Die Geschichte von Sinti, Roma und Jenischen vermitteln – eine Herausforderung
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Von Dominik Sauerländer
Die Idee der Demokratie basiert auf der Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen. Dazu gehört die Anerkennung von Minderheiten durch Mehrheiten. Und dazu gehört zwingend die Rechtssicherheit und Teilhabe an denselben Grundrechten für Mehr- und Minderheit. Dieser demokratischen Grundidee steht die gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit gegenüber. Der Fachbegriff meint die offene oder verdeckte Feindseligkeit gegenüber Menschen anderer Herkunft, Kultur oder Religion. Neben Antisemitismus und Antiislamismus, neben Sexismus und Homophobie geht es dabei auch um den Antiziganismus, also um die Ablehnung und Geringschätzung von Roma, Sinti und Jenischen.
Die Schule soll und kann Demokratie stärken. Zum Beispiel mit Unterricht zur Geschichte von Sinti, Roma und Jenischen. Im Geschichtsunterricht und in der politischen Bildung fragen wir nach Ursachen und Wirkung von Diskriminierung und Ausgrenzung. Wir verschaffen den Lernenden aber auch den Zugang zu Grundlagenwissen, erschließen und diskutieren unterschiedliche Quellen. Denn wer sich informieren kann und will, ist kein Menschenfeind.
Wichtig ist für mich das Grundprinzip der Gegenwarts- und Zukunftsbezogenheit. Daraus leite ich Inhalte ab, die für Schülerinnen und Schüler interessant sind. Interessant sind sie, wenn sie einen Bezug zu ihrem gegenwärtigen Alltag haben, aber gleichzeitig darüber hinaus weisen, Fragen provozieren und neue Erkenntnisse ermöglichen. Interessante Themen verbinden Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. So sind meine Inhaltsfelder für den Unterricht zu Sinti, Roma und Jenischen zu verstehen, die ich hier kurz ausführe.
Antiziganismus
Für die europäischen Mehrheitsvölker seien Sinti und Roma das Andere schlechthin, meint der Literaturwissenschaftler und Autor Klaus-Michael Bogdal, und obwohl sie seit 600 Jahren in Europa leben, gelten sie bis heute als Fremde, die durch ihre Andersartigkeit „unsere“ Lebensweise gefährden. Das ist ein erstes Feld, dem sich der Unterricht in Geschichte oder politischer Bildung annehmen sollte. Es gibt dabei eine historische und eine politische Dimension. Möglichkeiten zur Arbeit mit Lernenden sind übrigens in einem neueren Methodenhandbuch für den Unterricht dokumentiert, das hier auch schon von Ingolf Seidel vorgestellt wurde.
Historisch fragen wir sinnvollerweise nach der Entwicklung in den letzten 150 Jahren, also in der Epoche der Nationalstaaten. Wir unterscheiden dabei nach verschiedenen Ländern oder zumindest Regionen in Europa und deren unterschiedliche „Zigeunerpolitik“. Wir stellen dabei fest, dass in Deutschland, aber auch in der Schweiz oder Frankreich Bevölkerungsgruppen, die keinen festen Wohnsitz hatten, zur Sesshaftigkeit und zur Assimilation gezwungen werden sollten. In der Schweiz wurden zudem ausländische Fahrende ausgewiesen und mit einer Einreisesperre belegt – noch bis 1972!
Politisch fragen wir nach der gesellschaftlichen Ausprägung des Antiziganismus in der demokratischen Gesellschaft. Ausgehen kann man von der Frage, wie sich eine antiziganistische Haltung denn eigentlich äussert und welche Menschen sie warum im Fokus hat. Als Methode bietet sich hier die Analyse aktueller Presseberichte oder auch behördlicher Anordnungen an. Ein Beispiel aus der Schweiz: 2009 starteten die Behörden der Stadt Bern das Projekt „Agora“. Bettelnde Roma-Kinder aus dem Ausland sollten aufgegriffen, in ein Heim gebracht und möglichst rasch in ihr Heimatland zurückgebracht werden. Damit würden sie aus der Gewalt krimineller Banden befreit, die diese Kinder ihren Eltern abgekauft oder ausgeliehen hätten und sie zum Betteln und Stehlen zwingen würden, so die offizielle Begründung. Bis heute wurde offensichtlich weder ein Kind aufgegriffen noch eine kriminelle Bande aufgedeckt. Die Behörden begründen dies mit der abschreckenden Wirkung dieser Maßnahme. Kritiker meinen allerdings, dass bettelnde Kinder nicht Opfer krimineller Banden sind, sondern ganz einfach mit ihren Familien einreisen. Sie sind mit ihrer Kritik nicht allein: In Lausanne beobachtete eine Forschergruppe über ein Jahr lang bettelnde Personen. Sie fanden dabei keine organisierten Strukturen, sondern „normale“ Familien und nur selten bettelnde Kinder. Diese hielten sich meist bei ihren Wohnwagen auf und kamen nur mit in die Stadt, wenn sich niemand fand, der auf sie aufpasste.
Über die Motive und Hintergründe von „Agora“ lässt sich diskutieren. Sind die Behörden einem Vorurteil aufgesessen? Oder verfolgten sie mit der Maßnahme weniger das Wohl der Roma-Kinder als vielmehr einfach eine „saubere sowie zigeunerfreie Innenstadt“, wie Venanz Nobel, Vizepräsident von „Schäft qwant“, einem transnationalen Verein für jenische Zusammenarbeit und Kulturaustausch vermutet?
Traumata
Ein zwingender Bestandteil des Unterrichts ist der Genozid an den Rom-Völkern unter nationalsozialistischer Herrschaft. Er ist die zentrale leidvolle Erfahrung, die bis heute nachwirkt. Doch auch in der von Diktatur und Krieg verschonten Schweiz gab es eine Form schwerer Diskriminierung und Verfolgung. Die Kritik von Venanz Nobel am Vorgehen der Berner Behörden hat nämlich einen realen Hintergrund. Er meinte wörtlich: „Auch heute sind die Kinder ein Vorwand und saubere sowie zigeunerfreie Innenstädte das Ziel“. (Tagesanzeiger 13.4.2012). Nobel bezieht sich damit auf eines der dunkelsten Kapitel der jüngeren Schweizer Geschichte. Zwischen 1926 und 1973 nahm die Stiftung Pro Juventute mit Unterstützung der Behörden im Rahmen der Aktion „Kinder der Landstraße“ rund 600 Kinder ihren jenischen Eltern weg und platzierte sie in Pflegefamilien oder in Heimen. Ziel war nicht das Kindswohl, sondern die Ausrottung der jenischen Kultur, die als minderwertig und asozial galt. Im Gegensatz zum Genozid an Sinti und Roma wurde hier zwar niemand ermordet – aber Hunderte traumatisiert und gebrochen.
Gerade das Schweizer Beispiel zeigt, wie Menschenfeindschaft sogar in einer intakten Demokratie für eine Minderheit zur Gefahr für Leib und Leben werden kann. Was es bedeutet, als „Kind der Landstraße“ aufzuwachsen, können heute noch Zeitzeugen anschaulich berichten. Überlebende des Genozids an Sinti und Roma sind zumindest mittelbar anhand von Interviews und in biografischen Quellen als Menschen fassbar. Es bietet sich an, im Unterricht mit Zeitzeugenberichten zu arbeiten. Denn Menschenfeindschaft entsteht durch Anonymisierung der Opfer. Sie sind keine Menschen mehr, sondern Angehörige einer ausgegrenzten und stigmatisierten Gruppe. Im Unterricht sollten deswegen Menschen im Zentrum stehen. Zu den „Kindern der Landstraße“ existiert seit kurzem ein Lehrmittel, das mit Quellen und Zeitzeugenaussagen deren Stigmatisierung anschaulich zeigt. Zum Genozid an den Sinti und Roma gibt es ebenfalls seit kurzem ein online-Lehrmittel mit biographischen Quellen.
Armut und Migration
Zurück zum Beispiel aus Lausanne: Die meisten bettelnden Personen in der Stadt stammten aus Rumänien. Sie waren nach Lausanne gekommen, um zu arbeiten und bettelten vor allem dann, wenn sie vorübergehend keine Arbeit fanden. Mit Betteln lässt sich pro Tag rund 10 bis 20 Franken verdienen. Das ist ein annehmbarer Verdienst. Man kann sich nun fragen, warum die Menschen aus Rumänien nach Westeuropa kommen, wie sie in ihren Ursprungsländern leben und warum sie bereits mit so wenig Geld zufrieden sind. Damit wären wir bei einem weiteren Unterrichtsfeld.
Armut ist auch heute ein vieldiskutiertes Thema. Zuwanderer aus Rumänien und Bulgarien gelten oft pauschal als „Armutsmigranten“. Klaus-Michael Bogdal spricht hingegen lieber von „Mobilität auf dem Niveau des untersten Arbeitssegments.“ (Bogdal 2011) Die Menschen aus diesen Ländern wollen arbeiten, verfügen aber über keine Ausbildung und finden deswegen oft nur schlecht bezahlte Gelegenheitsjobs. Dies hat seine Gründe in den spezifischen Lebenssituationen der Roma in Rumänien und Bulgarien. Hier geht es darum, mit konkreten Informationen zur Geschichte und Gegenwart der Roma in diesen Ländern zu zeigen, warum viele von ihnen als Angehörige der Unterschicht leben. Dies hat zunächst historische Gründe. Im Osmanischen Reich waren sie Leibeigene auf den großen Landgütern, nach der Befreiung im 19. Jahrhundert bildeten sie das Landproletariat. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg brachte die Industrialisierung Arbeit und soziale Aufstiegsmöglichkeiten. Nach dem Ende der Staatswirtschaft fielen die Jobs weg und eine Rückgabe von verstaatlichtem Besitz kam für die Roma nicht Frage, da sie als Leibeigene nie Landbesitz gehabt hatten. Deswegen leben bis heute viele von ihnen in Armut und können sich mangels Ausbildung auch in westeuropäischen Ländern nicht wesentlich verbessern.
Hilfreich kann es sein, auf die Rezeption der Armut in der Geschichte und Gegenwart zu verweisen. Auch aus Deutschland und der Schweiz wanderten im 19. Jahrhundert tausende Heimarbeiter und Kleinbauern nach Übersee aus, um dort Arbeit zu finden. Oft genug geschah dies unter Zwang, denn Armenunterstützung war teuer und Armut galt als weitgehend selbst verschuldet. Mit der Auswanderung sparte man nicht nur Kosten, sondern war auch die Armen los, die man als asozial einstufte. Die Folgen der Armut interpretierte man als ihre Ursache. Dies ist bis heute so geblieben, und wer solche Zusammenhänge kennt, wird anders urteilen. Lesenswert dazu ist die aktuelle Studie von Norbert Mappes-Niediek.
Wertschätzung gegen Vorurteil
Vorurteile und Menschenfeindlichkeit basieren oft auf jahrhundertealten Zuschreibungen, die nie auf einzelne Menschen fokussieren, sondern immer auf eine Gruppe, die man pauschal beurteilt, ohne sich für die Menschen dahinter zu interessieren. Im Unterricht sollte deswegen auch darauf geachtet werden, dass Sinti, Roma und Jenische ganz einfach als das wahrgenommen werden, was sie sind: als Menschen, die hier leben und die wie alle Menschen dieselben Rechte und Pflichten haben. Und die wie alle Menschen und Familien ihre individuelle Geschichte und Kultur besitzen, egal, ob sie Deutsche, Schweizer oder Bürger eines anderen EU-Landes sind. Und wenn wir als Lehrerinnen und Lehrer das Glück haben, bei einer Familie einen Einblick in ihren Alltag und in ihre Geschichte zu bekommen, so nehmen wir diese Gelegenheit mit unseren Schülerinnen und Schülern mit dem nötigen Respekt gerne wahr. Denn eigentlich sind wir ja neugierig auf Unterschiede und Gemeinsamkeiten, auf Schicksale und Perspektiven. Wen man kennt, den schätzt man.
Literaturhinweise
Alte Feuerwache e.V. Jugendbildungsstätte Kaubstraße (Hrsg.): Methodenhandbuch zum Thema Antiziganismus für die schulische und außerschulische Bildungsarbeit, Münster 2012.
Klaus Michael Bogdal. Europa erfindet die Zigeuner. Eine Geschichte von Faszination und Verachtung. Frankfurt a.M. 2011.
Bernhard C. Schär, Béatrice Ziegler (Hrsg.). Antiziganismus in der Schweiz und in Europa. Geschichte, Kontinuitäten und Reflexionen. Zürich 2014.
Sara Galle, Thomas Meier. Die „Kinder der Landstrasse“ in Akten, Interviews und Reportagen. Ein Arbeitsheft für den Unterricht an Mittelschulen und Fachhochschulen. Zürich 2010.
Sara Galle, Thomas Meier. Von Menschen und Akten. Die Aktion „Kinder der Landstrasse“ der Stiftung Pro Juventute. Zürich 2009 (mit DVD).
Das von Gerhard Baumgartner herausgegebene Lehrmittel www.romasintigenocide.eu bietet umfangreiche Lernaufgaben zum Genozid an Sinti und Roma.
Das Dossier Sinti und Roma in Europa der Bundeszentrale für politische Bildung bietet einen sehr guten thematischen Überblick über Geschichte und aktuelle Fragen zu Sinti und Roma.
Norbert Mappes-Niediek. Arme Roma, böse Zigeuner. Was an den Vorurteilen über die Zuwanderer stimmt. Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung Bd. 1385, 2014. Inhaltsverzeichnis und Einleitung auf der Webseite der BpB.
Vorurteile. Informationen zur politischen Bildung (Heft 271), hrsg. von der Bundeszentrale für politische Bildung.
Der Bildungsserver Berlin-Brandenburg bietet eine aktuelle Übersicht über verfügbare Unterrichtsmaterialien zu Sinti und Roma in Deutschland und gibt weitere Hinweise auf Quellen und Dokumentationen.
Informationen zu Schweizer Fahrenden bietet die kürzlich publizierte Website der Stiftung „Zukunft für Schweizer Fahrende“.
Homepage des Historikers Thomas Huonker zu Geschichte und Gegenwart der Jenischen in der Schweiz: http://www.thata.ch.
E-Newsletter für die deutschsprachigen Länder der Gedenkstätte Yad Vashem zum Genozid an Sinti, und Roma, 21. Mai 2014.
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- 18 Jun 2014 - 06:51