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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel Sie müssen angemeldet sein, um das Benutzerprofil zu sehen |
Von Gabriele Knapp
Die Arbeitsgemeinschaft „Frauen im Exil“ in der Gesellschaft für Exilforschung e.V. erforscht seit 25 Jahren das Leben und Wirken von Exilant/innen in der Zeit des Nationalsozialismus. Sie untersucht Überlebensstrategien und Erziehungsleistungen, künstlerische Produktionen, die politische Arbeit, wissenschaftliche Karrieren, die Berufstätigkeit überhaupt, Fragen von Akkulturation in den Zufluchtsländern und die Bedingungen nach der Rückkehr in die Heimatländer. Zu den jährlichen Tagungen kamen von Anfang an Teilnehmer/innen aus verfolgten und nicht verfolgten Familien. Viele Geflohene kehrten aufgrund der Tagungseinladungen zum ersten Mal wieder nach Deutschland zurück. Sie referierten und lasen aus eigenen Texten. Deren Töchter, Nichten und Enkel/innen berichteten über die Lebenswerke ihrer Verwandten oder präsentierten eigene Arbeiten zur Exilgeschichte der Familie. So zeigte die argentinische Malerin Monicá Weiss, Enkelin eines aus Dresden geflohenen Paares, mehrfach Bilder und Collagen mit Motiven von Verfolgung, Flucht, verlorener Heimat und der neuen Existenz im Spannungsfeld zweier Kulturen. Die von Exilerfahrungen Betroffenen prägten die Atmosphäre auf den Tagungen stark mit. Persönliche Erfahrungsgeschichten gingen stets in die Diskussionen ein. Nach Aleida Assmann ist „das Zeugnis des vom Trauma gezeichneten Opfers“ angewiesen auf ein Echo der Resonanz und Rückversicherung in einer „ethischen, d.h. Gruppeninteressen übersteigenden Erinnerung“. So machten beide Seiten wertvolle neue Erfahrungen.
Den Auftrag des Nicht-Vergessens einlösen
Mit dem zeitlichen Abstand zu den historischen Ereignissen wird sich die Geschichte des Nationalsozialismus und des Exils „verflüchtigen“. Imre Kertész fragt sich daher, was für ein „geistiges Erbe“ er und die anderen Überlebenden hinterlassen: Haben die zahllosen Leidensgeschichten das menschliche Wissen bereichert oder steckt in den Zeugnissen unvorstellbarer Erniedrigung womöglich gar keine Lehre? Hanna Papanek, als Kind aus Berlin über Prag und Paris in die USA geflüchtet, plädiert dafür, die Erinnerungs- und Vermittlungsarbeit nicht an die Zeitzeug/innen zu delegieren. Sie begreift das Thema Exil als Chance in der Bildungsarbeit zum Holocaust in Deutschland. Gelungene Flucht betone weniger den Aspekt von Vernichtung, auch wenn diese nicht ausgeblendet werden darf. Als langjähriges Mitglied der Arbeitsgemeinschaft „Frauen im Exil“ gab sie den Anstoß, sich im Rahmen der 24. Jahrestagung mit der Problematik „Flüchtige Geschichte und geistiges Erbe – Reflexionen zum Stand der Frauenexilforschung und zur Frage der Vermittlung“ zu befassen.
Die beste Möglichkeit, Jugendlichen die Zeit des Nationalsozialismus nahe zu bringen, so Jens Michelsen, sei die Begegnung mit Menschen, die den Holocaust überlebt haben. Ich selbst habe als Holocaust-Forscherin und Gedenkstättenpädagogin über 100 Überlebende getroffen und interviewt. Es geht ihnen in der Regel nicht darum, Geschichte objektiv zu vermitteln, sondern (ihre eigene) erlebte Geschichte zu hinterlassen. Jede Flucht verlief anders, jede Überlebens- und Exilerfahrung ist eine sehr persönliche. Gleichwohl müssen die individuellen Erfahrungen der Überlebenden in einen historischen Kontext eingebunden werden. In absehbarer Zeit werden die Erinnerungen der Überlebenden, wie Aleida Assmann vorher sieht, vom kommunikativen Gedächtnis in das kulturelle Gedächtnis übergehen. Als Nachwachsende mit „Erfahrungswissen“ aus der Begegnung mit Holocaust-Überlebenden frage ich mich, ob meine Generation das „kommunikative Gedächtnis“ nicht weiter tradieren könnte. Inge Hansen-Schaberg bezeichnet uns, die wir in Forschung und Vermittlung tätig sind, als „Zeug/innen von Lebenswegen“. Die Ausbildung eines „kommunikativen Gedächtnisses aus zweiter Hand“, also die lebendige Vermittlung von Erfahrungswissen aus den Begegnungen mit Überlebenden, wäre demzufolge eine zukünftige Aufgabe.
Das Exil als Erfahrung präsent machen
Nach Sylvia Asmus bedeutet Flucht und Exil „erzwungene Entortung“. Der Koffer ist zum Symbol und konkreten Objekt der Vermittlungsarbeit zum Exil geworden. Sie ist jedoch auch auf Orte angewiesen. So heißen Projekte in einem Band des Jahrbuchs „Exilforschung“ z.B. „Räume schaffen für gemeinsames Erinnern“ oder „Der Erinnerung Raum geben“, es ist auch von der Schaffung „Dritter Räume“ die Rede. Es besteht ein Bedürfnis, konkrete und virtuelle, temporäre und dauerhafte „Verortungen“ zur Erinnerung an Exilierte zu schaffen.
Die „Erfahrung von Fremde“ ist für die Exilsituation zentral. Exilforschende und Exilvermittelnde versuchen Zugänge zum Fremden zu eröffnen. Dies setzt Neugier und die Bereitschaft voraus, das Gefühl von Fremdheit, ja Unsicherheit und Verstörung bei sich selbst zulassen zu können. Fremdheit ist auch ein Ausgangspunkt für jeden Lernprozess. Gerade aus der Frauenexilforschung kommen Anregungen inhaltlicher und methodischer Art. Jugendliche können sich dem Gegenstand ihres Erkenntnisinteresses forschend und fragend annähern: recherchieren, erarbeiten, sammeln, bewahren und vermitteln. Inge Hansen-Schaberg hat fünf handlungsleitende Prinzipien für die Vermittlungsarbeit zum Exil entwickelt: verschüttete Geschichte(n) bergen, vergessene Lebensgeschichten rekonstruieren, sich für neue Ideen, Entscheidungen und Handlungsweisen öffnen, Geschichtsschreibung geschlechtergerecht verändern und Bildungsprozesse initiieren. Bedauerlicherweise ist das Thema Exil noch zu wenig in schulischen, außerschulischen und universitären Bildungskontexten etabliert. Dabei könnten die Erkenntnisse der NS-Exilforschung die aktuellen Debatten um Flucht, Vertreibung, Migration und Exil bereichern und zur Demokratie- und Menschenrechtserziehung beitragen.
Das Thema Exil geschlechtersensibel vermitteln
Bildungsbausteine zum Exil sollten geschlechterdifferenzierte Ansätze in der pädagogischen Arbeit berücksichtigen. Schon alleine deshalb, weil die Bilder von der Emigrantin und dem Mann im Exil, wie Hiltrud Häntzschel feststellte, durch Geschlechterstereotypen bestimmt sind. Hier kann die Pädagogik des Exils von den Erfahrungen der Gedenkstättenpädagogik profitieren. Pia Frohwein und Leonie Wagner haben erforscht, dass zwar historische Untersuchungen zu Frauen und über geschlechtsspezifische Symbolisierungen in Deutungs- und Wahrnehmungsmustern vorliegen. Jedoch erwies sich die pädagogische Seite der Gedenkstättenarbeit als „weitgehend geschlechtsblind“. Geschlechterreflektierende Pädagogik bedeutet eben nicht nur, mädchen- oder jungenspezifische Bildungsangebote zu machen, sondern sie sollte sich durch alle Ebenen des Lernprozesses ziehen: Die Vermittlung historischer Inhalte; die Präsentation von Orten, Ausstellungen und Materialien; die Art und Weise der pädagogischen Vermittlung; das Geschlecht der Bildungsreferent/innen und Lehrkräfte; das Geschlecht der Jugendlichen; last but not least, wie sich männliche und weibliche Jugendlichen die Inhalte aneignen. Die Arbeitsergebnisse können in Form von Präsentationen wie Lesungen, Ausstellungen, Internetauftritten, Theaterstücken oder lokalgeschichtlichen Aktionen – Errichtung eines Denkmals, Verlegung eines Stolpersteins – dokumentiert werden.
Das Thema Exil bietet die Möglichkeit, geschlechtsübergreifende Aspekte mit Jugendlichen heute zu bearbeiten, denn durch Flucht und Exil in der NS-Zeit machten gerade Jugendliche beiderlei Geschlechts Erfahrungen jenseits vorgezeichneter Lebensläufe. Dies beschreibt beispielsweise die Mutter der Malerin Mónica Weiss, die als junges Mädchen mit ihren Eltern durch zahlreiche Länder nach Lateinamerika floh. In ihrem Tagebuch hielt sie die aufregenden Erlebnisse dieser Reise fest. Ihre Tochter wiederum lässt sich von den Tagebuchaufzeichnungen der Mutter bei der künstlerischen Arbeit inspirieren. Die Bilder und Collagen über Flucht und Exil eignen sich sehr gut für die Vermittlungsarbeit, wie ich als Bildungsreferentin feststellen konnte. Ich arbeitete mit Jugendlichen im Rahmen einer Ausstellung von Mónica Weiss zu den Exilerfahrungen ihrer Familie. Das Ausleuchten des Spannungsfeldes zwischen traumatischen, aber auch abenteuerlichen Erlebnissen gerade jugendlicher Flüchtlinge eröffnet ein großes pädagogisches Potential.
Literatur
Asmus, Sylvia / Bender, Jesko: Konstellationen des Exils – die virtuelle Ausstellung „Künste im Exil“. In: APuZ, 64. Jg., Heft 42/2014, S. 42–47, hier S. 42.
Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München 2006, hier S. 77.
Briegel, Manfred / Frühwald, Wolfgang (Hrsg.): Die Erfahrung der Fremde. Kolloquium des Scherpunktprogramms „Exilforschung“ der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Weinheim 1988.
Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch. Bd. 28: Gedächtnis des Exils. Formen der Erinnerung. München 2010.
Frohwein, Pia / Wagner, Leonie: Geschlechterspezifische Aspekte in der Gedenkstättenpädagogik. In: Gedenkstättenrundbrief 120, 2004, S. 14-21.
Häntzschel, Hiltrud: Geschlechtsspezifische Aspekte. In: Handbuch der deutschsprachigen Emigration. Hrsg. von Claus-Dieter Krohn / Patrik von zur Mühlen / Gerhard Paul / Lutz Winkler, Darmstadt 1998, 2. Aufl. 2008, Sp. 101-117, hier S. 109.
Hansen-Schaberg, Inge: Reunions der Gruppe „Freundschaft“. Ein Bericht über Lebenswege und Erinnerungsprozesse. In: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch. Bd. 28: Gedächtnis des Exils. Formen der Erinnerung. München 2010, S. 234–244.
Hansen-Schaberg, Inge: Exilforschung – Stand und Perspektiven. In: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), 64. Jg., 422014b: Exil, S. 3-9.
Knapp, Gabriele / Adriane Feustel / Inge Hansen-Schaberg (Hrsg.): Flüchtige Geschichte und geistiges Erbe - Perspektiven der Frauenexilforschung. München 2015 (i. Dr.).
Knapp, Gabriele: Pädagogische Arbeit mit Bildern von Mónica Weiss zu Verfolgung, Flucht und Exil. In: Hansen-Schaberg, Inge / Hilzinger, Sonja / Feustel, Adriane / Knapp, Gabriele (Hrsg.): Familiengeschichte(n). Erfahrungen und Verarbeitung von Exil und Verfolgung im Leben der Töchter. Wuppertal 2006, S. 123-137.
Michelsen, Jens: Von der Begegnung zum Bild, Zeitzeugenschaft in der kommunikativen und kulturellen Erinnerung. In: Lenz/Schmidt/von Wrochem (Hrsg.): Erinnerungskulturen im Dialog. Europäische Perspektiven auf die NS-Vergangenheit (S. 161–172), Hamburg / Münster 2002.
Weitere Informationen und Literatur zum Thema unter: www.exilforschung.de
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- 26 Mai 2015 - 22:26