Digital unterstützte Vorbereitung des Besuchs einer KZ-Gedenkstätte: Der Online-Einstieg Flossenbürg
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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel Sie müssen angemeldet sein, um das Benutzerprofil zu sehen |
Von Julius Scharnetzky und Christa Schikorra
Zwischen 1938 und 1945 hielten die Nationalsozialisten etwa 100.000 Menschen aus ganz Europa im Konzentrationslager Flossenbürg und seinen über 90 Außenlagern gefangen. Mehr als 30.000 von ihnen überlebten die Haftzeit nicht. Das Gelände der heutigen Gedenkstätte umfasst rund die Hälfte des ehemaligen Häftlingsbereichs und Teile des SS-Bereichs. Aufgrund der starken baulichen Überformungen in den letzten Jahrzehnten sind vom Lagergelände nur noch wenige originale Gebäude und Relikte erhalten.
Die Bildungsarbeit an diesem historischen Ort steht vor einem Bündel an Herausforderungen: die Vermittlung historischen Wissens; Wiederlesbarmachung eines stark überformten Geländes; die Arbeit mit den „Bildern im Kopf“ und dem Wissen der Besucherinnen und Besucher über die Zeit des Nationalsozialismus; die Konfrontation mit Gefühlen, die durch die hier verübten Verbrechen ausgelöst werden (können), sowie teilweise normierte Erwartungshaltungen an den Ort eines ehemaligen Konzentrationslagers. Daher stellt die KZ-Gedenkstätte ein breit gefächertes methodisches Angebot für unterschiedliche Zielgruppen und deren Bedürfnisse zur Verfügung. Zentral in den verschiedenen Bildungsangeboten sind lebensgeschichtliche Erzählungen. Die Geschichten und Perspektiven ehemaliger Häftlinge sind in den begleiteten Rundgängen, in der Kleingruppenarbeit in beiden Dauerausstellungen und in Projektarbeiten leitend. An diesen Zugang knüpft auch der Online-Einstieg Flossenbürg an, der von der Bildungsabteilung der KZ-Gedenkstätte zusammen mit dem Online-Projekt „Zwangsarbeit 1939-1945" vom Center für Digitale Systeme der Freien Universität Berlin im letzten Jahr entwickelt wurde und seit dem Schuljahr 2012/2013 zur Verfügung steht.
Der Online-Einstieg Flossenbürg
Das Angebot richtet sich vor allem an die Mittelstufe aller Schularten, eignet sich aber auch für die Oberstufe oder für außerschulische Veranstaltungen. Im Zentrum des Moduls stehen Filmclips von jeweils etwa neun Minuten. Es handelt sich um Ausschnitte aus mehrstündigen Interviews mit Helena Bohle-Szacki und Joseph Korzenik, zwei ehemaligen Häftlingen des Konzentrationslagers Flossenbürg und seiner Außenlager. Beide waren zum Zeitpunkt ihrer Verfolgung Jugendliche und damit im Alter der Schülerinnen und Schüler, die sich mit den Filmclips auseinandersetzen. Der Online-Einstieg setzt mittels der audiovisuellen Interviewsequenzen auf die Begegnung mit der einzelnen Person und ihrer individuellen Erfahrung. Diese veranschaulicht die Geschichte des Ortes, indem sie von dem dort erlebten Terror, den Erniedrigungen, der Zwangsarbeit und dem Überleben erzählt.
Die kurzen Clips stehen auf www.zwangsarbeit-archiv.de frei zur Verfügung, eine Anmeldung ist nicht notwendig. Zusätzlich können die Lehrkräfte Fotos, Kontextinformationen, Kurzbiografien und Arbeitsblätter herunterladen. Die auf die Kurzfilme abgestimmten Arbeitsaufträge unterstützen das handlungsorientierte Lernen und fördern überdies mediale, narrative und quellenkritische Kompetenzen der Lernenden.
Ablauf
Der Online-Einstieg umfasst je nach Wissensstand und Lernorientierung ein bis zwei Schulstunden und optional eine Hausaufgabe. Welchen Film sie schauen, können die Schülerinnen und Schüler im Idealfall selbst auswählen und die Entscheidung im Plenum begründen. Dies ist nicht nur schüleraktivierend, sondern ermöglicht auch, etwas über Vorerwartungen und „Bilder im Kopf“ zu erfahren. Obwohl der Schwerpunkt der Filmclips auf der Zeit der Verfolgung liegt, werden auch das Leben davor und das Überleben thematisiert.
Ihre Eindrücke, Fragen an die Person oder den Ort sowie Antworten auf die Fragen nach Ereignissen, Orten und Themen, die im Film angesprochen werden, halten die Schüler und Schülerinnen auf dem dafür vorgesehenen Arbeitsblatt fest und diskutieren dieses in der Klasse. Anhand weiterer Materialien erarbeiten sie sich in einem zweiten Schritt, möglicherweise als Hausaufgabe, das Leben des Zeitzeugen. Unter Nutzung einer stummen Karte und eines Zeitstrahls werden die Lebensläufe topografisch und historisch eingeordnet. Der gesamte Arbeitsprozess soll die Schülerinnen und Schüler dazu anregen, Fragen zum Beispiel zu Haftgründen, Außenlagern und Lebensbedingungen zu formulieren, die sie zur Gedenkstättenfahrt mitbringen. Diese werden vor Ort während des zwei- bis dreistündigen Rundgangs aufgegriffen und mit dem Rundgangsleiter diskutiert und beantwortet. Während des Rundgangs werden die individuellen Erzählungen von Helena Bohle-Szacki und Josef Korzenik in die Geschichte des Konzentrationslagers eingebettet. Bei Interesse können während des Rundgangs auch die subjektiven Konstruktionen der Zeitzeugen thematisiert werden. Dies ermöglicht den Schülerinnen und Schülern ebenfalls, die Erzählungen der Zeitzeugen kritisch zu hinterfragen.
Es gibt vielfältige visuelle Anknüpfungspunkte auf dem Gelände und in den Ausstellungen an die Erzählungen der Zeitzeugen. Beispielsweise kann die Erzählung von Joseph Korzenik über die schwere körperliche Arbeit im Außenlager Hersbruck mittels des in der Ausstellung gezeigten Bohrhammers aus Hersbruck visualisiert werden. Durch die Einbindung weiterer Berichte ehemaliger Häftlinge in den Rundgang erweitert sich die Perspektive der Schülerinnen und Schüler. Jede Erzählung eröffnet einen anderen Blickwinkel.
Wir empfehlen die Nachbereitung des Gedenkstättenbesuches in der Schule, um den Lernenden die Möglichkeit zu geben, das Gehörte und Gesehene sowie die Arbeitsmaterialien zu reflektieren. Dies kann mit einem online zur Verfügung stehenden Fragebogen vorbereitet werden. Ist Vertiefung gewünscht, verweisen wir auf die ausführlichen Interviews mit Helena Bohle-Szacki und Joseph Korzenik sowie auf Interviews mit anderen Flossenbürger Häftlingen und zeigen weiterführende Fragestellungen auf.
Fazit
Seit September 2012 steht auf der Webseite der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg der Online-Einstieg zur Verfügung. Die im Oktober 2012 stattfindende Fortbildung für Lehrkräfte unterschiedlicher Schularten fand so regen Zuspruch, dass eine zweite angeboten wurde. Bislang wird das Vorbereitungsmodul eher schwach benutzt. Dies liegt vermutlich darin begründet, dass der Online-Einstieg erst zu Beginn dieses Schuljahres eingeführt wurde, und neue Angebote erfahrungsgemäß mindestens ein Schuljahr brauchen, bis sie eingesetzt werden. Diejenigen Lehrkräfte und Schülerinnen und Schüler, die sich bislang mit diesem Einstieg vorbereitet haben, bewerteten das Angebot sehr positiv. Der thematische Zugang über die Zeitzeugenclips wird als schülerorientiert wahrgenommen, das Arbeiten jenseits von Schulbüchern als erfrischend anders kommentiert. Während des Besuchs der Gedenkstätte zeigte sich, dass das Interesse und die Aufmerksamkeit der mit dem Online-Einstieg vorbereiteten Gruppen deutlich höher sind als andere Gruppen.
Uns sind drei Aspekte besonders wichtig: 1) Die Schülerinnen und Schüler werden durch das biographische und mediale Arbeiten aktiv eingebunden, sie erleben sich als historische Entdecker. 2) Ihre Fragen, aber auch Irritationen werden bereits im Unterricht aktiv formuliert und können produktiv in den Vermittlungsprozess in der Gedenkstätte einbezogen werden. 3) Mit der Erarbeitung der Biographien wird Individualgeschichte in einen historischen Kontext gesetzt und durch den Gedenkstättenbesuch mit einem konkreten Ort verbunden, der als historischer Ort erfahren und reflektiert werden kann.
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- 2 Okt 2013 - 07:11