Griechenland: Unbeglichene deutsche Kriegsschuld/en
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Von Martin Schellenberg
„Erinnerung kann aber nur beginnen, nachdem man die Ereignisse wahrgenommen hat, die ganze Wahrheit des Geschehenen angenommen hat. [...] Distomo ist zum Symbol geworden. Zum Symbol dafür, dass Deutschland noch immer in der Schuld der Opfer steht [...] Aber die deutschen Regierungen sind gegenüber den Opfern noch immer Rechtsbrecher. Die Rücksichtslosigkeit der deutschen Politik ist eine logische Fortsetzung der Plünderungen durch die Nazis [...] Macht- und Bereicherungsgier können nie ersatzlos gestrichen werden. [...] Aber Deutschland weigert sich zu verhandeln, es will die Null-Lösung diktieren.“
Argyris Sfountouris, 2002
Dieser Tage wird im Deutschen Bundestag und andernorts aus Anlass des 27. Januars, dem Jahrestag der Befreiung von Auschwitz, wieder von der Verantwortung Deutschlands für die Verbrechen im Nationalsozialismus die Rede sein. In Bezug auf die Anerkennung der NS-Verbrechen in Griechenland kann bisher jedoch lediglich von folgenlosen Lippenbekenntnissen einzelner Akteure gesprochen werden. 70 Jahre lang zielte und zielt die Politik der Bundesrepublik aller Regierungen auf die Verjährung materieller Ansprüche seitens der Überlebenden und Hinterbliebenen, sowie auf die Verhinderung von Reparationen an Staaten, die von Deutschland angegriffen wurden.
Im Zusammenhang mit der sogenannten Schuldenkrise Griechenlands gelangte im März 2015 die langjährige Forderung des griechischen Staates nach Reparationen für deutsche Kriegsverbrechen und Kriegsschäden sowie nach Rückzahlung einer Zwangsanleihe erneut in die Schlagzeilen. Die seitens der griechischen Regierung erhobenen Ansprüche wurden durch die Bundesregierung zurückgewiesen. Aber aus Teilen der SPD und in der Presse waren kurzzeitig Stellungnahmen zu vernehmen, die einen Handlungsbedarf auf deutscher Seite einräumten. Leider ist diese Debatte seither wieder verebbt. Um welche Verbrechen geht es?
Deutsche Verbrechen und verschiedene griechische Entschädigungsansprüche
Zunächst scheint es wichtig, verschiedene deutsche Verbrechen und griechische Entschädigungsforderungen zu unterscheiden, die auch in der Presse oft undifferenziert in einen Topf geworfen werden. Es lassen sich vier Ebenen von materiellen Ansprüchen Griechenlands oder griechischer Opfer aus dem Zweiten Weltkrieg benennen:
Erstens geht es um Kriegsschäden und Kriegsverbrechen, die Reparationen nach sich ziehen. Im Falle der deutschen Besatzung Griechenlands sind diese Schäden erheblich, da Deutschland unmittelbar nach dem Überfall auf Griechenland am 6. April 1941 damit begann, alle Industriegüter, Lebensmittel und Rohstoffreserven hemmungslos auszubeuten; es sicherte die Besatzung durch Terror und Zerstörung und die Wehrmacht war schließlich vor dem Rückzug bestrebt, die gesamte griechische Infrastruktur zu vernichten. Es wurden allein ca. 350.000 Wohnhäuser zerstört, so dass 1 Mio. Griech_innen in der Folge obdachlos wurden (das ist ca. ein Siebtel der Vorkriegsbevölkerung). Hierfür wurden niemals Reparationen gezahlt.
Zweitens hat Deutschland der griechischen Kollaborationsregierung 1942 einen Zwangskredit aufgezwungen, u.a. um seinen Afrikafeldzug zu finanzieren. Die daraus resultierenden deutschen Kreditschulden wurden kurz vor Kriegsende durch das Auswärtige Amt auf 476 Mio. RM beziffert. Heute wird diese Schuld seitens der griechischen Regierung auf 11 Mrd. Euro veranschlagt. Die Bundesregierung weigert sich jedoch, diese Kreditschulden zurückzuzahlen, obwohl der NS-Staat bereits damit begonnen hatte.
Drittens wurden Teile der griechischen Bevölkerung Opfer rassistischer und antisemitischer Verfolgung und Ermordung. Ca. 58.000 Juden wurden gewaltsam verschleppt und in den Vernichtungslagern ermordet. Die Opfer wurden enteignet und mussten teilweise ihre Fahrkarten in den Tod selbst zahlen. Geringe Entschädigungszahlungen wurden hier an einzelne Überlebende gezahlt, aber die Deutsche Bahn lehnt z.B. bis heute die Forderung der Jüdischen Gemeinde Thessaloniki auf Rückzahlung des Fahrgeldes ab.
Viertens geht es um griechische Bürger_innen und Gemeinden, die Opfer von Repressalien, sogenannten Vergeltungsaktionen und Massakern von Wehrmacht und SS geworden sind. Über 1.500 Dörfer und Städte wurden geplündert, zerstört und teilweise niedergebrannt. So liefen Männer, die bei Partisanendurchsuchungen in den Orten verblieben waren, Gefahr, als Geiseln verschleppt und später hingerichtet zu werden. Wer flüchtete, wurde dagegen oftmals an Ort und Stelle als Partisan hingerichtet. Auch Frauen, Kinder und Alte wurden vielerorts ermordet. Die Forschung geht von über 90.000 „Geiseln“ und über 50.000 in den Dörfern und Städten selbst Ermordeten aus. Zu diesen Opferzahlen müssten auch noch die über 100.000 Verhungerten und die politisch Verfolgten hinzugezählt werden, wie u.a. die mehreren Zehntausend durch die SS in Konzentrations- und Vernichtungslager verschleppten Menschen.
Das Massaker in Distomo im Juni 1944 – ein Beispiel des Raubzugs
Eine dieser zerstörten Ortschaften war Distomo, das heute wegen der Klage von Hinterbliebenen über Griechenland hinaus zu einem Symbol geworden ist. Eine Kompanie des unter dem Befehl der Wehrmacht kämpfenden SS-Polizei-Panzergrenadier-Regiments 7 war am 10. Juni 1944 in Distomo, um in der Umgebung die Straßen von Partisanen freizukämpfen. Nachdem eine Durchsuchung Distomos erfolglos blieb, brach eine Kolonne Richtung Stiri auf und wurde unterwegs von Partisan_innen angegriffen. Drei Deutsche kamen bei der folgenden Schießerei ums Leben, weitere vier erlagen später ihren Verletzungen. Da sich die Partisan_innen zurückzogen, verübten die deutschen Soldaten bei ihrer Rückkehr nach Distomo ein grausames Massaker. Am Dorfplatz erschossen sie 60-70 Personen, dann rückten sie in private Häuser aus und ermordeten alle, die sie unterwegs antrafen. 218 Menschen, darunter Säuglinge, Schwangere und Greise fielen einer grausamen Racheaktion zum Opfer. Die Täter schlitzten teilweise noch die Leichen auf, brannten die Häuser aus und erschossen das Vieh auf den Feldern.
Unter den wenigen Überlebenden war der fast vierjährige Argyris Sfountouris, der sich verstecken konnte und fortan ohne Eltern weiterleben musste. 1995 verklagte er mit 296 Hinterbliebenen die Bundesrepublik vor dem Landgericht Levadia. Wie war es nach solch langer Zeit zu dieser Klage gekommen? Warum hatten die Opfer bis dato keine Entschädigung seitens Deutschlands erhalten?
Deutsche Politik der Verhinderung von Entschädigungen und Täterverfolgung
Bereits im sogenannten Geiselmordprozess der Nürnberger Nachfolgeprozesse wurde der Oberbefehlshaber der deutschen Truppen in Griechenland Helmut Felmy unter Verweis auf das Massaker von Distomo verurteilt, das das US-amerikanische Gericht im Urteil 1948 als „einwandfreien, berechneten Mord“ bezeichnete. Die Staatsanwaltschaft München folgte 1972 dieser Definition trotz eindeutiger Aktenlage nicht, sondern stellte ein Verfahren gegen die Täter wegen Verjährung ein.
Lange Zeit vermieden deutsche Politiker und diplomatische Vertretungen grundsätzlich die Verwendung des Verbrechensbegriffs, um damit verbundene Entschädigungsansprüche zu entkräften. Mehr noch, die deutsche Diplomatie verhinderte über Jahrzehnte erfolgreich, dass Entschädigungen überhaupt geltend gemacht werden konnten. Zwar hatten im Rahmen der „Pariser Reparationskonferenz von 1946“ die Westalliierten die Verteilung der Auslandsguthaben und Industrieanlagen für die westlichen Besatzungszonen unter den ehemaligen, westlichen Kriegsgegnern geregelt. Die Reparationen für kriegs- und besatzungsbedingte Schäden wurden dabei auf 7,1 Mrd. USD für Griechenland beziffert. Zu einer Umsetzung der Beschlüsse kam es jedoch nie.
Unter dem Eindruck des beginnenden Kalten Krieges billigten die Westalliierten der Bundesrepublik im Rahmen des „Londoner Abkommens über deutsche Auslandsschulden“ 1953 einen Zahlungsaufschub für sämtliche Forderungen zu, die ehemals von Deutschland besetzte Länder aus dem Zweiten Weltkrieg erheben konnten. Damit wurden sämtliche Reparationsfragen bis zum Abschluss eines endgültigen Friedensvertrags vertagt.
Griechenlands Forderungen betreffend verweist die Bundesrepublik Deutschland außerdem immer wieder auf eine einmalige Zahlung von 115 Mio. DM in Folge eines deutsch-griechischen Abkommens von 1960, das Entschädigungen für griechische Opfer vorsah, die „rassisch“, religiös und politisch verfolgt wurden. Als Gegenleistung hatte die Bundesregierung eine Amnestie für deutsche Kriegsverbrecher verlangt. Die bereits in den frühen 1950er Jahren begonnenen Verhandlungen waren aber erst unter dem Druck der Verhaftung Max Mertens in Griechenland 1960 zu einem Abschluss gekommen. Mertens hatte 1942-44 als deutscher Militärverwalter u.a. die Deportation und Enteignung der Juden aus Thessaloniki unterstützt. Mertens durfte nach dem Abkommen zurück nach Deutschland reisen. Das den Griechen zugesagte Verfahren gegen ihn wurde wenige Jahre später eingestellt.
Die Bundesregierung behauptet bis heute, dass mit dieser Zahlung von 1960 sämtliche Reparationsansprüche Griechenlands abgegolten seien, was schlichtweg falsch ist. Die Entschädigungszahlungen 1960 galten nur einem kleinen Teil der Opfer und waren vergleichsweise niedrig. So waren z.B. für die Opfer der zerstörten Dörfer laut Abkommen explizit keine Zahlungen vorgesehen. Auch allgemeine Kriegsschäden sollten erst Gegenstand zukünftiger Reparationsverhandlungen sein, wie im Londoner Abkommen festgelegt.
Mit dem Zwei-plus-Vier-Vertrag 1990 wäre Deutschland verpflichtet gewesen, Reparationsverhandlungen mit den ehemaligen Kriegsgegnern aufzunehmen. Die deutsche Diplomatie vermied hier jedoch geschickt die Bezeichnung „Friedensvertrag“. Alle Kriegsteilnehmer, außer den Besatzungsmächten, waren zudem von der Verhandlung ausgeschlossen. Hatte man auf deutscher Seite bis 1990 die Verhandlung von Reparationen für verfrüht gehalten, berief sich die Bundesregierung ab 1990 auf eine Verjährung jeglicher Reparationsansprüche, da sie mit dem Zwei-plus-Vier Vertrag alle Kriegsfolgen als erledigt ansah. Ein Zeitfenster zur Aushandlung materieller Folgen des Zweiten Weltkriegs hat es somit für die überfallenen und besetzten Staaten nie gegeben.
Den Opfern blieb nach 1990 nur der gerichtliche Weg
1994 wandte sich Argyris Sfountouris mit einer Anfrage an die deutsche Botschaft in Athen, ob für die Opfer des Massakers von Distomo eine Entschädigung vorgesehen sei, und erhielt im Januar 1995 eine ablehnende Antwort, die zudem den Verbrechensbegriff vermied und stattdessen von „Maßnahmen im Rahmen der Kriegsführung“ sprach. Daraufhin reichte er mit anderen vor dem Landgericht Levadia eine Entschädigungsklage ein. Während eine parallele Klage in Bonn scheiterte, sprach das griechische Gericht den 296 Kläger_innen 1997 eine Entschädigung von 28 Mio. Euro plus Zinsen zu.
Gegen das Urteil von Levadia erhob die Bundesrepublik vor dem Areopag, dem obersten Gerichtshof Griechenlands, den Einwand der Staatenimmunität, der jedoch dort 2001 nicht standhielt, so dass der Anwalt der Kläger_innen die Zwangsversteigerung des Goethe Instituts, des Deutschen Archäologischen Instituts und der deutschen Schule in Athen und Thessaloniki betrieb. Der griechische Justizminister ließ auf Druck der Bundesregierung die Zwangsvollstreckung stoppen. Gegen diese Entscheidung wandten sich die Kläger_innen an den Europäischen Gerichtshof in Straßburg, der darauf verwies, dass die Kläger_innen das Urteil in einem anderen Land vollstrecken könnten.
Die Klage Argyris Sfountouris und seiner drei Schwestern in Deutschland ging durch alle Instanzen vom Landgericht Bonn über das Oberlandesgericht Köln bis zum Bundesgerichtshof, der 2003 entschied, dass nach der 1944 geltenden Rechtslage aufgrund des Krieges als Ausnahmezustand keine Amtshaftung Deutschlands für das Verhalten seiner Bediensteten geltend gemacht werden könne. Das Bundesverfassungsgericht machte sich 2006 ebenfalls die Anschauung zu eigen, dass es sich im Falle Distomos nicht um NS-Unrecht, sondern um dem Grunde nach erlaubte Vergeltungsmaßnahmen gehandelt habe, somit keine individuelle Haftung für Opfer bestehe. Gegen diese deutschen Urteile – die aus Sicht der Opfer die Verbrechen rechtfertigten – wandten sich die Geschwister Sfountouris an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, der jedoch 2011 keinen Verstoß gegen die Menschenrechte feststellen konnte.
Als erfolgreicher erwies sich für die Kläger_innen der Weg, auf Vollstreckung des Urteils in Italien zu klagen. 2004 hatte nämlich der italienische Kassationsgerichtshof in einem aufsehenerregenden Urteil den deutschen Einwand der Staatenimmunität für die Entschädigung eines ehemaligen italienischen Zwangsarbeiters zurückgewiesen. Ähnlich entschied dieses Gericht auch 2008 im Falle Distomos und erklärte, dass Staatenimmunität für Verbrechen gegen die Menschheit nicht gelte. Damit war der Weg zu Vollstreckungsmaßnahmen gegen deutsches Eigentum in Italien offen.
Erwartungsgemäß folgt Deutschland nicht der internationalen Rechtsprechung, sondern wandte sich an den Internationalen Gerichtshof in Den Haag, obwohl dieser für solche Fälle gar nicht zuständig ist. Trotzdem wurde die Klage angenommen und auch die italienische Regierung zog mit. Zwar griff sie nicht in die Rechtsprechung ein, setzte aber per Dekret vorübergehend alle Vollstreckungen aus. Der internationale Gerichtshof gab der Klage Deutschlands 2012 schließlich statt und folgte der deutschen Rechtsauffassung in Bezug auf Staatenimmunität. Er stellte damit die NS-Opfer rechtlos, die zu dem Verfahren selbst nicht zugelassen waren.
Italien setzte allerdings bereits rechtskräftige Urteile wie das im Falle Distomos nicht außer Kraft. Die Bundesrepublik machte jedoch von dem Recht Gebrauch, rechtskräftige Urteile wieder neu aufzurollen. Das wiederum befand das italienische Verfassungsgericht im Oktober 2014 für unzulässig, weil in Fällen schwerster Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit der Zugang zu den Gerichten gewahrt sein müsse. Dem schloss sich auch der Kassationsgerichtshof in Rom im März 2015 im Fall Distomo an. Damit ist das Urteil von Levadia von 1997 heute in Italien wieder vollstreckbar. Tatsächlich hat der Anwalt der Kläger_innen deutsches Eigentum gepfändet, ob und wann die Vollstreckung erfolgt, scheint nun aber erneut eine Frage von Macht zu sein.
Ausblick
Zwar zeigen sich in den letzten Jahren deutsche Repräsentanten wie Bundespräsident Joachim Gauck auf Gedenkfeiern in den sogenannten „Opferdörfern“ in Griechenland, sprechen von Verantwortung und legen Kränze nieder. Aber es stellt sich seitens der Hinterbliebenen berechtigterweise die Frage, ob diese von Deutschland einseitig beschworene „Versöhnung“ nicht nur den Rechtsfrieden für Deutschland erwirken soll. Die Bundesrepublik vertrat und vertritt die Auffassung, dass individuelle Entschädigungsansprüche gegen Staaten eine Gefährdung der Nachkriegsordnung darstellen. Wer jahrelang das in den 1940er Jahren geltende Recht als Argument gegen Entschädigungen angeführt hat, den Verbrechensbegriff vermieden hat, diplomatisch und juristisch das Recht des Stärkeren durchgesetzt hat und Täter vor der Verurteilung bewahrt hat, steht zu Recht unter dem Verdacht, sich eher in einer Linie mit den Täter_innen zu sehen als mit den Opfern. Verantwortung für die Zukunft würde aber die Opfer und ihre Rechte – auch Ihr Recht auf individuelle Entschädigungsklage für Verbrechen gegen die Menschheit – ins Zentrum stellen. An den griechischen Opfern der NS-Verbrechen und ihren Angehörigen gibt es deshalb keinen Weg vorbei. Verantwortung für die Vergangenheit hat auch eine materielle Seite.
Begleitend zu diesem Debattenbeitrag gibt es von Martin Schellenberg Anregungen dazu, wie sich der "Fall Distomo" im Geschichtsunterricht thematisieren lässt.
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- 27 Jan 2016 - 07:28