Projekt

Bereschit – "Im Anfang ..." Ein deutsch-israelisches Projekt über das Bild des jeweils Anderen

Die Autorin war im Projektzeitraum am Bremer Hermann-Böse-Gymnasium tätig und ist nun Lehrerin an der Europäischen Schule in Luxemburg.

Von Karina Lajchter

Das 1. Buch Mose beantwortet die Frage nach den allerersten Dingen ebenso schlicht wie poetisch: "Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde." (Im Anfang – hebräisch Bereschit). Am Ende der ersten Arbeitswoche des Universums erblickte dann Adam das frisch erschaffene Licht der Welt und alles schien klar und eindeutig. Doch bereits mit der Berufung Abrahams zum Stammvater gingen die drei Religionen Judentum, Christentum und Islam ihre eigenen Interpretationswege. Ursache für Missverständnisse, aber auch Ursache für Unversöhnlichkeiten.

5770 Jahre später – anno 2010 des Gregorianischen Kalenders – traten 15 Bremer Gymnasiastinnen und Gymnasiasten vom Bremer Hermann-Böse-Gymnasium den Weg ins Heilige Land an, und 15 israelische Schülerinnen und Schüler von der Reali-School in Haifa kamen nach Bremen. Alle im Alter von 15 bis 18 Jahren. Im Mittelpunkt der einjährigen Projektarbeit stand die Untersuchung der jeweiligen Sichtweisen über Israel und Deutschland. Ausgehend von Zeitungsartikeln und Straßeninterviews wurde erarbeitet, welches Deutschland- bzw. Israelbild in den Medien transportiert wird und in den Köpfen der Menschen präsent ist. Im Vordergrund der Arbeit stand vor allem die Auseinandersetzung mit den eigenen Einstellungen und Vorurteilen. Es galt, Licht in die eigenen Köpfe zu bringen. Im Anfang – Bereschit …

Drei unterschiedliche Projektphasen

In der ersten Phase (Forschung und Recherche in Form von Interviews, Fotodokumentationen) informierten sich die Jugendlichen noch in ihren jeweiligen Heimatländern über das öffentliche Bild des jeweils anderen Landes. Die Bremer Schülerinnen und Schüler beschäftigten sich mit der Frage, welches Israelbild in den Medien (z.B. in Zeitungsartikeln und Cartoons) vermittelt wird. Anschließend brachten sie in Erfahrung, was Menschen unterschiedlichen Alters über Israel denken. Die Befragung erfolgte vor laufender Kamera und sollte als Basis für eine Theater-Performance dienen. Alle Ergebnisse wurden während der regelmäßigen Treffen ausgewertet und mit dem eigenen Israel-Bild in Beziehung gesetzt. Da oft widersprüchliche Informationen und mangelndes Wissen zu erneuten Fragen führten, luden die Schülerinnen und Schüler Experten ein, wie Dr. Hartmut Pophanken, ein Historiker, der bereits diverse Male Israel bereist hatte und aus einem reichhaltigen Repertoire an Erfahrungen schöpfen konnte. So entstand in Bremen eine erste Probenfassung der Theater-Performance. Heraus kristallisierten sich Schwerpunkte wie Siedlungspolitik, Wassermanagement, Mauerbau. In ihnen spiegelte sich das Bild der Medien und der interviewten Personen. Parallel zu den Probearbeiten stellten die Jugendlichen erste Kontakte zu den Partnerschülerinnen und -schülern in Haifa via Facebook her.

In Israel wurden inzwischen drei Drehbuchideen entwickelt, um das heutige israelische Bild von Deutschland darzustellen. Die Rohfassungen sollte während des ersten Treffens in Deutschland durch Aufnahmen in Deutschland (Bremen, Berlin, Bergen-Belsen) ergänzt werden. Zusätzlich wurden gemeinsame Interviewpartnerinnen und -partner gesucht und die Befragungstermine von den deutschen Jugendlichen vor Ort organisiert.

Die zweite Phase des Projekts (Sichtung und Auswertung der Ergebnisse, Umsetzung in einer Performance und filmischen Recherche) fand in Bremen gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern aus Israel statt. 15 junge Menschen aus Haifa kamen am 18. November 2009 für eine Woche nach Bremen. Von hier aus starteten die Gruppen zu ihren Drehorten und Interviews. Ob Bremer Parlamentspräsident oder ehemaliger Kibbuz-Bewohner – die Interviews waren äußerst offen und ehrlich. Aufwühlend war der dritte Tag des Aufenthaltes – eine gemeinsame Zeremonie im ehemaligen Konzentrationslager Bergen-Belsen. Sie stellte die zarten Freundschaftsbande auf eine erste harte Probe. Noch ernsthafter und engagierter schienen die Gruppen nun an ihren Projekten zu arbeiten. Die israelischen Schülerinnen und Schüler filmten und führten Interviews. Die deutschen Jugendlichen entwickelten ihre Performance auf der Bühne weiter. Am vorletzten Tag des Aufenthaltes präsentierte die deutsche Gruppe den Israelis ihre ersten Ideen. Tränen flossen, Unverständnis, Wut bei den Jugendlichen aus Israel. Entsprach das recherchierte Bild über Israel – Siedlungspolitik, Mauerbau, Wassermanagement, Diskriminierung der palästinensischen Bevölkerung – denn nicht den Tatsachen? Trotz starker Emotionen und anfänglicher Sprachlosigkeit geschah etwas Wunderbares: Die Schülerinnen und Schüler setzten sich nach zehn Minuten im Kreis gegenüber. Zwei Gruppen, die sich auf einmal mit anderen Augen sahen. Die ersten Worte kamen nur schwer über die Lippen. Israelischer VORWURF: "So ist das nicht bei uns!" Deutsches ARGUMENT: "Aber das sind die Antworten, die wir hier gefunden haben." Israelische BITTE: "Kommt zu uns, überzeugt euch selbst!" Sich kritisch mit den dargestellten Meinungen auseinanderzusetzen und sich darüber auszutauschen – die Jugendlichen befanden sich mittendrin im Projekt und im Nahost-Konflikt. Was ist wahr, was verfälscht? Wo ist Kritik berechtigt, wo unberechtigt? Das erste deutsch-israelische Treffen im November 2009 endete mit der Erkenntnis: Das Konzept der Performance ist so nicht umsetzbar.

Was nun?

Gott sei Dank intensivierte sich der Kontakt zwischen den Jugendlichen und der Ehrgeiz, sich ein eigenes Bild von Land und Leuten zu machen, wuchs. Eine neue Theateridee musste her.

Eine veränderte Forschungsfrage sollte nun im Mittelpunkt der deutschen Projektvariante stehen – persönlicher, näher, emotionaler: Was verbindest du ganz persönlich mit Israel? – lautete die Ausgangsfrage. Die Schülerinnen und Schüler begannen nach Menschen zu suchen, die eine eigene Geschichte über das Land und seine Menschen erzählen konnten. Eine Geschichte war besonders, weil sie vor dem zweiten Weltkrieg begann und noch nicht zu Ende war, die Geschichte einer Frau auf der Suche nach ihrem Vater. Die Geschichte der Deutschen Lea.

Eine aufregende Untersuchung begann – Gespräche mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, Recherchen im Internet und vor Ort beleuchteten die grauenvollen Geschehnisse von 1933 bis 1945 und brachten eine Geschichte von Schuld und Sühne ans Licht, eine Geschichte, deren weiterer Verlauf von den Schülerinnen und Schülern bis ins heutige Haifa verfolgt wurde. Mit jeder neuen Information tauchten die Jugendlichen tiefer in die persönliche Geschichte von Lea und ihrer Mutter Emma ein und fügten dabei Mosaikstein für Mosaikstein ein neues Bild von Israel zusammen. So entstanden Szenenideen, die sich allmählich zu einem Ganzen fügten. Gleichzeitig entwickelten die Schülerinnen und Schüler eine eigene Sichtweise auf Israel, seine Geschichte und die daraus resultierenden Sensibilitäten. Die anfängliche Enttäuschung nach den ersten Bühnenideen führte zu vielen neuen Erkenntnissen, aber vor allem zu dieser: Für ein friedvolles Miteinander müssen wir reden – nicht schweigen und dulden. So lautete auch der Titel des neuen Stücks "Emmas Schweigen".

Die israelischen Jugendlichen, inzwischen in Haifa wieder angekommen, sichteten derweil ihr Filmmaterial und versuchten die Drehbücher im Schnittstudio umzusetzen. Drei Filmideen wurden geboren: TRAVEL LOG – eine Reisedokumentation, THIRD GENERATION – eine Dokumentation über eine israelische Schülerin und ihre Großeltern im Vergleich zu einem deutschen Schüler und seiner Großmutter und CHANGES – das Leben zweier deutscher Kibbuzbewohner.

Gemeinsame Präsentation

In der dritten und letzten Phase (Präsentation der Video-Theater-Performance) Mitte Mai 2010 wurden die Ergebnisse in Haifa präsentiert. 15 deutsche Jugendliche flogen am 11. Mai mit großen Erwartungen und einem neuen Theaterstück zu ihren neuen Freunden nach Haifa. Schwerpunkt ihrer einjährigen Projektarbeit war, dass sich die Schülerinnen und Schüler von der Sichtweise der anderen (Medien, Gesellschaft) weitgehend frei machen und mit Hilfe von Film und Theater eine eigene Position entwickeln sollten. In der letzten gemeinsamen Arbeitswoche in Israel nutzten sie jede Gelegenheit, das Land und seine Geschichte kennenzulernen. Es intensivierte die Freundschaften und öffnete Blickwinkel. Ganz gespannt aber waren alle auf die Ergebnisse ihrer Recherchen, auf das Theaterstück und die Dokumentarfilme.

Am 16. Mai 2010 war endlich der große Tag der Präsentation im Theater in Haifa. Dazu angereist war auch der Bremer Parlamentspräsident Christian Weber. Der Abend begann mit dem Dokumentarfilm THIRD GENERATION. Was die erste Generation erlebte, erfüllt die Dokumentation mit Wut und Trauer. Gefangen in diesen Emotionen versuchten die Enkel die Worte wiederzufinden, um in den Dialog zu treten. TRAVEL LOG – ist ein filmisches Tagebuch über die Reise nach Deutschland mit ungeschönten Bildern vom ersten Konflikt und in CHANGES deutet sich bereits das veränderte Bild über den jeweils Anderen an. Das Theaterstück "Emmas Schweigen" zeigt dieses Bild am Beispiel einer wahren Geschichte und endet mit einer überraschenden Wende: Lea findet tatsächlich ihren Vater, den Mann ihrer Mutter, den Juden, der einst eine Christin liebte – nach fast 50 Jahren auf dem Friedhof von Haifa. 

Fazit

Um auf die einleitenden Worte zurückzukommen: Manchmal kann sich das erste Bild, welches man von einem Sachverhalt hat, als viel komplexer herausstellen als zunächst gedacht. Ein zweiter und dritter Blick ist dann oft unerlässlich, um Missverständnisse und Unversöhnlichkeiten zu vermeiden. Klarheit braucht wohlwollendes Licht. Durch die Begegnungen in Bremen und Haifa und das gemeinsame Arbeiten erhielten die Jugendlichen aus Deutschland und Israel jedenfalls die Chance, mit veralteten Stereotypen zu brechen und eine eigene Vorstellung, ein eigenes Bild vom jeweils anderen Land zu entwickeln und gestalterisch zum Ausdruck zu bringen. So realisierten sie ihre ganz eigene Vision von Toleranz, Freundschaft und Frieden auf der Bühne und im Film, gerahmt von einem gegenseitigen Abkommen: Vor allem Freunde haben die Pflicht, Wahrheiten auszusprechen – auch wenn sie manchmal schmerzen.

 

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