Toleranz und respektvolles Miteinander – Ein Leitfaden für kultursensible politische Bildung
Unter Projektleiter Yılmaz Kahraman wurde im Rahmen eines kultursensiblen gegen Diskriminierung und Vorurteile angelegten Projekts eine Handreichung für Lehrer/innen und pädagogische Fachkräfte erstellt, die umfangreiche thematische Einblicke und praxisorientierte Hilfestellungen zu Salafismus, türkischem Nationalismus, Antiziganismus und Antisemitismus bietet.
Von Patsy Henze
Im Rahmen des Projekts „Zeichen setzen! Für gemeinsame demokratische Werte und Toleranz bei Zuwanderinnen und Zuwanderern“ wurde 2013 die Handreichung „Zeichen setzen“ erarbeitet und liegt nun als Veröffentlichung der Alevitischen Gemeinde Deutschland e.V. vor. Der Leiter Yılmaz Kahraman und die Projektgruppe bieten damit einen umfangreichen pädagogischen Leitfaden, der sich insbesondere für kulturell heterogene Gruppen anbietet. Der Schwerpunkt liegt auf der Arbeit mit türkeistämmigen und muslimischen Jugendlichen. Der Leitfaden bietet Einblick in vier thematische Bereiche: Salafismus, türkischer Nationalismus, Antiziganismus und Antisemitismus. Den größten Teil der Handreichung machen dabei umfangreiche Beschreibungen der jeweiligen Phänomene aus, was angesichts der letztendlich doch recht eigenständigen Themen durchaus angemessen ist. Anschließend wird zu jedem Teilbereich auf Möglichkeiten der Bearbeitung in Schule und pädagogischer Arbeit eingegangen.
Salafismus
Salafismus in Deutschland wird zunächst als vorhandenes Problem skizziert, welches allerdings unbedingt von dem Alltag der meisten Muslime und Muslimas in der Bundesrepublik getrennt werden muss. Insbesondere bei türkischen und muslimischen Jugendlichen muss also auf einen Umgang mit dem Thema Wert gelegt werden, der ihre spezifischen, je individuellen Erfahrungshorizonte und Hintergründe berücksichtigt und wertschätzt. Eine zentrale Leitlinie ist gemäß der Handreichung also, die Wir-Ihr-Debatte abzuschaffen. Es soll eine Atmosphäre geschaffen werden, in der voneinander gelernt anstatt auf „das Andere“ geblickt wird. Mit Ansätzen Ahmad Mansours soll eine Verunsicherungspädagogik probiert werden, mit der eigene Vorurteile aller Diskussionsteilnehmer/innen überprüft werden, indem die Schüler/innen dazu gebracht werden, sie auszuformulieren und konsequent zu Ende zu denken. Auch tagespolitische und historische Themen werden konkret als Beispiele benannt Damit können sie im Unterricht direkt eingesetzt werden. Außerdem wird Unterrichtsmaterial angeboten, welches Mut machen soll, Neues in der pädagogischen und schulischen Arbeit auszuprobieren. Ein Aspekt, der sich durch den Leitfaden zieht, ist die Idee, in der Schule mehr Wissen über die islamische Religion zu vermitteln. Einerseits verhindert Wissen mitunter Vorurteile und kann einen selbstreflexiven Umgang mit diesen ermöglichen. Gleichzeitig entsteht in der vorliegenden Veröffentlichung der Eindruck, dass falsche Ausformungen des Islams gegenüber einer richtigen und gültigen, nämlich der weltoffenen und toleranten, verworfen werden sollen. Die ausschließlich positive Bezugnahme auf Religion im Allgemeinen unterstreicht diesen Eindruck. So heißt es weiter, das positive muslimische Vorbilder geschaffen und „Elemente des sunnitisch-schiitischen oder alevitischen Glaubens auch in anderen Fächern vermittelt werden“ sollen. Neben den sehr sinnvollen Darlegungen und pädagogischen Hilfestellungen zur Thematisierung von Salafismus mit muslimischen und türkeistämmigen Jugendlichen fehlt hier eine kritische Auseinandersetzung mit Religion im Allgemeinen. Es wird von einem „Fahrwasser salafistischer Gruppierungen“ gesprochen, in das Jugendliche nicht geraten dürfen. Inwiefern Religionen selbst derartige Vorstellungen fördern, wird nicht reflektiert. Auch die Berücksichtigung von Religion als historischem Mittel zur Unterdrückung individueller und insbesondere sexueller Bedürfnisse sollte in der pädagogischen und schulischen Arbeit jedoch unbedingt behandelt werden.
Türkischer Nationalismus
In Bezug auf nationalistische Tendenzen unter türkeistämmigen Jugendlichen, die insbesondere einen türkeibezogenen „Ultranationalismus“ meinen, wird zunächst darauf hingewiesen, dass die teils pubertären Bedürfnisse nach Selbstdarstellung und Geltung in einem Klassenzusammenhang beachtet werden müssen. Hier kann Nationalismus psychisch eine Stellvertreterinnenrolle einnehmen. Nimmt man den Nationalismus gleichermaßen als solchen ernst, kann mit der von Pädagog/innen und Lehrer/innen teils als ausweglos wahrgenommenen Situation sinnvoll umgegangen werden. Insbesondere eine eingängige inhaltliche Information über türkischen Nationalismus ist dabei notwendig, um die Arbeit mit den Schüler/innen produktiv gestalten zu können. Ein neuer Zugang zu dem Thema bei den Jugendlichen kann durch Aufrufen ihrer eigenen Diskriminierungserfahrungen erreicht werden. Vielfach, so die Handreichung, werden von muslimischen und türkeistämmigen Jugendlichen vorurteilsbeladene Ideologien als Strategie angewandt, um mit eigenen Erfahrungen von Ausgrenzung umzugehen. Wie bereits beim Thema Religion, so wird hier ein wichtiger Aspekt außen vorgelassen, der für den Nationalismus verantwortlich ist. So ist der (Bezug auf einen) Nationalstaat selbst, welcher Nährboden für einen chauvinistischen Nationalismus bietet. Es fehlt hier eine Gleichzeitigkeit, insofern ein falscher Nationalismus verworfen wird um den Richtigen zu restaurieren. Es wäre wünschenswert, wenn pädagogische Handreichungen diese Haltung reflektieren würden, die ja keine ist, die allein türkischstämmige Jugendliche betrifft
Antiziganismus und Antisemitismus
Als Diskriminierungen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit werden Antiziganismus und Antisemitismus angeführt. Antiziganismus wird dabei allgemeiner für die Bundesrepublik behandelt, während Antisemitismus mit Schwerpunkt auf muslimische Jugendliche betrachtet wird.
In Bezug auf Antiziganismus (oder Rassismus gegen Roma) wird ein dreiteiliger Umgang vorgeschlagen, in dem zunächst Selbstkritik auf dem Programm steht: Der/Die Lehrer/in soll sich demnach selbst fragen, welche Assoziationen er/sie zuerst mit Sinti und Roma hat und inwiefern sich bereits darin Wissenslücken ausdrücken. Entsprechend ist der zweite Schritt, sich intensiv Wissen anzueignen und dieses an die Schüler/innen zu vermitteln. Das bedeutet, sich mit Kulturen und Sprachen von Sinti und Roma auseinanderzusetzen und insbesondere zu verstehen, dass die Diversität in diesen Gruppen keiner Pauschalisierung standhält. Hilfreich ist hier, dass sehr viele konkrete Methoden und Verweise auf bestehende Unterrichtsmaterialien geboten werden. Gerade bei diesem häufig unterbelichteten Thema ist dies besonders wichtig. Die Behandlung von Antisemitismus legt einen Schwerpunkt auf die Arbeit mit muslimischen Schüler/innen. Nach einer Selbstanalyse, also der Reflexion über eigene antisemitisch grundierte Haltungen von Pädagog/innen wird Wert darauf gelegt, mit den Erfahrungen genauso wie den elterlich vermittelten Deckerfahrungen der Jugendlichen sensibel, wenn auch kritisch umzugehen. Diese beziehen sich aktuell meistens auf den Nahost-Konflikt, aus dem ein bedeutender Teil des Hasses auf Juden und Jüdinnen unter manchen muslimischen Jugendlichen in Deutschland genährt wird. Auch bei diesem Thema empfiehlt es sich darüber hinaus, auf mögliche Diskriminierungserfahrungen der muslimischen Jugendlichen zu achten. Inhaltlich empfiehlt die Handreichung, zunächst den Holocaust und die Geschichte der Judenverfolgung mitsamt der antijüdischen Stereotype intensiv zu behandeln. Darauf aufbauend muss die Unterschiedlichkeit und die Vielfalt des Judentums und der Juden und Jüdinnen hervorgehoben werden. Erst vor diesem Hintergrund sollte man sich mit dem Nahost-Konflikt beschäftigen, der dann vor einem anderen, besser informierten Hintergrund geschehen kann. Darüber hinaus ist es sinnvoll, mit jüdischen Orten und Juden und Jüdinnen selbst in Kontakt zu treten, also Projektionen mit der Realität zu konfrontieren. Es stellt sich allerdings die Frage, ob Jugendliche erst, ihnen möglicherweise nicht bekannte, antijüdische Stereotype lernen sollten, um diese dann pädagogisch zu dekonstruieren. Auch zum Thema Antisemitismus mit einem Schwerpunkt auf dessen Behandlung mit muslimischen Jugendlichen werden zahlreiche konkrete Unterrichtsmaterialien und methodische Vorschläge gegeben. Etwa eine Beispielaufgabe, die sich mit dem medial falsch eingeschätzten Angriff auf Tuvia Grossmann beschäftigt. Ähnlich wie beim Thema Antiziganismus soll den Jugendlichen die Kompetenz vermittelt werden, kritisch mit Verschwörungstheorien und medialen Darstellungen im Allgemeinen umzugehen.
Fazit
Die Handreichung „Zeichen setzen“ ist für die pädagogische Arbeit und den schulischen Unterricht äußerst hilfreich und sollte in der konkreten Umsetzung Beachtung finden. Die umfangreichen Einführungen zu den einzelnen Themenschwerpunkten bieten gute Voraussetzungen für Lehrer/innen, ihren Unterricht vorzubereiten. Gleichermaßen dankenswert sind die praxisorientierten didaktischen und methodischen Zugänge, die angeboten werden. Darüber hinaus finden sich informative weiterführende Links und Quellenverweise. Die Handreichung bleibt gleichzeitig teilweise in der Problematik des Toleranzbegriffs selbst verhaftet. So soll eine „Anerkennungspädagogik etabliert“ werden, die in dem vorliegenden Leitfaden teilweise nach einem unvoreingenommenen und liebevollen Abnicken klingt und weniger nach einer Auseinandersetzung, die das Gegenüber in seinen Anliegen und Ansichten ernst nimmt. Zusätzlich, womöglich geprägt durch die Herausgeberin, wird Religion einigermaßen unkritisch behandelt, wo es doch an zahlreichen Stellen sinnvolle Anknüpfungspunkte hätte geben können. „Zeichen setzen“ kann also durchaus direkt in den Unterricht übernommen werden, sofern die Kompetenz kritisch mit Medien umgehen zu können, auch hier von Pädagog/innen und Lehrer/innen selbst zum Tragen kommt.
Literatur
Alevitische Gemeinde Deutschland e.V. (Hrsg.): Zeichen Setzen für gemeinsame demokratische Werte und Toleranz. Eine pädagogische Handreichung zum Umgang mit Salafismus, türkischem Ultranationalismus, Antisemitismus und Antiziganismus unter besonderer Berücksichtigung der Situation unter türkeistämmigen MigrantInnen. Köln 2013. Online-Version: http://alevi.com/de/wp-content/uploads/2013/12/Webversion_Pädagogische-...
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- 19 Feb 2014 - 08:53