgesehene Gemeinschaftsunterkunft für Flüchtlinge und forderte „mehr Bürgerbeteiligung“ und „dezentrale Unterbringung“. Aus dieser Bürgerinitiative ging im Lauf des Jahres die Gruppe „Zukunft Heimat“ hervor, die wesentlich schärfer argumentiert: „Gegen die Auflösung unseres Volkes“ müsse man eigenhändig „Widerstand leisten“, da man von den „Blockparteien“ nichts erwarten dürfe, war in einer Facebook-Stellungnahme zu lesen. Bis zu 800 Personen kamen zu den Demonstrationen dieser Gruppe; für kleine Städte wie Lübbenau und Vetschau sind das gewaltige Zahlen.
Perspektive soziale Bewegung von rechts?
Ob die Mobilisierung und Politisierung solcher Initiativen in eine „soziale Bewegung von rechts“ münden wird, wie sich dies die Stichwortgeber_innen und Vordenker_innen aus dem Umfeld der rechten Zeitschriften „Junge Freiheit“ und „Compact“, der „Identitären Bewegung“ und dem Rechtsaußen-Flügel der AfD vorstellen, ist offen. Die rückläufigen Teilnehmerzahlen zeigen jedenfalls, dass sich allein durch wiederkehrende Demonstrationen dauerhaft nicht so viele Menschen mobilisieren lassen, dass eine solche Dynamik entstünde. Bei den Demonstrationen von „Zukunft Heimat“ fiel – neben der zeitweise sehr hohen Beteiligung – der Grad an Vernetzung auf, den die Spreewälder Gruppe innerhalb der Neuen Rechten erreicht hat: Die Initiative kooperiert mit der AfD, mehrere Parteifunktionäre traten als Redner in Erscheinung. Das Netzwerk „Ein Prozent“, das eine nationalistische Sammlungsbewegung in Deutschland schaffen will, war bei den Demonstrationen ebenso vertreten wie die neurechte Jugendgruppe „Identitäre Bewegung“. Bei Konferenzen von Compact wird darüber diskutiert, wie sich die losen Zusammenschlüsse in festere organisatorische Formen übertragen ließen, und ob spektakuläre Aktionen, wie die kurzfristige Besetzung des Brandenburger Tors im August 2016 durch Mitglieder der „Identitären Bewegung“, eine erfolgversprechende Taktik sein könnte. Auch mit Versuchen, neue Protestthemen zu erschließen, ist zu rechnen. Nicht selten wurde bei den Aktionen in den letzten Monaten gegen die Freihandesabkommen TTIP und CETA Stellung bezogen. Opposition zur momentan im Land diskutierten Kreisgebietsreform dürfte ebenfalls als Kampagnenthema infrage kommen. Die Führung der brandenburgischen AfD hat sich dies jedenfalls schon auf die Fahnen geschrieben.
Positionierung zur AfD
Das Verhältnis zur AfD ist für die weitere Entwicklung der Protestbündnisse ein wichtiger Faktor. Der Landesvorsitzende der Partei, Alexander Gauland, hat seinen Verband auf Fundamentalopposition festgelegt. Mit dem Besuch einer „Pegida“-Demonstration in Dresden und zuletzt mit einer an Mitglieder der „Identitäre Bewegung“ gerichteten Einladung zum Eintritt in seine Partei zeigt er demonstrativ Nähe. Die AfD, die bei den Landtagswahlen im September 2014 12,2 Prozent der Stimmen erreichte, setzt sich bei den Demonstrant_innen auch aktiv als Bewegungspartei in Szene: Ihre Abgeordneten treten als Redner_innen bei Demonstrationen auf, die AfD veranstaltet auch eigene Kundgebungen gegen „Asylchaos“. Das kommt durchaus an. Der Anführer des zuvor auf „Überparteilichkeit“ achtenden „Bürgerbündnisses Havelland“ posierte im Oktober 2016 demonstrativ mit AfD-Funktionären. Die Unterstützung flüchtlingsfeindlicher Demonstrationen dient der Partei, um ihr Image als Protestpartei zu pflegen; erkennbar geschadet hat ihr dies bislang nicht. In Umfragen liegt die AfD auf Landesebene bei einem Stimmenanteil von 20 Prozent; sie wäre damit hinter der SPD die zweitstärkste Kraft. Allerdings halten gleichzeitig 60 Prozent der Befragten in Brandenburg die Inhalte der Partei für verfassungswidrig.
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- 23 Nov 2016 - 07:01