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Verdrängte Schuld und halbherzige Politisierung

Die Shoa in der Erinnerungskultur der DDR - und in den privaten Erinnerungen eines Zeitgenossen.

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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Christoph Ehricht (Jahrgang 1950), Theologiestudium in Greifswald, danach wiss. Assistent im Fach Kirchengeschichte an der Univ. Greifswald, Gemeindepfarrer in Gützkow. Seit 1984 Mitglied des Greifswalder Konsistoriums und im Ausschuss „Kirche und Gesellschaft“ des DDR-Kirchenbundes. Von 1999-2002 Auslandspfarrer in St. Petersburg, zur Zeit Oberkirchenrat im Landeskirchenamt der Nordkirche in Kiel.

Von Christoph Ehricht

Geboren ein Vierteljahr nach Gründung der DDR habe ich knapp zwei Drittel meines bisherigen Lebens in diesem eigenartigen deutschen Staatsgebilde verlebt, das ich im damaligen Erleben und auch in der nachträglichen Erinnerung immer als Stiefkind der deutschen Geschichte empfunden habe und empfinde, mit all den Gefühlen besonderer Intensität, die man einem Stiefkind zuwendet. Bis heute ertappe ich mich dabei, innerlich einerseits alle plakativen und pauschal-undifferenzierten Urteile über die DDR zurückzuweisen, andererseits nicht in die Falle des „es war ja nicht alles schlecht“ geraten zu wollen. Am Ende hat es „die“ DDR gar nicht gegeben, sondern eine trotz oder wegen verordneter Uniformität sehr plurale und vielschichtige Gesellschaft, die sich in den vier Jahrzehnten ihres erzwungenen Bestehens auch erstaunlich verändert hat und in der die Nischen, von denen Günter Gaus einmal in einer klugen Beobachtung gesprochen hat, den öffentlichen Raum mal mehr, mal weniger geprägt haben. 

An einer Stelle hat sich in mir gleichwohl das Gefühl großen Ärgers im Erleben und im Erinnern durchgehalten: die behauptete antifaschistische Grundausrichtung der DDR hatte ein unüberwindbares Glaubwürdigkeitsproblem durch eine verzerrte oder halbherzige Darstellung der Judenvernichtung im Dritten Reich und durch ihre nicht wirklich überzeugende Positionierung zum Antisemitismus. Wenn es eine Auseinandersetzung darüber gab, dann folgte sie dem Ansatz aus der Schrift von Karl Marx „Zur Judenfrage“, der die Judenemanzipation als Klassenfrage beschrieb und damit – wenn überhaupt – nur einen sehr kleinen Teil des Problems erfasste.

Noch etwas kam hinzu: „Die antifaschistische Staatspropaganda verurteilte zwar die Judenverfolgung, gedachte aber nur jener Opfer der Hitlerjahre, die auf kommunistischer Seite gestanden hatten; denn es  ging nicht um Trauer und Schuldbewusstsein, sondern um gegenwärtige Politik. Das jüdische Eigentum, das die Nationalsozialisten verstaatlicht hatten, wurde ohne Skrupel als zum sozialistischen Staat gehörend betrachtet und an Wiedergutmachung nicht gedacht. Da die Schuldigen an der Judenverfolgung nach offizieller Lesart alle im Westen saßen, war im neuen Deutschland, wo Optimismus und Zukunftsglaube gefordert wurden, nicht Erinnerungs- sondern Verdrängungsleistung gefordert.“ Mit diesem Urteil erinnert sich Günter de Bruyn in seinem Lebensbericht „Vierzig Jahre“ (erschienen 1996 im S.Fischer Verlag, dort S. 22) an eine Erinnerungskultur in der DDR, die sich schwer tat – um es zurückhaltend zu formulieren – mit dem Thema Holocaust.  Er hat recht, es gibt hier keine oder allenfalls nur sehr wenige aufhellende Striche in ein trauriges und dunkles Bild zu zeichnen. 

Auch ich bin wie gesagt in dieser „Verdrängungswelt“ aufgewachsen, zunächst in den fünfziger Jahren bestimmt von einer Tabuisierung nicht nur des Völkermordes an den Juden, sondern der Themenfelder Judentum und Antisemitismus insgesamt, später in den sechziger Jahren zunehmend beherrscht von einer ungezügelten antiisraelischen Propaganda unter dem Schlagwort „Antizionismus ist kein Antisemitismus, sondern Antiimperialismus“. 

Jetzt beim Nachdenken darüber vermischen sich wie stets Erinnerungen und Reflexionen. Ich will gleichwohl versuchen, einige Erlebnisse und meine heutigen Gedanken darüber mitzuteilen, um einige Akzente zu setzen, die der vergangenen DDR-Wirklichkeit konkretere Konturen durch persönliches Erinnern geben können. 

Eben beim Aufschreiben des Wortes Tabuisierung ging mir durch den Sinn, dass die offizielle DDR-Erinnerungskultur damit natürlich nicht alleine stand. Neben der gesamtdeutschen Schuldverdrängung mag in der frühen DDR-Gesellschaft auch die Angst vor aktuellen Repressionen eine Rolle gespielt haben, genährt zum Beispiel durch den letzten großen Schauprozess der Stalin-Ära gegen die „Ärzte-Verschwörung“, der auf dem Hintergrund des unverhohlen antisemitischen Kampfes gegen den „Kosmopolitismus“ geführt wurde. So wurde auch in meinem gut christlich-bildungsbürgerlichen Elternhaus noch in den ersten anderthalb Nachkriegsjahrzehnten unwillkürlich die Stimme gesenkt, wenn von Juden oder vom Jüdischen die Rede war. Lange konnte sich so auch in diesem Milieu fortsetzen, was ein bleibender Grund zu tiefer Beschämung für die Kirche bleibt: die so genannte Stuttgarter Schulderklärung von 1945 benennt mit keinem Wort die Verbrechen an den Juden. was nebenbei gesagt von den Vertreter/innen der Weltchristenheit, an die die Erklärung gerichtet war, offenbar auch nicht erwartet wurde! Zu denken gibt mir auch, dass in meinem Elternhaus – beide Eltern hatten in den dreißiger Jahren am Leipziger Konservatorium studiert – die Musik von Mendelssohn oder Mahler nicht vorkam. Eine unbewusste Verdrängung, die noch lange nachwirkte: eine neutestamentliche exegetische Arbeit von mir mag ich heute gar nicht mehr anschauen, weil ich unbedacht wie Generationen vor mir das Judentum zur Zeit Jesu als „Spätjudentum“ deklarierte, so, als ob danach nichts mehr gekommen wäre. 

Immerhin, schon als Zehnjähriger, am Ende der fünfziger Jahre bin ich das erste Mal gezielt auf die Verbrechen an den Juden in der Hitlerzeit gestoßen. Anlass war der Defa-Film „Professor Mamlock“ nach dem Drama von Friedrich Wolf, der unter der Regie seines Sohnes Konrad in meiner Heimatstadt gedreht wurde und sogar in meiner unmittelbaren Nachbarschaft in einem Haus, das wir Kinder seitdem die „Villa Mamlock“ nannten. Die Geschichte des jüdischen Arztes Mamlock, der den Ernst der Lage nicht wahrhaben will und am Ende zum Opfer der NS-Politik und ihrer Handlanger in seinem unmittelbaren Kollegenkreis wird, bewegte mich. Die auf den Strassen gedrehten Massenszenen mit SA-Trupps, „Deutschland erwache“ – Rufen und verängstigten Menschen mit einem gelben Stern am Mantel verfolgten mich in nächtliche Träume.  Auch im schulischen Deutschunterricht wurde das Drama behandelt, natürlich – ganz im Sinne des Autors – als Mahnung zu rechtzeitigem Widerstand gegen das Böse und zum Schmieden von Bündnissen und einer breiten antifaschistischen Volksfront, aber eben doch durchaus mit den unerlässlichen Hintergrundinformationen über die Rassengesetzgebung und die Vernichtungsmaschinerie der Konzentrationslager. Die „Nürnberger Gesetze“ übrigens wurden uns ausführlich erläutert zur Unterfütterung der etwa zur gleichen Zeit laufenden großen Kampagne gegen einen Staatssekretär der Bundesregierung, der als Kommentator dieser Gesetze entlarvt worden war: die Täter saßen wie gesagt alle im Westen… 

Aber nicht vergessen werden darf auch, dass zum Unterrichtsstoff schon in der frühen DDR-Zeit das Tagebuch der Anne Frank ebenso gehörte wie Johannes R. Bechers „Die Kinderschuhe von Lublin“, weitere Defa-Filme wie „Sterne“ oder die Verfilmung von „Nackt unter Wölfen“ – nein, mit Beginn der sechziger Jahre nimmt die Beschäftigung mit dem Thema Holocaust durchaus zu. Ich bin mir allerdings im Nachhinein nicht sicher, ob wir Kinder wussten und ob es uns mit Nachdruck vermittelt wurde, was der Hintergrund des Buchenwald-Romans von Bruno Apitz war! Das Thema Holocaust wird nun freilich zunehmend überlagert von der aktuellen Israel-Problematik. Die von mir schon erwähnte Parole macht ja deutlich, dass die Propagandisten sich des Heiklen einer Verurteilung Israels durch Medien und Politiker deutscher Zunge durchaus bewusst waren. Zu einer Besinnung und einer differenzierteren Beurteilung hat dies dennoch bis zum Ende der DDR nicht geführt. 

Zu meinen Erinnerungen gehört auch, dass ich als Oberschüler in der elften Klasse eine größere Hausarbeit im Fach Erdkunde über „Israel“ geschrieben habe – und damit die Lehrerin vor ziemliche Probleme stellte. Der Weg bis zur Staatsgründung und die Unabhängigkeitskriege gehörten natürlich ebenso wenig zum regulären Unterrichtsstoff wie eine Würdigung der Kibbuz-Bewegung und des Einflusses der Gewerkschaften oder auch der Beitrag Israels zur Weltkultur und seine ökonomische Leistungsfähigkeit. Abgabetermin der Arbeit war Anfang Juni1967 und ich sehe noch den Satz in der sonst erstaunlich positiven und also mutigen Beurteilung der Lehrerin vor mir: „Bedenken Sie Ihre Darstellungen noch einmal angesichts der jüngsten Aggression Israels“. Seitdem wurde penetrant von Israel nur noch mit dem Zusatz „Aggressorstaat“ berichtet. Zwanzig Jahre später war ich beteiligt an einer Beschlussfassung der Landessynode meiner Heimatkirche zur Neubestimmung des Verhältnisses von Christen und Juden. In dem Beschluss stand auch: Die Synode appelliert an die Medien der DDR, differenziert und sachlich über die aktuellen Vorgänge in und um Israel zu informieren. Zuerst gab  es empörte Reaktionen der staatlichen Kirchenbeauftragten, die als Gäste an den Synoden teilnahmen, wenig später jedoch hinter der vorgehaltenen Hand die Bemerkung: vielleicht war es gar nicht verkehrt. 

Das fiel nun schon in die Endzeit der DDR, als sich – aus welchen Gründen auch immer - eine kleine Öffnung zum jüdischen Weltkongress, zur Jewish Claims Conference und auch zum Staat Israel abzeichnete. Das Gedenken an die Pogrome der „Reichskristallnacht“ vor fünfzig Jahren wurde vielerorts gemeinsam von Kirchen- und kommunalen Gemeinden gestaltet und fand auch in den Medien Widerhall. Die viele Tabus aufbrechenden Bücher von Helmut Eschwege, Rosemarie Schuder und Heinz Knobloch fanden „offizielle“ Beachtung wie auch die Filme von Roza Berger-Fiedler. In einer Kreisstadt meiner Heimatregion hat der kirchliche Arbeitskreis „Christen und Juden“ zum „Kristallnacht“-Gedenken eine Stele an der Stelle errichtet, wo bis 1938 die kleine Synagoge stand. An der Einweihung nahmen auch die kommunalen Repräsentanten teil und ich erinnere mich an ihre schweigende Betroffenheit, als wir in den Gedenkreden an die bleibende Schuld gegenüber den Juden erinnerten, die Schuld der Täter, der Mitläufer und der Wegseher und die Schuld, die entsteht, wenn wir die Masken nicht herunterreißen, hinter denen sich neuer Antisemitismus verbirgt.

War die DDR schuld am Erstarken des Rechtsradikalismus in Deutschland nach der Wiedervereinigung? Ich denke, es gibt in der Geschichte keine monokausalen, ungebrochenen Wirkungslinien. Gewiss hat der verordnete Antifaschismus in der DDR-Erinnerungskultur vielen unterschwelligen, dumpfen Gefühlen einen Nährboden bereitet. Gewiss ist mir aber vor allem, dass unehrliche Halbherzigkeit und gefühllose Politisierung immer schlimme Folgen haben, nicht nur, aber besonders auch im Verhältnis zu den Juden und unserer deutschen Geschichte mit ihnen.

Noch beunruhigender empfinde ich freilich, dass inzwischen manche Beurteilungsmuster aus DDR-Zeiten im Verhältnis zu Israel im Mainstream der Medien und der politischen Klasse wiederauferstehen. Gelegentlich sagen mir meine israelischen Freunde: „Denkst du, wir litten nicht unendlich unter den Spannungen, Konflikten und dem Unrecht? Aber Urteile oder Ratschläge in deutscher Sprache können wir nur schwer hören.“ Ich kann das nur respektieren und hoffe, dass die Erinnerungskultur im geeinten Deutschland uns alle zu diesem Respekt führt.

 

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