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Von Michele Barricelli
Vielfältige oder, wie man sagt, "diverse" Gemeinschaften sind heute ein Ausweis von Modernität und Zukunftsfähigkeit. Gerade für die heutige Generation von Schülerinnen und Schülern bilden Diversität und Buntheit einen Teil ihres Alltags. Die Ausgrenzungs- oder gar Strafmechanismen vergangener Jahrhunderte dagegen scheinen ihnen tatsächlich ein historisches Thema. Jedoch sind mancherlei Formen der Absonderung und Diskriminierung des Fremden oder Andersartigen weiterhin präsent. Die Beschäftigung mit der Geschichte des "Andersseins" lohnt also, um ein Bewusstsein für die Konstruktion von "normal" und "abweichend" zu schaffen. So wird gleichzeitig vor Augen geführt, dass Gleichheit und Verschiedenheit gewaltige Triebkräfte der Geschichte waren und immer noch sind. Im Blick zurück erkennt man Zeiten, Kulturen oder Länder, die ein großes Bedürfnis nach Vereinheitlichung verspürten und nur wenig Außenseitertum duldeten. In anderen Momenten oder Gesellschaften hingegen wurde das Andersgeartete neugierig aufgenommen oder sogar gefördert. Stets bedeutete es etwas Unterschiedliches, anders zu sein, ausgeschlossen zu werden oder aber aus freien Stücken gegen den Strom zu schwimmen.
Macht und Ausgrenzung
Doch wer definierte eigentlich, was jeweils als "normal" oder "konform" und was als "anders" oder "fremd" zu gelten hatte? Konnten sich die Besonderheiten, die einem Menschen zugeschrieben wurden, ändern oder trug er oder sie diese als "Stigma" bzw. Makel für ewig auf dem Leib?
"Anders" jedenfalls war und ist ein Individuum niemals an und für sich. "Anders" wurde und wird ein Mann oder eine Frau erst gemacht: durch kodifiziertes Recht, Gesetze und Verordnungen, hergebrachte Überzeugungen, zuweilen einfache Willkür, und zwar gleichviel ob in Verfassungsurkunden, Vereinssatzungen oder informell im Freundeskreis oder der Facebook-Gruppe. Außenseitertum ist damit eine Macht-Frage, mindestens eine Verhandlungs- und am Ende eine Ansichtssache. Jedoch eine, die schwerwiegende Folgen haben kann.
Kategorien der Zuschreibung und Abweichung
Blickt man auf die Konstruktion von Anderssein durch jene, die dafür das Recht besitzen – oder es sich herausnehmen –, lassen sich die häufig genutzten Kriterien grob fünf Themenfeldern zuordnen, die Ansatzpunkte für die Spurensuche in der Geschichte bieten: die Konstitution des Körpers; biologische Grundgegebenheiten wie Geschlecht, sexuelle Orientierung, Alter; die Ab- oder Herkunft; die ökonomische Lage; sowie allgemein der "Lebenswandel".
Die vielleicht augenfälligsten Merkmale beziehen sich auf den Körper: Sehr hoch gewachsene oder sehr kleine Menschen, solche mit nur einem Arm oder Bein, Weitere, die nicht gehen, sehen, hören oder (nur schlecht oder stotternd) sprechen können, erscheinen uns schnell als "anders". Das gilt genauso für Personen, die unter bestimmten Krankheiten leiden oder deren geistige Entwicklung nicht mit der Norm Schritt hält. Oft wurden diese weggesperrt und ausgeschlossen: Leprakranke etwa mussten außerhalb der Stadtmauern leben, Menschen mit Behinderungen wurden noch bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein in Pflegeanstalten fixiert und misshandelt. Extrem Auffällige – z. B. Zwergwüchsige oder Menschen, die am ganzen Körper behaart waren – wurden während vergangener Jahrhunderte nicht selten wie exotische Tiere in Zoos und Jahrmärkten ausgestellt. Ihr Schicksal hat die Zeitgenoss/innen zugleich fasziniert und erschreckt.
Darüber hinaus existierten immer schon soziale Normen im Hinblick auf Geschlecht, Sexualität und Alter. Die längste Zeit der menschlichen Entwicklung galten, in einer rein männlich geprägten Welt, überhaupt alle Frauen als die "Anderen" mit minderen Rechten und geringeren Möglichkeiten. Bis in die jüngste Vergangenheit war die Sexualmoral streng normiert: Alleinerziehende Mütter und unverheiratete Paare wurden an den Rand der Gesellschaft gedrängt, Homosexuelle wurden in der Geschichte auf Scheiterhaufen verbrannt, in Lager gesperrt oder medizinischen Zwangsbehandlungen unterzogen. Solche, die sich nicht ihrem Geschlecht gemäß kleiden oder dieses ganz wechseln, können selbst heute noch Blicke wie Außerirdische ernten. Auch das Alter ist eine ergiebige Quelle der willentlichen Unterscheidung. Während heute betagte Menschen über Altersdiskriminierung und Jugendwahn klagen, galt früher die "natürliche Autorität" des Alters.
Eine andere Form der Abgrenzung betrifft die Ab- bzw. Herkunft. Ob in der antiken Polis, in mittelalterlichen Städten oder den deutschen Territorialstaaten: Aus der Reglementierung von Heimat- und Bürgerrechten sprach immer auch das Misstrauen gegenüber Fremden und Zugezogenen. Ab dem 19. Jahrhundert formt sich daraus, durch die Einbettung in nationalistische und rassistische Ideologien, eine Grundlage fundamentaler Diskriminierung von Menschen. "Rassen" und "Nationen" wurden nämlich unveränderbare Merkmale zugeschrieben, die wiederum eine Stufung nach hoch- und minderwertig rechtfertigten. Ziel war letztlich zu sagen: Die da gehören nicht zu uns – um daraus die rassistisch motivierte Ungleichbehandlung von denen abzuleiten.
Schon antike historische Quellen qualifizierten all jene als "Andere", die über zu wenig ökonomische Mittel verfügten, um ihr Leben selbst zu gestalten. Arme, die zum Betteln verdammt sowie auf die Fürsorge der Gemeinde angewiesen waren, gab es fortwährend in der Menschheitsgeschichte. Als ökonomische Außenseiter galten zudem solche Zeitgenoss/innen, die sich in bestimmten "niederen" bzw. unehrenhaften Berufen verdingten, wie Hausierer, Henker, Prostituierte, Totengräber, Jahrmarktsleute. Arm und randständig blieben zudem oft Künstler/innen oder "Bohémiens", da sie einem "brotlosen" Gewerbe nachgingen – selbst wenn die "vollwertigen" Bürger ihre Werke, die Gemälde, Gedichte, Opern, schätzten.
Heute könnten Arbeitslose, Hartz-IV-Empfänger oder Obdachlose zu dieser Gruppe zählen.
Distanzierung aus eigener Überzeugung
Etwas anders als bei den bisherigen "Randgruppen", die man, selbst wenn man es wollte, kaum oder nur schwer verlassen konnte, sieht es in der Kategorie des Lebenswandels aus. Angepasstes Denken bzw. Handeln sind zwar meist Bedingung für die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft. Und doch überraschen Einzelne immer wieder durch eigenwillige Entscheidungen und Taten. So nehmen sie einen neuen Glauben an, der nicht durch Geburt und Herkunft vorbestimmt ist; sie entwickeln eine unerhörte politische Haltung, kreieren für sich einen ungewöhnlichen Lebensstil. Obrigkeit und Gesellschaft tolerierten solche Abweichungen immer nur in engen Grenzen. Vorkämpfer/innen der Frauenbewegung oder Pazifist/innen wurden, wenn man es für nötig hielt, mit politischen Verboten und Strafmaßnahmen belegt, und die Mehrheitsgesellschaft, welche die Vorstellungen und Werte von jenen nicht teilte, gab sie der Lächerlichkeit preis. Ähnlich erging es Jugendkulturen – den Wandervögeln im Kaiserreich, den wilden Cliquen der Weimarer Republik, die Hippies und Punks der 1970er Jahre. Nicht selten lebten diese ganz bewusst entgegen der Normen und Regeln des "Mainstream", suchten sogar die Konfrontation.
Im größten denkbaren Maße zu Einzelgängern und Einzelgängerinnen, die sich selbst in höchster Bedrängnis auf niemand anderen verlassen können, wurden und werden jedoch jene, die in Diktaturen für Menschenrechte und Humanität eintreten: Während des Nationalsozialismus in Deutschland gab es nur noch einen kleinen Rest von Aufrechten, welche, unter Einsatz des eigenen Lebens, die verbrecherische Staatsspitze zu beseitigen versuchten oder ihren zur Vernichtung vorgesehenen Mitbürgerinnen und Mitbürgern zur Seite standen. Dieses Leuchten von ein paar Widerständigen in der dunkelsten Stunde europäischer Geschichte war eine Voraussetzung dafür, dass die schuldig gewordenen Deutschen den Völkern der Erde später überhaupt noch in die Augen sehen konnten und eben nicht zu den bleibenden Außenseitern der Völkergemeinschaft wurden.
Solche "Zuschreibungskategorien" sind freilich nicht trennscharf, sondern können sich, oft in nur einer Person, überschneiden. Rosa Luxemburg, die Kommunistin aus einer jüdischen Familie in Polen, stand in mehrfacher Hinsicht für das, was deutsche Nationalisten verabscheuten; derartiger Hass mündete sogar in ihre Ermordung. Der unehelich geborene, mit einer Ausländerin verheiratete Exilant und Widerstandskämpfer Willy Brandt konnte, obwohl man ihn gerade aufgrund dieser Merkmale eines Außenseiters lange angefeindet hatte, ein überaus geachteter Bundeskanzler werden. Viele ähnliche, weniger bekannte Biografien können Jugendliche anregen, über den historischen Wandel von Zuschreibungen und deren Bewertung nachzudenken.
Forschungsfragen und Quellen
Die bunte Vielfalt der Welt also macht die Erforschung des Andersseins spannend und abwechslungsreich. Historisch lässt sich zunächst fragen, wie Menschen früher zu "Anderen" erklärt wurden, warum das geschah und welche Folgen es für die Betroffenen hatte. Auch die Dauer oder Zeitgebundenheit der Aussonderung und die Voraussetzungen von "Emanzipation" bzw. Rückkehr in die Mehrheit sind spannende Themen.
Für interessante Untersuchungen bietet sich zudem die Suche nach den Bedingungen an, unter denen Gesellschaften Anderssein zuweilen duldeten: Während des Mittelalters durften Gaukler/innen, Wahrsager/innen und anderes "fahrendes Volk" im Rahmen harter Auflagen ihrer Tätigkeit nachgehen; das Schicksal von Lahmen oder Kranken wurde oft als selbst verschuldet gedeutet, jedoch schrieb die christliche Pflicht zur Barmherzigkeit ein Mindestmaß an Sorge für diese Außenseiter/innen vor. Zugezogenen und Fremden wurden bestimmte Straßenzüge und Stadtviertel zur Ansiedlung zugewiesen – waren dies Freiheitsräume, in denen sie ihrer Religion und Alltagskultur, wie Gebets- und Essensregeln, nachgehen konnten? Oder "Ghettos", die das Außenseitertum und das Misstrauen der Mehrheitsgesellschaft noch verstärkten? Teilweise zumindest führte die Separierung der jeweils "Anderen" zu einem beziehungslosen Nebeneinander: Noch lange, nachdem in Deutschland konfessionelle Konflikte nicht mehr mit Gewalt ausgetragen wurden, lebten die Konfessionen in unterschiedlichen öffentlichen Räumen, unterhielten sie eigene Schulen und Krankenhäuser, waren Kinderfreundschaften über Religionsgrenzen hinweg verpönt und "Mischehen"selten bzw. streng reglementiert.
Einen besonderen Reiz bietet es schließlich, herauszufinden, wie sich Außenseiter/innen in ihrer Position einrichteten und dort ihre ganz eigene Sicht auf die Menge ausbildeten. Eremiten trennten sich seit der Antike von allem Weltlichen, wurden aber wegen ihrer Weisheit geschätzt. In christlichen Klöstern fanden unverheiratete Frauen und Männer einen geschützten Bereich, der sie nicht nur den üblichen familiären Lebensformen entzog, sondern ihnen in gewissem Maße auch intellektuelle und kreative Freiheiten gewährte. Vielleicht entwickelte sich daraus der Gedanke, dass jede Kultur die "Anderen" sogar benötigt. Jedenfalls gab es in der Geschichte wiederholt günstige Aufnahmebedingungen für Individualist/innen, so in England, wo man immer schon die Exzentriker/innen, die Tüftler/innen, Naturliebhaber/innen mit ihrem "spleen" achtete. In Deutschland dagegen hatten es die "Eigenbrötler/innen" und "raren Vögel" stets schwer.
Bei der Erforschung des Themas "Anderssein" unter einer historischen Perspektive sollte eins beachtet werden: Oft verfügen wir nur über wenige Quellen aus der unmittelbaren Sicht der Außenseiter/innen, weil diese nicht schreiben konnten oder durften, weil ihre Hinterlassenschaften nicht aufbewahrt oder vorsätzlich vernichtet wurden. Wo diese Zeugnisse jedoch existieren – so beispielsweise in speziellen Gottesdienstordnungen, in Briefsammlungen von Frauen an den Königshöfen der Frühen Neuzeit oder im Tagebuch der Anne Frank –, gehören sie zu dem Spannendsten, was die Geschichtswissenschaft zu bieten hat, denn in ihnen finden sich Aussagen über Plage und Leid, aber genauso Selbstbehauptung, Stolz und Zuversicht. Sie zeigen uns auch: Das Recht, anders, originell, eigentümlich und trotzdem gleichberechtigt zu sein, muss überall auf Erden weiter entwickelt werden.
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- 3 Sep 2014 - 07:42