»Ich bin alleine, zwischen fremden Menschen«. Unterrichtsmaterial zu Kindern und Jugendlichen als Verfolgte und Opfer des nationalsozialistischen Deutschlands
Von Constanze Jaiser
25 Kilometer Quellen
Das Besondere sind die vielen Originaldokumente selbst, deren Herkunftsgeschichte auch mit der Geschichte des Suchdienstes zusammenhängen. Denn der International Tracing Service (ITS), so die offizielle Bezeichnung, war seit Ende der 1940er Jahre damit betraut, Hilfe für Überlebende der NS-Verfolgung und für deren Angehörigen anzubieten, etwa Vermisste zu finden, ihre Schicksale zu klären, um Verfolgung, Haft, Zwangsarbeit, KZ-Haft bescheinigen zu können, damit zum Beispiel ein Antrag auf Entschädigung gestellt werden konnte. Das Archiv umfasst rund 30 Millionen Blatt. Ein spezieller Aktenbestand mit mehr als 16.000 Einzelakten sind die Unterlagen des »Child Search Branch«, des Kindersuchdienstes, der von 1945 bis 1951 aktiv war. Die Unterlagen betreffen Kinder bis zu 17 Jahren, die als Zwangsarbeiter verschleppt, in Konzentrationslager deportiert oder im Rahmen der »Eindeutschung« im »Lebensborn« unter anderem von deutschen Familien adoptiert und damit ihrer Identität beraubt wurden.
Schicksale von Kindern
Christiana Adamczyk zum Beispiel wurde 1930 in Lwow (Lemberg) geboren, damals Polen, heute Ukraine. Sie steht für die Gruppe jugendlicher Zwangsarbeiter, die ab Dezember 1941 unter Zwang aus den besetzten Ostgebieten nach Deutschland verschleppt wurden. Unter ihnen war auch die Familie Adamczyk – Christiana war gerade einmal 12 Jahre alt, als sie Mitte März 1942 in Deutschland ankam. Ein anderer Fall ist Barbara Krawczyk, die als Tochter einer Zwangsarbeiterin 1942 in der Strafanstalt Aichach zur Welt kam. Ihre Mutter überlebte nicht, sie aber überlebte und stellte in den 1970er Jahren einen Antrag an den ITS, um etwas über das Schicksal ihrer Mutter zu erfahren und eine Geburtsurkunde aus Deutschland zu erhalten. Die CD-ROM stellt ganz unterschiedliche Einzelschicksale von Kindern und Jugendlichen vor: Neben Kindern als Zwangsarbeiter und Kindern von Zwangsarbeitern auch Schicksale jüdischer Kinder (Tomas Buergenthal und David Liss), das Kind einer Sinti-Familie (Hugo Höllenreiner) und Kinder im »Lebensborn« (Barbara Gajzler und Barbara Paciorkiewicz). Sie enthält Texte, die in die Geschichten einführen, sowohl vom Schicksal der Kinder erzählen als auch historische Informationen liefern. Des Weiteren finden sich zahlreiche pädagogische Hinweise. Die PDF-Dokumente sind so gestaltet, dass sie als Arbeitsblätter dienen können. Hinzu kommt ein Dokumentenordner, der die zum Teil faszinierenden historischen Originale in druckfähigen Scans enthält: von Familienfotos und Tagebuchauszügen über Transportlisten und Sterbemeldungen bis hin zu Briefauszügen, die von der Suche nach einem Kind Zeugnis ablegen oder zur Passagierliste mit den Namen von Überlebenden, die mit dem Schiff auswanderten.
Pädagogische Zielsetzung
Sie spiegeln das wider, was den Herausgebern, namentlich Dr. Susanne Urban, Leiterin des Bereichs Forschung und Bildung im ITS, am Herzen liegt und was sich übrigens auch auf der Jugendwebseite als wesentliche Reflexionsachsen widerfindet: Schülerinnen und Schülern soll erstens nachvollziehbar werden, dass die Opfer des Nationalsozialismus nicht als Opfer geboren wurden. Zweitens sind die Handlungsträger der NS-Verbrechen in der Regel weder Sadisten noch unbeteiligte Zuschauer, sondern, so Urban, »Menschen, die sich entschieden, in diesem System eine gewisse Funktion zu übernehmen«. Wesentlich in der Darstellung sind immer auch die Handlungsoptionen, ein Umstand, der sich drittens konkret aufzeigen lässt an den vereinzelten Menschen, die den Verfolgten halfen und zum Beispiel manches Kind retteten. Auf eine umfassende Didaktisierung wurde bei der CD-ROM bewusst verzichtet, da jede Pädagogin und jeder Pädagoge sowieso das Material anpassen müsse. Dafür liefert die »strukturierte Dokumentensammlung« alles, was man für den Unterricht benötigt, darunter eine thematische Einordnung der Einzelschicksale mit Zeitleiste und Glossar, eine Berücksichtigung verschiedener Schulformen, Lerngruppen und Altersstufen und sogar Vorschläge für eine Reflexion von Menschenrechten mit Hinblick auf die Kinderrechtskonvention und die Entschädigungspraxis. Besonders nützlich ist auch der Anhang, in dem die Herkunft und die Umstände der Entstehung des jeweiligen Dokuments aufgeschlüsselt werden. Äußerst interessant sind schließlich auch die enthaltenen Reportagen und Korrespondenzen in englischer, französischer oder russischer Sprache, die die Arbeit des Kindersuchdienstes verdeutlichen und die sich, so die Herausgeberin, sehr für einen fachübergreifenden oder bilingualen Unterricht anbieten. Aus meiner Sicht wäre es jedoch trotzdem hilfreich, wenn nach und nach Beispiele zugänglich gemacht würden, wie die Materialien im Unterricht eingesetzt und vor allem, welche Präsentationsformen dabei von Schülerinnen und Schülern erarbeitet wurden. Diese könnten auf der Seite des ITS, aber auch auf einem pädagogischen Portal veröffentlicht werden. Und sollte sich eine Schülergruppe an einer Aufbereitung für eine Webseite versuchen, dann wäre sicherlich auch unsere Online-Ausstellung »du bist anders?« ein passendes Dach, unter dem sich eines dieser Schicksale präsentieren ließe.
Dieser Beitrag wurde erstveröffentlicht auf der Jugendwebseite der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas „Du bist anders“. Eine Online-Ausstellung über Jugendliche in der Zeit des Nationalsozialismus.
CD-ROM
»Ich bin alleine, zwischen fremden Menschen«. Kinder und Jugendliche als Verfolgte und Opfer des nationalsozialistischen Deutschland, herausgegeben vom Internationalen Suchdienst (ITS), Bad Arolsen 2012. Text, Redaktion und Dokumentenauswahl: Dr. Susanne Urban Pädagogische Beratung: Sebastian Schönemann und Marcus von der Straten Gestaltung conceptdesign: Günter Illner, Bad Arolsen Die CD ist gegen eine Schutzgebühr von 10 € direkt über den Service des ITS zu beziehen.
Auf der Basis weiterer Dokumente aus dem Kindersucharchiv entstand in einem zweisemestrigen Projekt in Kooperation zwischen der Universität Kassel/ FB Erziehungswissenschaften und dem ITS Unterrichtsmaterial für die Sekundarstufe I und II. Diese Unterrichtseinheiten, die ein Stationenlernen zu insgesamt acht Themen ermöglichen, stehen zum Download (pdf) bereit unter der Rubrik Forschung und Bildung.
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- 24 Nov 2015 - 19:28