Von Gerit-Jan Stecker

Lange Zeit wurde in der Bundesrepublik das Phänomen Vertreibung als einzigartiges Schicksal der Deutschen betrachtet. Zwar etablierte sich seit der Jahrtausendwende, unter dem Eindruck des blutigen Zerfalls von Jugoslawien, die Perspektive auf ein 20. Jahrhundert der Zwangsmigration und ethnischen Säuberungen auch im deutschen Vertriebenendiskurs (eine maßgebliche Publikation war etwa Norman Naimarks „Fires Of Hatred: Ethnic Cleansing In 20th Century Europe“ von 2001).
Die umfassendsten und am meisten tiefgreifenden Bevölkerungsverschiebungen dieser Zeit spielte sich zwischen 1939 und 1949 ab, und dabei verließen, in Folge des nationalsozialistischen Weltkriegs, etwa knapp zwölf Millionen Deutsche ihre Heimat – aber auch ein Fünftel der Pol_innen und mehrere Millionen der ukrainischen, ungarischen, tschechischen, finnischen, baltischen und weißrussischen Bevölkerungsgruppen waren von erzwungener Migration betroffen. Nicht zuletzt wanderten im Zuge der Homogenisierung von Nationalstaaten viele der Jüdinnen und Juden aus, die den Holocaust überlebt hatten. Dennoch spielt die Erfahrung der nicht-deutschen Vertriebenen in den bundesrepublikanischen Debatten um Vertreibung weiterhin nur eine untergeordnete Rolle; die Anerkennungsforderungen deutscher Vertriebener und ihrer Nachkommen bilden nach wie vor ein erinnerungskulturelles Übergewicht.
Aus diesem Grund sei hier an die Studie „Deutsche und polnische Vertriebene. Gesellschaft und Vertriebenenpolitik in der SBZ/DDR und in Polen 1945 – 1956“ des Historikers Philipp Ther erinnert, die 1998 in der Reihe „Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft“ erschien. Die Monographie untersucht erstmals sowohl den ursächlichen Zusammenhang der Vertreibung von Deutschen aus Polen und den ehemaligen Ostgebieten des Deutschen Reichs und der Bevölkerungstransfer großer Bevölkerungsteile im Rahmen der Ostverschiebung des polnischen Staatsgebietes. Damit stellt sie das Phänomen Vertreibung in einen internationalen Zusammenhang – in der Bundesrepublik wurde es dagegen lange Zeit als einzigartiges Schicksal der Deutschen betrachtet. Zugleich bilden die Betroffenen Thers primären Untersuchungsgegenstand.

Methode und Aufbau

Methodisch grenzt sich Ther vom totalitarismustheoretischen Diktaturenvergleich zwischen Nationalsozialismus und sozialistischer Diktatur ab. Stattdessen unternimmt der Autor einen „Ost-Ost-Vergleich“ von SBZ/DDR und der Volksrepublik Polen (S.20), auch das ein Novum in der deutschsprachigen Forschung. Er stellt dar, wie die Existenz von Millionen Vertriebenen die unmittelbare Nachkriegszeit entscheidend prägte, beispielsweise als Legitimation für die Umstrukturierung der Eigentumsverhältnisse durch Bodenreform (SBZ) oder Enteignung (Polen) oder als mobiles Arbeitskräftereservoir für die stalinistische Industrialisierung. Zugleich treten ideologische und strukturelle Unterschiede in den beiden neuen sozialistischen Systemen hervor. Während etwa die Kommunistische Partei in Polen die Integration argumentativ weniger auf Gleichheit und Solidarität als auf Nationalismus zu gründen versuchte, wollte die Obrigkeit in der SBZ nicht ohne weiteres auf nationalistische Appelle zurückgreifen.
Der erste Teil stellt den Prozess der Vertreibung dar. Im ersten Kapitel zeichnet der Historiker nach, wie es zu den massenhaften und gewaltsamen Bevölkerungsverschiebungen zum Ende des Zweiten Weltkriegs und danach kam. Anschließend widmet er sich dem Verlauf Zwangsmigrationen. Die Kernfrage des zweiten Kapitels lautet, warum eine „ordnungsgemäße und humane Durchführung“, wie die vielzitierte Zielsetzung der Alliierten aus dem Potsdamer Abkommen lautete, weitgehend scheiterte. Schließlich folgt eine kritische Auseinandersetzung mit den Begriffen der „Vertreibung“, „Repatriation“ bzw. „Umsiedlung“ im dritten Kapitel.
Einen politikgeschichtlichen Schwerpunkt hat der zweite Hauptteil: Die komplexe Politik der SBZ/DDR und der Volksrepublik Polen gegenüber den Vertriebenen im Rahmen des Systemwandels zum sogenannten Sozialismus war trotz vieler Probleme grundsätzlich integrativ. Ther untergliedert diese Integrationspolitik in sozialkaritative, redistributive und sozialrevolutionäre Ansätze (Bodenreform, Eigentumsverteilung, Wohnraumpolitik). Der Stalinismus der Jahre 1948-56 habe die Vertriebenenpolitik allerdings zum Negativen verändert.
Der dritte Hauptteil beschäftigt sich mit dem Verhältnis der Vertriebenen zu anderen Bevölkerungsgruppen. In der SBZ/DDR und in Westdeutschland waren dies die Einheimischen. Anders in Polen, wo mit freiwilligen Umsiedler_innen aus Zentralpolen eine dritte große Bevölkerungsgruppe in den Aufnahmegebieten lebten. Die Einstellung zu den Vertriebenen war in beiden Teilen Deutschlands, aber auch in Polen von Konflikten und Stereotypen geprägt, was die Integration erschwerte.
Die Schlussbetrachtung widmet sich der Integration der Vertriebenen bis Mitte der 1950er-jahre und dem heutigen Verständnis „erzwungener Migration“. So beeinflusste die Unsicherheit, ob die neuen polnischen Westgebiete nicht doch wieder deutsch werden und ihre ehemaligen Bewohner zurückkehren würden den Umstand, dass die Vertriebenen in der SBZ schneller integriert wurden als in Volkspolen, aber auch als in Westdeutschland (was sich nicht zuletzt als Verfall von Bausubstanz und Landwirtschaft in Westpolen auswirkte). Klare Antidiskriminierungsdirektiven der SED wirkten sich positiver auf die Integration aus, als vor allem in Bezug auf die Befugnisse der Roten Armee ungeklärte Verhältnisse in Westpolen.

Fazit

Abschließend resümiert Ther, dass das alliierte Ziel, durch das Herstellen ethnischer Homogenität soziale Integration zu garantieren, nicht erreicht werden konnte. Dementsprechend betrachtet er die friedensstiftende Wirkung international befürwortete Bevölkerungsverschiebungen wie im ehemaligen Jugoslawien sehr skeptisch.
Der strikt komparative Aufbau der Kapitel – zuerst befassen sie sich mit der SBZ/DDR und anschließend mit Polen – kann beim Lesen möglicherweise einige Redundanzen bewirken. Doch insgesamt ist Philipp Thers „Deutsche und polnische Vertriebene. Gesellschaft und Vertriebenenpolitik in der SBZ/DDR und in Polen 1945 – 1956“ eine überzeugende und informative Verbindung von Politikgeschichte und Gesellschafts- bzw. Alltagsgeschichte, die mehr als eine wissenschaftliche und erinnerungspolitische Leerstelle füllt.

Literatur:

Philipp Ther: Deutsche und polnische Vertriebene. Gesellschaft und Vertriebenenpolitik in der SBZ/DDR und in Polen 1945 - 1956 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 127), (1998) Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen, 382 S., 1 Abb., 50,00 €

 

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