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NS-Verbrechen und Staatssicherheit

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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Henry Leide (Jg. 1965) ist Mitarbeiter in der Außenstelle Rostock des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik. Veröffentlichung: Henry Leide: NS-Verbrecher und Staatssicherheit. Die geheime Vergangenheitspolitik der DDR.

Von Henry Leide

Dem offiziellen Geschichtsbild zufolge war die Ahndung von NS-Verbrechen in Ostdeutschland eine reine Erfolgsgeschichte. Noch 1979 heißt es dazu in einer DDR-Publikation: „Kein einziger Naziverbrecher, dem es bis heute gelungen sein sollte, unentdeckt zu bleiben, kann sich in der DDR sicher fühlen.“ Im Ergebnis meiner Studien muss ich konstatieren, das dies so nicht zutraf und es erhebliche Widersprüche zwischen Anspruch und Wirklichkeit gab.

Ab Mitte der sechziger Jahre wurde das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) für die strafrechtliche Verfolgung von NS-Verbrechern allein zuständig. Zuvor waren bereits tausende Deutsche als Nazi- und Kriegsverbrecher von sowjetischen Militärtribunalen verurteilt worden. Hinzu kommt, das deutsche Gerichte in der SBZ bis 1950 NS-Täter auf Grundlage des Befehl Nr. 201 der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) verfolgt hatten. Hauptinhalt jenes Befehls waren die Forderungen nach einer beschleunigten Durchführung und Beendigung der Entnazifizierung und die Eingliederung nichtbelasteter Parteigenossen in die neue „antifaschistisch-demokratische Ordnung“. Dies korrespondierte mit dem Interesse der SED, welche darauf abzielte, die Millionen ehemaligen Hitler-Anhänger (circa 1,5 Millionen NSDAP Mitgliedern auf dem Territorium der SBZ/DDR) für den Aufbau des neuen Staates zu gewinnen und in die ostdeutsche Nachkriegsgesellschaft zu integrieren. Der Volksmund brachte dies auf die ebenso knappe wir präzise Formel: „Die SED – der große Freund der kleinen Nazis“.

Allerdings wurde der Befehl von Anfang an auch politisch instrumentalisiert und zur Verfolgung politischer Gegner sowie für Enteignungen im Zusammenhang mit der Implantierung eines neuen Gesellschaftssystems benutzt. Trauriger Höhe- und Endpunkt dieser frühen Phase der Strafverfolgung waren die berüchtigten „Waldheimer Prozesse“ von 1950. Diese Prozesse sind eine reine Karikatur justizieller Rechtsfindung gewesen und führten zu dem paradoxen Ergebnis, dass selbst wirkliche NS-Verbrecher nicht wegen ihrer tatsächlichen Taten verurteilt wurden, sondern aufgrund der DDR-üblichen Pauschaltatbestände. Nach Waldheim betrachtete die SED das NS-Verbrecherproblem in der DDR als weitgehend gelöst. Gleichwohl dienten die drakonischen Urteile als Aufforderung zur Loyalität und waren als Warnung für Kritiker jeglicher politischer Couleur zu verstehen.

Was  überrascht ist die Tatsache, dass Ende 1956 nur noch wenige dieser Verurteilten inhaftiert waren. Die Mehrzahl hatte inzwischen von Amnestien, Gnadenentscheidungen oder Straferlassen profitiert. Unter den Freigelassenen befanden sich aber oft nicht die Opfer der willkürlichen Kriminalisierung, sondern zuvor mit strengsten Strafen belegte tatsächliche NS-Täter. Wie zum Beispiel Hans Müller, der 1951 wegen seiner Beteiligung an der Deportation der Breslauer Juden zu einer lebenslänglichen Haftstrafe verurteilt worden war. Oder der 1952 zu einer lebenslänglichen Haftstrafe verurteilte Richard von Hegener, einer der Verantwortlichen für die Kinder-Euthanasie.

Zwischen 1951 und 1989 kam es nur noch zu weiteren 736 Verteilungen wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die Staatssicherheit bearbeitete bis 1989 lediglich 165 dieser NS-Gerichtsfälle. Dabei waren die rechtlichen Möglichkeiten für eine breite Ahndung von Kriegsverbrechen und nationalsozialistischen Gewaltverbrechen in der DDR ungleich einfacher als in der Bundesrepublik, wo ab 1960 nach der Verjährung für NS-Totschlagdelikte nur noch Mord (und Beihilfe dazu) strafbar waren, wenn die sogenannten Mordmerkmale nachgewiesen werden konnten.

Es wurde in der DDR eine Fassade vermeintlich konsequenter Strafverfolgung errichtet, hinter der ein hochgradig instrumentelles Spiel verborgen blieb: Bei den in die Öffentlichkeit gehobenen Fällen handelte es sich oft um Vorzeigeprozesse, die vor allem dazu dienten, sich im Vergleich zur bundesdeutschen Justiz zu profilieren. So endeten die Verfahren meist mit hohen Haftstrafen oder der Todesstrafe und spiegelten somit eine konsequentere Verfolgung vor. Oftmals wurden derartige Verfahren notwendig, weil DDR-Bürger im Zuge westdeutscher Ermittlungsverfahren als NS-Täter enttarnt zu werden drohten. War durch Prozesse jedoch ein Imageschaden für die DDR zu befürchten, vertuschte die Geheimpolizei entsprechende Belastungen. Selbst Schwerbelastete, die etwa in Frankreich rechtskräftig zum Tode verurteilt worden waren, sind gedeckt worden. Auf diese Weise wurde ein zählebiger Mythos am Leben gehalten: Bis heute gilt die angeblich konsequente Verfolgung von NS-Tätern durch das Ministerium für Staatssicherheit und die DDR-Justiz vielen als vorbildlich.

Dabei warb die Staatssicherheit offenbar ohne moralische Skrupel, insbesondere in den fünfziger Jahren, systematisch NS-Belastete in Ost und West als inoffizielle Mitarbeiter (IM) an. Die Grundlage dafür lieferten MfS-interne Richtlinien und Dienstanweisungen.

Die Werbungen erfolgten meist „auf der Basis der Wiedergutmachung“, das heißt aus Sicht des MfS tilgte die Bereitschaft zur Kooperation die Schuld aus der Vergangenheit. Oft diente das Wissen über die Vergangenheit aber schlicht als Erpressungspotential. Angeworben wurden durch alliierte Gerichte verurteilte Täter, SS-Männer, deren persönliche Tatbeteiligung an Gewaltverbrechen offenkundig war, Angehörige von Gestapo und SD sowie Personen, bei denen der Verdacht einer Beteiligung an Verbrechen zunächst Nachforschungen durch das MfS ausgelöst hatten, dann aber eingestellt wurden. Manchmal spielte bei der Entscheidung zur Anwerbung die „professionelle“ Berufserfahrung ehemaliger Gestapo- und SD-Leute eine Rolle oder sogar gemeinsame antiamerikanische oder antizionistische Überzeugungen.

Häufig waren die vom MfS verwahrten rund 11 Kilometer NS-Akten Ausgangspunkt für derartige Anwerbungen. Der Leiter des NS-Archivs des MfS sagte dazu: „Das ist eine ganz normale Sache. Wer über die Akten verfügt, hat Herrschaftswissen, und wer über die Akten des ehemaligen Gegners verfügt, hat es erst recht.“

Schon die enorme Anzahl der gehorteten Akten und andererseits die geringe Anzahl der auf Ermittlungen des MfS basierenden Verurteilungen belegen, dass dem schier schrankenlosen Aktenhunger des MfS kein gleichrangiges Verfolgungsinteresse  gegenüberstand. Vielmehr dienten die Aneignungen von Archivalien innerhalb der DDR und die Komplettverfilmungen ausländischer Bestände dem Bedürfnis alles und jeden zu kontrollieren. Keine dieser Akten oder Mikrofilme stand anderen staatlichen Institutionen oder der Forschung frei zur Verfügung.

Die Verurteilung eines in der DDR festgestellten NS-Täters, und das muss betont werden, war weder die Regel noch die unvermeidliche Konsequenz bei der Entdeckung einschlägiger Archivdokumente. Die Gesamtdimension möglicher strafrechtlicher Belastungen bei DDR-Bürgern schälte sich jedoch erst Ende der 60er Jahre heraus, als das MfS selbst systematische Recherchen zu einer Reihe von Verbrechenskomplexen und den darin involvierten Einheiten anstellte. Und sich im Ergebnis dieser Aktion abzeichnete, dass es auch in der DDR ein ernst zu nehmendes NS-Täterproblem gab. Mit erstaunlicher Regelmäßigkeit stieß man in der Folgezeit auf Dutzende Angehörige der betreffenden Einsatzkommandos, Polizeibataillone usw., die in der DDR lebten. Es ist davon auszugehen, dass dem MfS gegen Ende der DDR mindestens eine ca. vierstellige Zahl von Personen namentlich bekannt war, gegen die zumindest ein Anfangsverdacht auf ein Verbrechen aus NS-Zeiten vorlag. In dieser Zeit schraubte das MfS die Anforderungen für die Eröffnung eines förmlichen Ermittlungsverfahrens so hoch, dass jährlich nur etwa ein bis zwei Verfahren diese Hürde nahmen. Eine Verurteilung blieb dadurch fast ausschließlich jene Täter beschränkt, bei denen eine lebenslängliche oder Todesstrafe aufgrund der Tatschwere, der Beweislage, der Prozessfähigkeit des Beschuldigten praktisch garantiert war. Außerdem sollte die These des bedauerlichen Einzeltäters, der es geschickt verstanden hatte, sich in der DDR Gesellschaft zu tarnen, aufrecht erhalten bleiben, und es durfte im Falle einer Verhaftung keine innen- oder außenpolitischen Komplikationen geben. War auch nur eines dieser Kriterien unsicher, sah die Staatssicherheit von der Verfahrenseröffnung ab und beließ es bei den üblichen geheimdienstlichen Observationen. Bis heute ist nicht exakt zu ermessen, wie viele NS-Verbrecher aufgrund dieser Praxis von Strafverfolgung verschont blieben.

Im Gegensatz dazu versuchte die Staatssicherheit, SED-Kritiker, darunter Überlebende von Konzentrationslagern und Widerstandskämpfer, als vermeintliche Gestapospitzel zu denunzieren, sie zu kriminalisieren und damit ihre herausragende moralische Integrität zu zerstören. Auch in Anbetracht des Schicksals dieser Menschen ist das Verhalten der als "Schwert und Schild der Partei" agierenden Geheimpolizei ebenfalls kaum mit dem offiziell verkündeten Antifaschismus der DDR in Einklang zu bringen.

Der Antifaschismus war in der Praxis der Staatssicherheit nicht primär darauf gerichtet, NS-Taten zu verfolgen und Verbrechen zu sühnen, sondern den Hauptfeind, die Bundesrepublik, zu bekämpfen. In der Praxis der Staatssicherheit entpuppt sich der DDR-Antifaschismus als instrumentelles Kampfprogramm in der deutsch-deutschen Systemkonkurrenz. Eine konsequente Ahndung von NS-Verbrechen, wie sie die DDR für sich beanspruchte, blieb dabei in Wirklichkeit auf der Strecke.

 

 

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