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Geschichte(n) auf Kriegsgräberstätten erzählen : ein Erfahrungsbericht aus Niederbronn-Les-Bains (Frankreich).

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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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 Bernard Klein ist Leiter der Internationalen Begegnungsstätte Albert Schweitzer (www.ci-as.eu)

Von Bernard Klein

Die Internationale Begegnungstätte Albert Schweitzer im elsässischen Niederbronn-les-Bains wird vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge betrieben. Die Bildungseinrichtung liegt neben einer deutschen Kriegsgräberstätte vom 2. Weltkrieg mit über 15.800 Gräbern. Diese Zeilen beschreiben die wichtigsten Etappen der empirischen Erfahrungen. Diese stammen aus der pädagogischen Arbeit insbesondere der Geschichtsvermittlung, die hier seit 1995 mit mehr als 50.000 Jugendlichen verrichtet wurde. Eine der Eigenarten dieses Projekts ist es, dass es im Sinne einer gewünschten Multiperspektivität von französischen Pädagog/innen begleitet wird.

1. Letzte Nachrichten von der Front: die Aktualisierung

Wie kann man das Interesse an die vergangenen Geschehnisse erwecken? Bezeichnen wir diese Aufgabe als Aktualisierung. Die Geschichte der Kriegsgräberstätte ist keine abgeschlossene Geschichte, sie ergänzt sich, neue Kapitel werden immer wieder hinzugefügt:

  • Durch die Geschichten der Familienangehörigen, die sie uns erzählen, und die Unterlagen, die sie uns anreichen.
  • Durch die reguläre, aber zunehmend seltene Entdeckung von Soldaten, ihre Identifikation und Beerdigung. 
  • Durch die Einträge der Friedhofsbesucher/innen in die Besucherbücher.
  • Durch die Verbindung der aktuellen Themen mit den Themen des Friedhofs (Krieg, Verteidigung, deutsch-französische Beziehungen, Gedenkarbeit, Filme, Bücher usw.)  

Alle diese Formen der Aktualisierung dienen zur Vergegenwärtigung der Geschichte: Durch die Zeugenaussagen und -befragung rekonstruieren wir die Geschichte. Alle diese Geschichten bilden eine gegenwärtige Geschichte, deren Teil wir alle sind. Sie errichtet eine Brücke zwischen den Erfordernissen von heute und dem, was als Zufälligkeit der Vergangenheit gilt.

2. Der Herr der Zeit. Die Zeit materialisieren bedeutet sie familialisieren

Manchmal frage ich mein Publikum (meistens Jugendliche zwischen 14 und 16 Jahren), um zu wissen, wie viele von ihnen eine Familienanekdote aus der Zeit des 2. Weltkrieges ihren zukünftigen Kindern erzählen könnten. Es melden sich immerhin regelmäßig zwischen 30% und 50% der Jugendlichen.

Für die anderen, die keinen chronologischen Familienrahmen haben, hat diese Epoche den Gegenwert der Antike. Ramses II oder Hitler – in jedem Fall ist es zu weit weg, denn es fehlen die Zeichen der Familiengeschichte. Können wir diesen Schnitt reparieren?

Wir benutzen eine im Jahr 2000 abgeschnittene Holzscheibe (als unsere Schüler 2 bis 5 Jahre alt waren), um die Zeit zu materialisieren. Nun aber hat dieser Baum eine Besonderheit: Er wurde im Winter 1944/45 durch einen Granateinschlag verwundet. Auf der Oberfläche dieses Querschnitts – der Baum ist vom Jahr 1870 – können wir nicht nur große Ereignisse des 19. und 20. Jahrhunderts deuten, sondern auch Generationen, die dem Menschen vom 21. Jahrhunderts vorangingen.

Der Vorteil der Baumscheibe besteht darin, dass er in sich die ganze Epoche (z.B. des 2. Weltkrieges)  in einem Langzeit-Raum-Verhältnis einschließt. Der erweiterte chronologische Rahmen ermöglicht eine große Erzählung des Jahrhunderts, der die Familienchronologie auf mehrere Generationen miteinschließt.

3. Das ist hier passiert? Verankerung und die Legitimität des Ortes

Dieser Baum ist auch nicht zufällig ausgewählt worden: Das ist ein Baum von Niederbronn-les-Bains, von hier. Und er wurde in demselben Moment verwundet, als 80% der Soldaten auf dem Friedhof gefallen sind. Im Elsass haben wir Glück, wenn ich so sagen darf, dass die Stigmata des Krieges gleichzeitig präsent und doch nicht unsichtbar sind: Wie diese Kugeln von 1870, die unter dem Rasen des Fußballplatzes gefunden worden sind, wie diese anderen Patronen -von 1944/45- die im angrenzenden Wald zu finden sind.

Die andere Legitimität kommt von der Kriegsgräberstätte selbst. Er ist nicht nur ein Ort des Todes, sondern ein Ort der Tragödie. Sein Standort, seine Landschaft, seine Symbole und die auf die Steine eingravierten Namen ergänzen die Identität dieses Platzes und zeichnen seine Mehrdeutigkeit aus. Der Friedhof des Krieges oder des Friedens? Friedhof oder Kriegshof?

Diese örtlichen Zeugnisse der Vergangenheit sind sozusagen unsere Akkreditierungskarte, um die Geschichte zu erzählen. 

4. Das betrifft jeden: Geopolitik des Friedhofes

Es ist ein bemerkenswertes und doch gleichwohl erklärbares Phänomen: Französ/innen oder Pol/innen beispielsweise, fühlen sich spontan von einer deutschen Kriegsgräberstätte weniger betroffen. Es handelt sich ja um die „Anderen“. Das Selbe ist bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund festzustellen. Was eigentlich nicht verwunderlich ist: fehlt es ja an der Familien- bzw. Identitätsbindung.

Der Schein trügt allerdings, denn die Kriegsgräberstätte ist ein wahrer Abdruck des Weltkrieges. Die Präsenz von ungarischen Verbündeten, spanischen, belgischen und niederländischen Freiwilligen, von Kollaborateuren oder französischen, ukrainischen oder russischen Überläufern oder sogar Muslimen, gibt dem Friedhof nicht nur eine globale geopolitische Dimension sondern auch eine erweiterte identitätsstiftende Dimension, die pädagogisch auszunutzen ist.

5. La leçon de chose. Anschauungsunterricht. Die physische und moralische Erfahrung

Es werden diverse Objekte beim Fund eines Soldaten zutage gefördert: Feldflaschen, eine Brieftasche, ein Tintenfass, Stücke von Stiefeln. Diese Gegenstände wirken: Köpfe drehen sich, Hälse werden gereckt, Augen werden weit aufgerissen, wenn man sie aus ihrem Karton nimmt. Die visuelle Erfahrung kann beliebig ergänzt werden.

Einen solchen Gegenstand zu berühren, das Gewicht eines - zum Beispiel von einer Explosion verbogenen - Bombensplitter abzuwägen, ist eine physische Erfahrung, welche es erlaubt durch das Gewicht, die Gewalt des Krieges zu „be-greifen“.

Diese Kugeln, Granatsplitter oder Bombenstücke, die ja töten konnten, können Auslöser moralischer Infragestellung sein, aber auch gleichzeitig faszinieren. Diese Ambivalenz selbst ist eine interessante pädagogische Ausgangssituation. 

6. Die Erzählung und die Moral der Geschicht‘

Die Narration als Modus der Weitergabe von Wissen hat sich uns nicht nur durch unseren Arbeitsrahmen selbst auferlegt, sondern auch durch unsere Hauptquelle: das Hausarchiv der internationalen Begegnungsstätte.  Es besteht aus ca. 250  Einzelschicksalen, die uns die Familien zusammengestellt haben. 

Storytelling wird eingesetzt – nicht als eine Technik um Emotionen oder Betroffenheit zu Instrumentalisieren – sondern als Mittel, die Aufmerksamkeit der Zuhörer mit Blick auf eine angekündigte „Pointe“ zu wecken und zu bewahren. Diese „Pointe“ kann, wie bei einer Fabel, die Moral der Geschichte sein. 

Durch das Erzählen der Einzelschicksale kann sehr wohl auch der historische allgemeine Kontext widergegeben werden, aber die Besonderheit dieser Geschichtsvermittlung liegt in der finalen Fragestellung. Zum Beispiel: Jener junge 19-jährige Soldat, kann er zur Verantwortung gezogen werden, da er, aufgrund seiner Minderjährigkeit, nicht am politischen Leben teilnehmen konnte? Kann man christlich und gleichzeitig ein Mitglied der Waffen-SS sein? Und überhaupt christlich und Soldat sein? Hatten die Soldaten Freiräume? Was sind Helden? Ist Mut immer eine Tugend? 

Kriegsgräberstätten haben einen hohen Authentizitätswert, der die Aufmerksamkeit der Besucher/innen schnell einnimmt. Ihre Deutungsambivalenz – Friedhof oder/und « Krieghof »  ist auch als eine pädagogische Herausforderung zu betrachten. 

 

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