Europäische Perspektiven auf Diktaturüberwindung
Von Dirk Rupnow
Es ist mittlerweile ein Gemeinplatz geworden, Rezensionen zum nur schwer abgrenzbaren Themenfeld Geschichte/Gedächtnis-Politik/Kultur mit der Bemerkung beginnen zu lassen, dass die einschlägige Literaturflut praktisch nicht mehr zu überblicken und dennoch keinesfalls zu einem Ende gekommen sei. Zwei weitere Neuerscheinungen belegen diese Situation. Sie machen zugleich deutlich, wie sehr sich die Forschung ausdifferenziert hat und in welche Richtung sie gehen sollte, wenn sie nicht weitere Redundanzen erzeugen will.
Der erste hier vorzustellende Band ist das Ergebnis einer Tagung, die 2007 an der Heidelberger Akademie der Wissenschaften durchgeführt wurde und aus dem Graduiertenkolleg „Diktaturüberwindung und Zivilgesellschaft in Europa“ hervorgegangen war (geleitet von Edgar Wolfrum, in Kooperation mit Carola Sachse sowie der Heinrich-Böll-Stiftung).[1] Das Quintett der Herausgeberinnen setzt sich aus ehemaligen Stipendiatinnen des Kollegs zusammen. Nach einem Vorwort von Eberhard Jäckel und einer knappen Einleitung sind die Beiträge in fünf Abschnitte gegliedert: Unter der Überschrift „Chancen und Grenzen von Diktaturüberwindung“ geht es um Praktiken des Umgangs mit problematischen Vergangenheiten wie „Wiedergutmachung“, Restitution und Transitional Justice. Der Fokus liegt dabei auf Organisationen wie der Jewish Cultural Reconstruction, der Rockefeller Foundation und der Max-Planck-Gesellschaft sowie der tschechischen Kommunistischen Partei. Im Abschnitt „Erinnerung als Politik“ wird die „öffentliche Produktion von Geschichtsbildern“ analysiert. Hier finden sich vor allem Länderbeispiele: Deutschland, Österreich, die Niederlande und Kroatien. Denkmäler, Museen und Gedächtnisorte werden im Abschnitt „Repräsentationen der Diktatur und postdiktatorische Räume“ zum Thema: das Holocaust-Gedenkzentrum in Budapest, die Berliner Mauer, die sowjetischen GULags, der Tallinner Bronzesoldat. Eher theoretisch-methodisch angelegt ist das Kapitel „Diktaturvergleich im neuen Europa“, in dem Möglichkeiten und Grenzen, Traditionen und Perspektiven der Totalitarismusforschung diskutiert werden. Schließlich wird die Konkurrenz von „Holocaust und GULag“ in ost- und westeuropäischen Erfahrungen, Gedächtnissen und Debatten beleuchtet.
Der Sammelband deckt ein breites Spektrum ab. Zusammengehalten wird er von einer transnationalen Perspektive, die dem Thema generell eingeschrieben ist und in den verschiedenen Beiträgen unterschiedlich stark zur Geltung kommt. Der Einstieg von Eberhard Jäckel, der in seinem kurzen Vorwort hervorhebt, dass die NS-Diktatur in Deutschland besonders verbrecherisch gewesen sei, zugleich aber mit dem Grundgesetz auf einer institutionellen Ebene auch „verhältnismäßig rasch“ habe überwunden werden können, muss dabei als äußerst unglücklich bezeichnet werden. Damit wird nochmals eine „DIN-Norm“ für die Auseinandersetzung mit problematischen Vergangenheiten etabliert, wie es Timothy Garton Ash schon vor längerer Zeit konstatiert und diskutiert hatte.[2] Eine solche Norm wird der Verschiedenheit der Fälle allerdings nicht gerecht – selbst dann nicht, wenn der Untersuchungsraum auf Europa beschränkt wird. Die Behauptung einer schnellen erfolgreichen Überwindung des Nationalsozialismus und seiner Massenverbrechen dementiert sich zudem selbst, weil sie offenbar nicht um die Vielschichtigkeit und Fragilität der hier verhandelten Prozesse weiß. Auch im deutschen Fall wird man eher von einem Nebeneinander aus Brüchen und Kontinuitäten, von Überwindung und Transformationen sprechen müssen.
Wie entscheidend es ist, nicht nur auf Vergangenheitspolitik im engeren Sinne zu fokussieren, sondern diese breiter in gesellschaftliche und politische Entwicklungen einzubetten, wird etwa im exzellenten Beitrag von Ljiljana Radonic über Kroatien deutlich. Cornelius Lehnguth führt währenddessen am österreichischen Beispiel vor, wie inhomogen, fragmentiert und widersprüchlich nationale Erinnerungsgemeinschaften und wie notwendig daher differenzierte Untersuchungen sind. Katrin Hammerstein gelingt es mit ihrer erinnerungskulturellen Drei-Länder-Beziehungsgeschichte Bundesrepublik Deutschland – DDR – Österreich, einen frischen Blick auf scheinbar gut vermessenes Terrain zu werfen. Instruktiv ist auch der Beitrag von Mirjam Sprau, die die Auflösung des GULag-Komplexes in der Phase der Entstalinisierung als „Diktaturüberwindung in der Diktatur“ beschreibt. Die Beiträge zum Totalitarismus-Konzept machen ebenfalls deutlich, dass Begriffe nicht aus der Notwendigkeit zu historischer Beschreibung und Analyse im Detail entlassen. Mario Keßler hebt zu Recht hervor, dass der weiterhin bestehende Mangel an empirisch abgesicherten Vergleichsstudien für diesen Ansatz ein großes Problem darstellt.
Wer einen Einblick in neuere Forschungen zum Themenfeld gewinnen will, wird den Band gern konsultieren. Die Autorinnen und Autoren stellen eher die Divergenzen innerhalb der europäischen Gedächtnislandschaft heraus, beleuchten aber mit dem Fokus auf transnationalen Verknüpfungen auch Tendenzen der Europäisierung. Postdiktatorische Transformationen nach 1945 und 1989 werden dabei mittlerweile sehr selbstverständlich parallel betrachtet. Außereuropäische Perspektiven, etwa auch das Erbe des Kolonialismus, bleiben allerdings ganz unberücksichtigt. Dies gehört zwar nicht im engeren Sinne in den Kontext von Diktaturüberwindungen, hätte aber nicht wenig mit europäischer Geschichte und europäischen Gedächtnissen zu tun.
Auch der zweite hier ausgewählte Band konzentriert sich fast vollständig auf europäische Perspektiven. Er ist das Produkt einer englischsprachigen Tagung, die 2004 in Amsterdam stattfand. Thematisch und zeitlich ist dieser Band allgemeiner und offener gehalten als „Diktaturüberwindung in Europa“, wie der Titel „Performing the Past. Memory, History, and Identity in Modern Europe“ anzeigt. Der Zugriff ist gleichzeitig jedoch spezifischer.
Die Herausgeberin und die beiden Herausgeber betonen den performativen Charakter jeden Umgangs mit Vergangenheit. Die Unterscheidung zwischen „history“ als einer Disziplin, die Erinnerung mit Hilfe verschiedenster Dokumente erzeugt, aber zugleich auch kritisiert, und „memory“ als einer Fähigkeit, bei der Geschichte affektiv betrachtet wird, bleibt dabei bestehen. Eine klare Trennung und Gegenüberstellung wird aber aufgelöst in ein weites Feld von Übergängen und Mischformen. Entscheidend sei das kreative Handeln, durch das Menschen die Vergangenheit gemeinsam „herstellten“. Diese Aktivität beinhalte neben dem Bezug auf die Vergangenheit auch immer eine Aktualisierung und Neuinterpretation. Neben Geschichte und Erinnerung wird hier folgerichtig Identität einbezogen: Auch sie wird performativ hergestellt, besteht aus einem Geflecht kultureller Praktiken und ist eng verknüpft mit Geschichte und Gedächtnis.
Nach einer Einleitung von Jay Winter bieten drei Beiträge von Aleida Assmann, Chris Lorenz und dem 2006 verstorbenen Reinhart Koselleck einen theoretischen Rahmen für die folgenden Fallbeispiele, die auch hier ein breites Spektrum abdecken, wesentlich aber Praktiken und Medien vorstellen. Dabei gerät Mozarts Oper „Die Zauberflöte“ (Beitrag von Jan Assmann) ebenso in den Blick wie Walter Scotts Roman „Ivanhoe“ (Ann Rigney). Marianne Hirsch und Leo Spitzer sowie Frank van Vree widmen sich Holocaust-Fotografien, während Jane Caplan über Tätowierungen zur Erinnerung an Feuerwehrmänner schreibt, die beim „9/11“-Einsatz ums Leben gekommen sind. Auch hier geht es um Restitution (am Beispiel der tschechischen Republik und Polen nach 1989; Beitrag von Stanislaw Tyszka) sowie um die Rolle von historischer Erinnerung bei der Konstruktion einer europäischen Identität (Chiara Bottici).
„Performing the Past“ bietet einen spannenden Überblick zu diesem wesentlich transdisziplinär geprägten Forschungszusammenhang, den neben Historikern vor allem Literaturwissenschaftler prägen. Wie bei dem oben besprochenen Sammelband zur Diktaturüberwindung ist hier keine Synthese angestrebt, sondern eher eine Präsentation von Breite und Diversität. Die Überschneidungen zwischen den Bänden sind offensichtlich, die Ausdifferenziertheit und Eigenständigkeit jedoch auch. In beiden Fällen wird damit ein eindrückliches Bild der Lebendigkeit der jeweiligen Forschungslandschaft gezeichnet – einschließlich einer Vielzahl fruchtbarer Perspektiven für zukünftige Arbeiten. Auch diese liegen vor allem in immer genaueren Analysen einzelner, in Grundzügen bereits bekannter Fälle bzw. in immer größerer Ausdifferenzierung der Fragestellungen.
Anmerkungen:
[1] Siehe Tagungsbericht Diktaturüberwindung in Europa: Neue nationale und transnationale Perspektiven. 21.11.2007-23.11.2007, Heidelberg, in: H-Soz-u-Kult, 11.02.2008, <hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=1897>.
[2] Timothy Garton Ash, Mesomnesie, in: Transit 22 (2001/02), S. 32-48.
Wir bedanken uns beim Autor für die Genehmigung zur Zweitveröffentlichung der Rezension. Die Erstveröffentlichung erfolgte auf dem Portal HSOZuKULT.
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- 21 Okt 2020 - 19:01