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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel Sie müssen angemeldet sein, um das Benutzerprofil zu sehen |
Lea Wohl-von Haselberg
Der Begriff vom radikal Bösen geht eigentlich auf Kant zurück. Hannah Arendt griff ihn in Zusammenhang mit der Shoah auf und verstand darunter „das, was nicht hätte passieren dürfen“. Ihre Überlegungen zum radikal Bösen gehen dem später im Zusammenhang mit dem Eichmannprozess in Jerusalem entwickelten Begriff der Banalität des Bösen voran.
Stefan Rutzowitzky, der sich in seinem oscarprämierten Film "Die Fälscher" (2007) mit nationalsozialistischen Vernichtungslagern und dem Überleben einer kleinen, an einer nationalsozialistischen Geldfälschungsaktion beteiligten Gruppe von Häftlingen beschäftigte, wendet sich in seinem neuen Film "Das radikal Böse" von einer opferzentrierten Auseinandersetzung ab und stellt die Täter in den Mittelpunkt. Aus einer psychologischen Perspektive versucht er sich in seinem ersten Dokumentarfilm der Frage zu nähern, wie ‚normale‘ junge Männer zu (Massen-)Mördern werden konnten. Die Gratwanderung, die dem Film letztlich gelingt, ist die, gleichzeitig eine Erklärung zu liefern und die daraus fast automatisch resultierende Entschuldung der Täter und ihrer Verbrechen zu vermeiden. Dabei unternimmt Das radikal Böse zwei innerhalb des deutschen Diskurses um die Auseinandersetzung mit dem NS bemerkenswerte Wendungen: Erstens die Zuwendung zu den Tätern und zweitens der Brückenschlag zu unserer (politischen) Gegenwart.
Die Auseinandersetzung mit Tätern geschieht ohne auf individuelle Biografien einzugehen oder das Wachpersonal nationalsozialistischer Vernichtungslager oder SS-Täter in den Mittelpunkt zu stellen. Stattdessen macht Das radikal Böse die Massenerschießungen in Osteuropa zum Gegenstand. Damit löst sich der Film von der im deutschen Erinnerungsdiskurs dominanten Fokussierung auf Opfer, wie sie auch in zeitgenössischen wissenschaftlichen Publikationen wie "Gefühlte Opfer" (Ulrike Jureit und Christian Schneider, 2010) oder"Das Unbehagen an der Erinnerung" (Margrit Frölich u.a., 2012) thematisiert wird. Er versucht einen differenzierten Blick auf die Masse der Täter zu richten – im Gegensatz zum verbreiteten Fokus auf Verantwortliche der nationalsozialistischen Führungsebene – und stellt sich so, wenn auch nicht auf wissenschaftliche Weise, in die Traditionslinie vereinzelter Auseinandersetzungen wie Christopher Brownings Buch "Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die „Endlösung in Polen" (1993), der Wehrmachtsausstellung (1995) oder Raphael Gross differenzierter Auseinandersetzung in seiner Arbeit "Anständig geblieben. Nationalsozialistische Moral" (2010). Der häufigen Gleichsetzung der Shoah mit Vernichtungslagern wie Auschwitz, die mit der Konstruktion einer diabolischen aber eher kleinen Tätergruppe einhergeht, wird die Tatsache entgegengestellt, dass nach 1941 fast zwei Millionen Jüdinnen und Juden in Osteuropa systematisch durch deutsche Einsatzgruppen erschossen wurden.
Der Film besteht aus drei unterschiedlichen Elementen, die den in vielen Filmkritiken als essayistisch beschriebenen Eindruck bewirken: Zitate aus Briefen und Egodokumenten sowie Auszüge aus späteren Aussagen, die von bekannten Schauspielern wie Devid Striesow, Alexander Fehling oder Benno Fürmann gelesen werden und mit Aufnahmen unbekannter junger, in Uniformen gekleideter Schauspieler bebildert sind. Sie bleiben stumm und stellen das Gesprochene unterschiedlich abstrakt oder konkret dar. Die Farbigkeit sowie die Qualität der Bilder machen hier ganz deutlich, dass es sich um ein Reenactment handelt. Daneben kommen Psychologen und Historiker wie Père Desbois, Roy Baumeister, Christopher Browning oder Robert Jay Lifton zu Wort, die erklären, wie es aus ihrer Sicht dazu kommen kann, dass junge Männer zu solchen Taten fähig sind. Schließlich werden psychologische Experimente zitiert, die menschliches Verhalten in Extremsituationen und vor allem in Gruppen untersuchen, wie das Stanford- oder das Milgram-Experiment. Hier sind zum Off-Kommentar Inszenierungen dieser Experimente zu sehen, die zeigen wie Schauspieler auf einer requisitenlosen Bühne die Experimente nachstellen. Die Anonymität, die aus den unbekannten Gesichtern der Schauspieler und der völligen Abwesenheit von Namen resultiert, hebt hervor, dass es hier um die breite Masse an Tätern geht. Ein Ausweichen auf individuelle Biografien, die als bestialisch und böse dargestellt werden, wird hier unmöglich. Vielmehr ist es die psychologische Fragestellung des Films, die auf das ‚Menschliche‘ hinter den Taten abzielt: Es geht, wie der Regisseur auf der Premiere in Berlin sagte, leider nicht nur um Nazis, nicht nur um Deutsche, sondern um uns als Menschen. Mit dieser Allgemeingültigkeit, die eine Relativierung der Shoah dennoch zu vermeiden sucht, gelingt es dem Film – und darin liegt seine zweite große Stärke – eine Brücke zur Gegenwart zu schlagen. Er beinhaltet das Potential eines Zugangs zur Auseinandersetzung sowohl mit einem zeitlich immer weiter entfernten Ereignis als auch mit der Frage nach den Konsequenzen und Folgerungen für unsere politische Gegenwart.
Dabei ist der dramaturgische Aufbau von "Das radikal Böse" äußerst didaktisch: Während zunächst Steinchen um Steinchen, Erklärungsmuster um Erklärungsmuster die Entwicklung der Wehrmachtssoldaten in der konkreten historischen Situation nachgezeichnet und mit überhistorischem menschlichen Verhalten sowie konkreten Verhaltensmustern und -strukturen in Kriegs- und Armeesituationen zusammen gebracht werden, wird im zweiten Schritt einem daraus resultierenden Freispruch von Verantwortung für das eigene Handeln vehement widersprochen. Wird die erstmalige Anwesenheit bei Exekutionen im Film noch mit Zufall und schockartigen Gefühlen in Zusammenhang gebracht, beschreibt er danach aber auch die Gewöhnung und die „Lust am Töten“. Dieser didaktisch-argumentative Aufbau geschieht sowohl durch die Kapitelstruktur des Films als auch durch die Interviewsequenzen mit Psychologen, die einerseits betonen, dass die Verantwortung für ihr individuelles Handeln Menschen niemals abgesprochen werden könne, was auch durch die Möglichkeit eines abweichenden Verhaltens deutlich werde. Die politischen Schlussfolgerungen, die der Film zieht, sind letztlich einfach: Auf politisch-institutioneller Ebene müssen durch Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und humanistische Grundwerte Ausgangssituationen und Strukturen geschaffen werden, die es nicht zu Situationen kommen lassen, in denen wir uns auf den individuellen Menschen und seine Kraft zur Nonkonformität einer Gruppe und zum Ungehorsam Autoritäten gegenüber verlassen müssen. Damit wagt der Film es – und hier liegt eine klare Stärke – aus den Verbrechen während des NS und der Shoah andere, nämlich dezidiert, politische Forderungen abzuleiten, die über ein „Wir dürfen nicht vergessen“ hinausgehen und uns alle in unserer heutigen politischen (und nicht nur erinnerungspolitischen) Kultur fordern. Dass dabei keine Relativierung der Shoah geschieht, obwohl andere Genozide, wie die in Ruanda und Armenien, genannt werden und das ‚typisch‘ Menschliche am Verhalten der Soldaten thematisiert wird, liegt einerseits daran, dass der Film nicht vorgibt, es würde ihm um die Opfer gehen, und andererseits, dass er die Verbrechen als Summe aus psychologisch erklärbaren, menschlichen Verhaltensweisen und einer spezifischen historischen Situation zeigt, die von einem ideologischen Weltbild ebenso wie von organisatorischen Strukturen geprägt war.
"Das radikal Böse" steht damit in einer Tendenz zeitgenössischer Filme, die es sich in ihrer Annäherung an den NS nicht mehr zur Aufgabe machen historisches Wissen zu vermittelt und damit auch nicht mit der Korrektheit von Historikern konkurrieren, sondern eine explizit moralische Position in der Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit einnehmen. Darin liegt auch das Potential des Films für die politische Bildungsarbeit begründet. Die Versuchung, das Gezeigte als historische ‚Wahrheit‘ misszuverstehen, ist hier nicht gegeben und der notwendige Wissenskontext kann durch zusätzliches Material geschaffen werden. Gleichzeitig erleichtert der Gegenwartsbezug des Films den Einstieg in die Auseinandersetzung. Daneben kann die Opferorientierung der deutschen Erinnerungskultur thematisiert werden, deren langsames Ende nach Jahren der Dominanz sich möglicherweise in Filmen wie "Das radikal Böse" abzeichnet.
"Das radikal Böse" von Stefan Ruzowitzky ist am 16. Januar 2014 bundesweit in den Kinos gestartet. Weitere Informationen und ein Trailer finden Sie auf der Homepage des Films www.das-radikal-boese.de
Das radikal Böse, 2013, Regie und Drehbuch: Stefan Ruzowitzky
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- 22 Jan 2014 - 14:44