Unterschiedliche Erwartungen an eine Ausstellung am historischen Ort: Besucherinnen und Besucher des Tränenpalasts
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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel Sie müssen angemeldet sein, um das Benutzerprofil zu sehen |
Von Gundula Klein
Was erwarten Besucherinnen und Besucher von der Ausstellung „GrenzErfahrungen. Alltag der deutschen Teilung“, die die Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland im Berliner Tränenpalast seit September 2011 zeigt? Und was erwarten sie vom Besuch des historischen Ortes selbst?
Der Tränenpalast, die ehemalige Ausreisehalle am Grenzübergang Friedrichstraße, ist ein Ort, mit dem für viele West- und Ostdeutsche prägende Erinnerungen verbunden sind. Für die Ausstellung „GrenzErfahrungen“ bestand daher von Beginn an die konzeptionelle Herausforderung, die Mikrogeschichte des Tränenpalastes im Kontext der Zeitgeschichte zu zeigen und dabei viel Raum für persönliche Erinnerungen zu lassen. Dies spiegelt sich im Ausstellungs- wie im Vermittlungskonzept. Beide Konzepte begreifen die genannte Herausforderung als Chance: Einerseits wird den in- und ausländischen Besucherinnen und Besuchern anhand eines herrschafts- und alltagsgeschichtlichen Ortes ein Blick auf das Grenzregime in der DDR und den Alltag der deutschen Teilung ermöglicht. Und andererseits bietet dieser gesamtdeutsche Erinnerungsort die Chance, Erinnerungen zu sammeln und zu teilen.
Resonanzen
Viele Besucherinnen und Besucher äußern ihre Eindrücke im Besucherbuch, das am Ende der Ausstellung ausliegt. Die Kommentare in den ersten Monaten nach der Eröffnung der Dauerausstellung reichten von „Es ist alles viel zu freundlich und hell. Die Wirklichkeit war schlimmer!“ über „Ich war zu ‚DDR‘-Zeiten hunderte Male hier. Es war nicht so schlimm wie jetzt geschildert.“ bis hin zu „Wir kamen als Touristen und erwarteten Kunst und Kultur. Wir bekamen Felsen der Geschichte, die wir so nicht erwarteten; toll aufbereitet! Against oblivion (gegen das Vergessen)!“.
Diese Zitate aus dem Besucherbuch zeigen ebenso wie Besucherbefragungen und die tagtäglichen Gespräche im Rahmen der Bildungsprogramme das Spektrum der Erwartungen, das Besucherinnen und Besucher mit in die Ausstellung bringen. Ein Unterschied lässt sich vor allem zwischen zwei Gruppen feststellen: denjenigen mit und denen ohne eigene Erfahrungen mit dem Grenzübergang Friedrichstraße. Die Besucherinnen und Besucher ohne persönlichen Bezug zum historischen Ort äußern sehr allgemeine Erwartungen. Sie möchten sehen, „wie es früher aussah“, den Ort und seine Geschichte kennenlernen oder einfach etwas über den Alltag der deutschen Teilung erfahren. Auch eine Einordnung in den Sachkontext der deutschen Teilungsgeschichte wird von ihnen gewünscht.
Die Besuchergruppe mit eigenen Erinnerungen kommt heute mit dem Wunsch in den Tränenpalast, wiederzuerkennen und sich an die Atmosphäre und die Gefühlslage von damals zu erinnern. Ebenso besteht das Bedürfnis, dass andere nachempfinden sollen, warum dieser Ort für sie so prägend und bedeutsam war. Dies ist teilweise mit dem konkreten Wunsch verbunden, die Stimmung wie damals vorzufinden, die Passkontrolle möglichst plastisch zu erleben. Kritikpunkte dieser Besucherinnen und Besucher sind einerseits, dass die heutige Atmosphäre und die wenigen noch vorhandenen Überreste mit den eigenen Erinnerungen kollidieren. Andererseits fordern einige eine wesentlich stärkere Inszenierung des Ortes, ein Nachstellen dessen, was man selbst erlebt hat, bis hin zu Reenactment oder Rollenspielen. Diese Kritik ist jedoch die Ausnahme; nur drei Prozent der Besucherbucheinträge der vergangenen eineinhalb Jahre sind kritische Äußerungen. Dies deckt sich auch mit den Ergebnissen mehrerer Befragungswellen: 98 Prozent der Besucherinnen und Besucher bewerten die Ausstellung mit sehr gut oder gut. Was diese Zahlen und auch die vorherigen Zitate nicht zeigen, ist die Vielschichtigkeit der Diskussionen und Gespräche, die die Besucher untereinander führen und die im Rahmen der Gruppenbegleitungen gezielt angeregt werden. Im Vermittlungskonzept der Stiftung Haus der Geschichte ist die aktive, kommunikative Beteiligung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer an einer Begleitung ein zentraler Bestandteil. Gerade wegen der Heterogenität der Erinnerungen und Erwartungen, die in die Ausstellung mitgebracht werden, ist dieser Ansatz im Tränenpalast wichtig.
Konzeptionelle Überlegungen
Warum die oben beschrieben Erwartungen an die Ausstellung nicht alle erfüllt werden, lässt sich durch die Betrachtung konzeptioneller Aspekte beantworten:
Erstens: Das Ausstellungs- und vor allem das Vermittlungskonzept muss in der Besucherkommunikation beiden Zielgruppen gerecht werden – den Besuchern mit und ohne eigene Erinnerungen. Derzeit haben mehr als 60 Prozent der Besucherinnen und Besucher keine eigenen Erinnerungen an den Tränenpalast und die Zeit der deutschen Teilung. Diese Zahl steigt stetig, mit der wachsenden Zunahme des touristischen Publikums und der zunehmenden Distanz zur ausgestellten Zeit. Gerade für dieses Publikum ist eine umfassende Einbettung der Geschichte des Tränenpalastes in die Geschichte des geteilten Deutschlands und der SED-Diktatur notwendig. Zweitens: Die Restaurierung und teilweise Rekonstruktion der Überreste erfolgte im Einklang und in enger Zusammenarbeit mit der Baudenkmalpflege, orientiert am Zustand der Erbauung im Jahre 1962. Da nur noch wenige Überreste aus der Zeit des Grenzübergangs erhalten sind und sich zudem die Inneneinrichtung und Gestaltung innerhalb der 28-jährigen Nutzung als Abfertigungshalle stark veränderte, stimmen Erinnerungen und heutiger Zustand zwangsläufig nicht immer überein. Drittens: Ein emotionaler Zugang zum Thema und zur Ausstellung wird nicht über die Inszenierung einer düsteren Atmosphäre ermöglicht, sondern über viele biografische Beispiele und Zeitzeugeninterviews in der Ausstellung. Besucher und Besucherin sollen nicht „bedrückt werden“, sondern selbst einen Zugang zu und einen Weg durch die Ausstellung wählen. Viertens: Reenactment und historische Rollenspiele an diesem historischen Ort widersprächen dem Überwältigungsverbot des Beutelsbacher Konsenses. Selbst im Rahmen von Bildungsangeboten würde kein Raum zur eigenen Reflexion bleiben, da die Teilnehmenden nicht aus der Rolle und dem Raum bzw. der Szene heraustreten können. Fünftens: Um den Besucherinnen und Besuchern Einblicke in die konzeptionellen Überlegungen zu geben und ihnen einen reflektierten Zugang zur Ausstellung zu ermöglichen, zielen die Begleitungen darauf, eine „gehobene Gebrauchsanweisung“ zum eigenen Erschließen der Ausstellung und zum Verständnis des historischen Ortes anzubieten. Die Sensibilisierung für historische Überreste, Restaurierung und Rekonstruktion ist hier ebenso gefragt wie das Verständnis für ausstellungsdidaktische Überlegungen und gestalterische Mittel. Warum zum Beispiel sind nicht mehr Überreste vorhanden? In welcher Verbindung stehen die Ausstellungsarchitektur und die Architektur des historischen Raumes? Und welche Vielfalt von Erinnerungen bringen die Besucher mit in diese Ausstellung?
Emotionale Reaktionen von Besuchern und Besucherinnen sind im Tränenpalast häufig zu erleben, angestoßen durch Erinnerungen, durch Meinungsäußerungen in den Gruppen oder durch die persönlichen Narrationen, die die Ausstellung zeigt. Intention der Bildungs- und Vermittlungsarbeit ist es, die Vorstellungskraft für die Geschichte zu stärken, die in diesem Fall stark emotional geprägt ist, und zugleich aber genügend Raum für Reflexion zu lassen.
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- 2 Okt 2013 - 07:11