Von der Festung Europa zu Deutschland als sicherem Hafen und zurück?
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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel Sie müssen angemeldet sein, um das Benutzerprofil zu sehen |
Von Ansgar Drücker
Der Spätsommer der Willkommenskultur und die Entscheidung der Bundeskanzlerin, Anfang September 2015 eine große Zahl von in Ungarn gestrandeten Geflüchteten nach Deutschland einreisen zu lassen, haben die politische und gesellschaftliche Situation in Deutschland – und in der Folge in ganz Europa – nachhaltig verändert. Nun war das Dublin-Verfahren, das die Zuständigkeit für Asylverfahren innerhalb der Europäischen Union und einiger weiterer Länder regelt, endgültig faktisch außer Kraft gesetzt und das Ziel der meisten Geflüchteten hieß Deutschland (zunächst auch noch Österreich und Schweden). Dieser aus humanitärer Sicht alternativlose Schritt war lediglich mit dem österreichischen Bundeskanzler Faymann abgestimmt, was neben der sich deutlich erhöhenden Zahl der Geflüchteten dazu beitrug, dass andere europäische Staaten der deutschen Willkommenskultur nach und nach in den Rücken fielen oder – sofern sie auf einer Hauptfluchtroute lagen – nur noch das Interesse hatten, die Geflüchteten möglichst schnell Richtung Deutschland durchreisen zu lassen.
Dies ist vor allem in den mittel- und osteuropäischen EU-Staaten mit der Verbreitung ungeahnter Zerrbilder über muslimische Menschen verbunden, die sowohl mit einem nicht eingeübten Zusammenleben mit Menschen aus muslimisch geprägten Ländern zu tun haben als auch als Vorwand dienen, um sich einer gesamteuropäischen solidarischen Lösung bei der Verteilung der Geflüchteten zu entziehen.
Die derzeitige fast aussichtslose Diskussion über Flüchtlingskontingente für einzelne EU-Mitgliedsstaaten spielt sich im Bereich absurd niedriger Zahlen ab – und dies gilt erst recht für Überlegungen, die Flucht über die Balkanroute durch feste Kontingente zu ersetzen, die eine geordnete Einwanderung etwa aus den Flüchtlingslagern in der Türkei in die EU-Staaten ermöglichen würden.
Die Lage der deutschen und europäischen Flüchtlingspolitik
In Bezug auf die Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik findet sich Deutschland – trotz deutlicher Verschärfungen durch zwei Asylpakete im eigenen Land – plötzlich in der Rolle des offensten und fortschrittlichsten Landes wieder. Gleichzeitig hadert das Land im Innern heftig mit dieser ungewohnten Rolle. Das Erstarken der AfD, das Umschwenken der Pegida-Bewegung auf das Thema Flucht und Asyl und Angriffe auf Geflüchtete, von brennenden Flüchtlingsheimen bis hin zur Blockade ankommender Geflüchteter vor für sie vorgesehenen Unterkünften, sind äußere Anzeichen einer rechtspopulistischen und rassistischen Mobilisierung, die auch die Diskussion in den sozialen Netzwerken zunehmend radikalisiert.
Die faktische Regellosigkeit im europäischen Asylsystem führte zu einsamen Entscheidungen einzelner Länder – dies hat aber immerhin zu einer unerwarteten Beschleunigung der Fluchtdauer über die Balkanroute beigetragen, was gerade im Winter zu deutlichen humanitären Erleichterungen führte. Die jetzige Situation bedeutet aber auch, dass jede Entscheidung eines einzelnen Staates einen Kaskaden-Effekt auslösen kann: Wenn Schweden die Grenzkontrollen am Öresund aufnimmt, führt Dänemark sie an der dänisch-deutschen Grenze ein. Eine von einigen geforderte stärkere Überwachung der bayerisch-österreichischen Grenze könnte einen solchen Kaskaden-Effekt bis nach Griechenland auslösen, zu neuen Konflikten auf dem Balkan führen und zu den in den letzten 20 Jahren auf der Flucht nach Europa gestorbenen 30.000 Menschen weitere hinzufügen. Selbstverständlich geglaubte Errungenschaften wie Freizügigkeit und Aufhebung von Grenzkontrollen geraten ohne großen Aufschrei ins Wanken – die europäische Idee erscheint plötzlich als denkbares Opfer für vermeintliche Sicherheit und Abschottung. Schon hier wird die Herausforderung für eine reflektierte und kritische, aber europafreundliche Bildungsarbeit sichtbar.
Die Ereignisse in der Silvesternacht in Köln haben das gesellschaftliche Diskussionsklima weiter polarisiert und die zunächst überwiegend positive Stimmung gegenüber Geflüchteten nachhaltig um negative Assoziationen und eine stärkere Wahrnehmung von Risiken ergänzt. Obwohl nach heutigem Erkenntnisstand fast keine Geflüchteten an den sexistischen und gewaltvollen Übergriffen auf Frauen beteiligt waren, wurden die Ereignisse zu einer weiteren Stimmungsmache gegen Geflüchtete und Muslime, zum unhinterfragten Transport rassistischer Stereotype und schließlich sogar als Anlass zur Schadenfreude in anderen EU-Staaten genutzt.
Herausforderungen für die politische Bildungsarbeit
In dieser kontroversen und dynamischen gesellschaftlichen Situation sieht sich auch die politische Bildungsarbeit mit neuen bzw. intensivierten Fragen und Herausforderungen konfrontiert: Wie können wir das Zusammenleben mit den Neuen gestalten und das gesellschaftliche Miteinander neu einüben? Was bedeutet die tiefgreifende gesellschaftliche Veränderung in den einzelnen Bereichen unseres Alltags? Immer mehr Menschen brauchen Unterstützung und Orientierung – nicht allen gelingt ein vorbehaltloses Zugehen auf die Neuen. Nicht allen gelingt es, zunächst zuzuhören, was die Neuen erlebt haben und mitbringen, ohne gleich zu bewerten und erziehen zu wollen.
Voraussetzung dafür, die neu zu uns Kommenden für das demokratische Zusammenleben in einer offenen Gesellschaft zu gewinnen, ist es sich auf sie einzulassen, ihnen empathisch zu begegnen und ihnen die Regeln und Abläufe in der Gesellschaft differenziert zu erklären statt in Vorschriften vorzusetzen. Gerade in den Erstkontakten begegnen wir häufig traumatisierten, aber auch neugierigen und ungeduldigen Menschen, die hier eine neue Lebensperspektive suchen. Diese Erstbegegnungen reflektiert und bewusst zu gestalten und der staatlichen Aufnahmebürokratie eine zivilgesellschaftliche Ergänzung zur Seite zu stellen – auch dies ist eine Herausforderung für die Bildungsarbeit.
Der Begriff der Inklusion bringt uns an die neuen gesellschaftlichen Herausforderungen heran: In der jetzigen Situation müssen sich alle verändern und öffnen, nicht nur die neu Hinzukommenden. Noch immer – auch nach Monaten der nun für alle unvermeidlichen Konfrontation mit „den Neuen“ und dem Faktum ihres ganz überwiegend dauerhaften Verbleibs bei uns – gibt es immer noch eine verbreitete Verweigerungshaltung in größer werdenden Teilen der Bevölkerung, die schon fast in eine Realitätsverweigerung umzuschlagen droht. Und selbst eine anfängliche Offenheit kann, wenn sie nicht mit einer inklusiven Grundhaltung verbunden ist, schnell kippen, wenn erste Konflikte auftreten, die in einer derart stark veränderten gesellschaftlichen Situation aber unvermeidlich sind. Auch viele Geflüchtete kommen zunächst mit einer Haltung der Dankbarkeit und Freude an, endlich Deutschland erreicht zu haben, die dann aber durch schnell enttäuschte Hoffnungen aufgrund der Unterbringung, der Länge des Asylverfahrens und der Stimmung im Lande umschlagen kann, wenn ihnen nicht auch Empathie, konkrete Unterstützung und Chancen zum Aufbau neuer sozialer Bezüge zuteilwerden.
In diesem Zusammenhang stellen sich auch der Bildungsarbeit ungewohnte neue Aufgaben: Es geht nicht mehr nur um abstraktes Lernen über gesellschaftliche Verhältnisse, sondern um eine konkrete Unterstützung der Kontaktaufnahme, des Schließens neuer Freundschaften, der Vernetzung und der schnellen aktiven Einbeziehung der Neuen nicht nur als Hilfsbedürftige, sondern als aktiv Mitwirkende mit eigenen Wünschen und Vorstellungen. Die Integrationskurse geben erste Hinweise zur gesellschaftlichen Orientierung, sind aber viel zu standardisiert und enthalten beispielsweise kaum jugendkulturelles Orientierungswissen für die große Zahl der jungen Geflüchteten. Hier sind Peer-to-Peer-Kontakte und die Bildungsarbeit außerhalb der festen Formate der „Integrationsindustrie“ gefragt. Die meisten Geflüchteten bringen gerade in den ersten Monaten viel Neugier, Offenheit und Kontaktfreudigkeit mit, auch wenn sie gleichzeitig häufig noch die Anstrengungen der Flucht oder der Situation im Herkunftsland und ihr Heimweh oder ihre Sehnsucht nach Familienangehörigen bewältigen müssen. Vielen jungen Menschen gelingt es selbst, Zugänge zur Jugendkultur aufzubauen, dies bedarf aber einer möglichst frühzeitigen Freizügigkeit, sei es in Bezug auf Ausgangszeiten und Besuchsmöglichkeiten in Flüchtlingsunterkünften, sei es bei der Wahl des Wohnortes. So sollten beispielsweise schwule und lesbische Geflüchtete in Großstädten wohnen dürfen statt in abgelegenen Flüchtlingsunterkünften mit wenig Kontaktmöglichkeiten zu anderen Schwulen und Lesben bei gleichzeitiger Gefahr von Übergriffen und Diskriminierung in den Unterkünften selbst.
Bildungsarbeit hat in dieser oft durch zunehmende Unsicherheit und sogar Angst gekennzeichneten Situation den Auftrag, Orientierung in einer von vielen als geradezu chaotisiert wahrgenommenen Gesellschaft zu schaffen, die sich andererseits als sehr zupackend und handlungsfähig erwiesen hat. Abweichungen von Regeln als Normalität und Realität in zugespitzten humanitären Situationen verständlich zu machen, ist eine weitere Aufgabe der Bildungsarbeit. Gerade Menschen, die es gerne klar geregelt, überschaubar und eindeutig haben, sind durch die aktuelle Situation leicht verängstigt und überfordert und benötigen eine gesellschaftliche und humanitäre Einordnung der Situation, beispielsweise durch eine gerahmte, also bewusst gestaltete Konfrontation mit den Lebenswegen und Erfahrungen von Geflüchteten, um selbst Empathie entwickeln zu können.
Eine weitere Aufgabe der Bildungsarbeit ist das Sprechen mit und über die neu Eingewanderten. Werden Sie von Anfang an nicht nur als Geflüchtete, sondern auch als neue Bewohner und Bewohnerinnen ihrer neuen Stadt oder Gemeinde wahrgenommen und behandelt? Wie sprechen wir über „sie“? Versuchen wir möglichst schnell Ihnen als Individuen zu begegnen und nicht nur als Gruppe von Geflüchteten? Nehmen wir die Diversität unter den Geflüchteten ausreichend wahr, wenn in der politischen Diskussion und in der medialen Repräsentation vor allem junge muslimische Männer das Bild prägen? Die Neuen Deutschen Medienmacher und IDA haben ein Glossar mit Formulierungshilfen für einen diskriminierungssensiblen Sprachgebrauch in der Bildungsarbeit in der Migrationsgesellschaft herausgegeben, um einen bewussten Sprachgebrauch über Flucht, Asyl, Geflüchtete, Migration und Menschen mit Migrationshintergrund zu fördern. Das Glossar ist ein Mosaikstein für die neuen Aufgaben der Bildungsarbeit in einer vielfältiger werdenden dynamischen Gesellschaft.
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- 23 Mär 2016 - 07:20