Empfehlung Fachbuch

Instrumentalisierung, Verdrängung, Aufarbeitung

Die sowjetischen Speziallager in der gesellschaftlichen Wahrnehmung 1945 bis heute

Von Anne Lepper

Der Band beschäftigt sich in unterschiedlichen Beiträgen verschiedener Autor/innen mit der Wahrnehmung, aber auch Nichtwahrnehmung der sowjetischen Speziallager in der gesamtdeutschen Gesellschaft seit 1945. Ziel des Bandes ist es, historische Entwicklungen und Debatten nachzuzeichnen und eine Veränderung der allgemeinen Wahrnehmungsperspektive der Speziallager in den letzten Jahren aufzuzeigen und nachzuvollziehen. Der Wert wissenschaftlicher Forschungsarbeiten als Korrektiv geschichtspolitisch orientierter Forderungen und zur Untermauerung eines sachlich orientierten, demokratischen Umgangs mit Geschichte, soll hierbei im Vordergrund stehen. Damit soll ein Beitrag geleistet werden, auf dessen Basis bestehende Konflikte und Debatten weitergeführt und auf produktive, zukunftsorientierte Weise transformiert werden können.

Die öffentliche Wahrnehmung der Speziallager

Wolfram von Scheliha gibt in einem einführenden Text einen Überblick über die öffentliche Debatte über die Speziallager in Ost und West anhand der allgemeinen publizistischen Auseinandersetzung. Durch welche (geschichts-)politischen und propagandistischen Interessen die verschiedenen Publikationen unterschiedlich lizensierter Presseorgane (US-, französische, britische oder sowjetische Lizenz) und der ausländischen Berichterstattung geleitet wurden, wird anhand verschiedener Statistiken und inhaltlicher Analysen herausgestellt. Welche Auswirkungen die mediale Thematisierung auf politische Entscheidungsträger hatte, wird anhand einiger Beispiele erläutert. Die besondere Bedeutung des Kalten Krieges wird hier ebenso thematisiert wie die grundsätzlich antikommunistische Haltung westlicher Gesellschaften. Dass die Debatte um die Speziallager in den 1940er und 1950er Jahren aus diesen Gründen wesentlicher Bestandteil des Ost-West-Konfliktes war, lässt sich aus dem Beitrag nachvollziehbar ablesen. Thematisch an den vorangegangenen Beitrag anschließend, setzt sich auch Karl Wilhelm Fricke – Sohn eines ehemaligen Speziallagerhäftlings – mit dem Thema der öffentlichen Wahrnehmung der sowjetischen Speziallager auseinander. Neben der Hervorhebung verschiedener Häftlingsgruppen, deren nationalsozialistische Belastung ausgeschlossen werden kann, plädiert der Autor für einen Vergleich beider autoritärer Systeme, welcher – so konstatiert er – schließlich auch zu einer Sichtbarmachung der Unterschiede beitragen soll. Die gleichzeitige Warnung vor einer Gleichsetzung soll durch die Berufung auf die Faulenbachsche Formel untermauert werden, deren Forderung in der Vermeidung der Relativierung nationalsozialistischer Verbrechen und der Bagatellisierung stalinistischer Untaten liegt. Auch Günther Agde lenkt in seinem Beitrag den Blick auf die öffentliche Wahrnehmung der Speziallager und stellt die mediale Darstellung im Film in den Vordergrund. Anhand eines thematischen und historischen Abrisses erläutert Agde den filmischen Umgang mit den sowjetischen Speziallagern insbesondere in der SBZ/DDR. Herausgearbeitet wird in erster Linie die durch die sowjetischen Machthaber gesteuerte Wahrnehmungslenkung, der die Konzeption der Filme jener Zeit zugrunde lag. Es wird im Text jedoch auch auf graduelle Abweichungen vom politischen Programm eingegangen. Darüber hinaus wird auf die filmische Dokumentation der Lager durch sowjetische und britische Frontsoldaten unmittelbar nach dem Ende des NS-Regimes – also zu einem Zeitpunkt, an dem die Internierungslager gerade eingerichtet wurden – hingewiesen.

Die wissenschaftliche Aufarbeitung der Speziallager

Ein Beitrag von Wolfgang Buschfort zeichnet die Geschichte der Ostbüros von SPD, CDU und FDP nach. Insbesondere am Beispiel des SPD-Büros, das von den nachfolgend durch CDU und FDP gegründeten Institutionen vorbildhaft betrachtet wurde, wird der Kampf der Akteur/innen um Amnestien und Entlassungen erläutert. Die nachträgliche Einordnung unter geschichtspolitischen Aspekten wird durch Zeitzeugen und in der Öffentlichkeit aufgezeigt.
Bodo Ritscher gibt in seinem Beitrag einen Überblick über die wissenschaftliche Aufarbeitung der Geschichte der Speziallager seit 1990. Er wirft hierbei vor allem die Frage auf, weshalb die Speziallager nach der deutschen Vereinigung vielfach als „Neuentdeckung“ angesehen wurden, obgleich bereits seit Ende der 1940er Jahre verschiedene umfangreiche Berichte von entlassenen Häftlingen existieren, welche vor einsetzen der Ost/West-Entspannungspolitik durchaus von einer breiteren Öffentlichkeit wahrgenommen wurden. Es werden von dem Autor verschiedene Desiderate herausgearbeitet, die einen Forschungsbedarf erkennen lassen, beispielsweise in Bezug auf Verhaftungsursachen und die Zusammensetzung der Lagergesellschaft und des Lagerpersonals in den Speziallagern. Ein weiteres nicht ausreichend erfasstes Forschungsfeld sieht der Autor in vergleichenden Arbeiten zu verschiedenen Lagern innerhalb des sowjetischen Lagersystems. Der Vergleich mit den nationalsozialistischen Lagern wird von ihm allerdings nicht empfohlen.
In einem weiteren Beitrag thematisiert Ines Reich den Mangel an archäologischen Forschungsarbeiten zu den Speziallagern. Die Problematik, der sich Orte mit mehrfacher Vergangenheit gegenübergestellt sehen, dass Ausgrabungsobjekte gar nicht oder nur unter großen Schwierigkeiten der jeweiligen historischen Phase zugeordnet werden können, wird anhand von Beispielen erläutert.

Die Gedenkstätten ehemaliger Speziallager

Drei weitere Beiträge befassen sich mit den Gedenkstätten, die an den Orten der ehemaligen Speziallager errichtet wurden. Annette Kaminsky gibt einen Überblick über die verschiedenen Mahn- und Gedenkorte, deren konzeptionelle Ausrichtung und zu den Debatten, die im Zuge ihrer Entstehung geführt wurden.

Bettina Greiner setzt sich mit der Rolle der Opfer und der Rezipienten und ihrem Status in der geschichtspolitischen Einordnung der Speziallager und der Entwicklung von Gedenkstätten auseinander. Petra Haustein zeichnet schließlich die Auseinandersetzungen um die Entwicklung einer Gedenkstätte an einem Ort mit „doppelter Vergangenheit“ am konkreten Beispiel der Gedenkstätte Sachsenhausen nach.

Erinnern

Bernd Faulenbach und Volkhard Knigge geben einen Einblick in gesellschaftliche Erinnerungskulturen. Faulenbach widmet sich den Veränderungen des öffentlichen Erinnerns seit den 1990er Jahren, und stellt die Spezifika des Erinnerns an die verschiedenen Systeme vergleichend nebeneinander. Es werden auch (außer-) europäische erinnerungspolitische Entwicklungen thematisiert. Knigge plädiert in seinem Beitrag dafür, die Mehrschichtigkeit und Doppelverantwortung von Gedenkstätten mit „doppelter Vergangenheit“ als Chance zu begreifen und das öffentliche Erinnern dahingehend zu formen.

Opferhierarchien und Generationenkonflikte

Alexander von Plato zeigt in seinem Beitrag eine „Überkreuzentwicklung“ der Opferhierarchien beider autoritärer Systeme auf. Diese Entwicklung, so konstatiert er, hängt stark von politischen Veränderungen und aktuellen erinnerungspolitischen Interessen ab. Auch Christian Schneider thematisiert das Vorhandensein von Opferhierarchien. Diese führen wiederum zu einer Hierarchisierung von Leidenserfahrungen und zu einem „Empathieverbot“ auf Seiten der Nachgeborenen, wie der Autor zu zeigen versucht. In diesem Sinne versucht er einen psychoanalytischen Blick auf Generationenkonflikte und die damit verbundenen Auswirkungen auf die Geschichtsdeutung zu eröffnen. Norbert Frei stellt schließlich eine Verbindung zwischen der Erfahrung des Nationalsozialismus und folgenden Kriegen (wie im Kosovo und im Irak) her. Er konstatiert hierbei, dass es im Zuge neuer deutscher Kriegsbeteiligungen zu einer Umcodierung des Lehrsatzes „Nie wieder Krieg“ hin zu „Nie wieder Auschwitz“ gekommen sei. Anhand dieser Feststellung zeigt er außerdem die unterschiedlichen Phasen der NS-Aufarbeitung in der BRD seit 1945 auf.

Fazit

Der Band bietet eine ausführliche Einführung in die Geschichte der Speziallager und ihrer wissenschaftlichen und erinnerungskulturellen Aufarbeitung. Er bietet daher eine gute Möglichkeit, um sich einen Überblick über die verschiedenen Debatten zu verschaffen und einen Einblick in den aktuellen Forschungsstand zu erhalten. Es wird in den verschiedenen Beiträgen immer wieder deutlich, dass die Autor/innen klar im Feld der Forschung und erinnerungspolitischen Aufarbeitung der Speziallager zu verorten sind. Aus diesem Grunde ist eine sehr klare Schwerpunktsetzung erkennbar, die die nationalsozialistische Vergangenheit teilweise ausschließt. In mehreren Beiträgen wird die Forderung nach regimevergleichenden Forschungsarbeiten laut, wohingegen selten Möglichkeiten zur Vermeidung von Gleichsetzungen aufgezeigt werden, auch wenn dies dennoch von allen Autor/innen als wichtiges Ziel herausgearbeitet wird. Es ist daher zu empfehlen, den Band in Verbindung mit weiterführender Literatur, die noch andere Perspektiven aufzeigt, zu bearbeiten.
Der Band richtet sich in erster Linie an Mitarbeiter/innen von Gedenkstätten und Träger der politischen Bildung. Aufgrund der akademischen Sprache und der inhaltlich voraussetzungsvollen Texte eignet er sich eher für die didaktische und theoretische Erarbeitung pädagogischer Konzepte, oder für die Nutzung in Hochschulseminaren. Der Besuch einer Gedenkstätte oder die theoretische Auseinandersetzung mit dem Thema kann anhand der Inhalte durch allgemeine oder spezifische Fragen nach der gesellschaftlichen Wahrnehmung und Aufarbeitung von Geschichte bereichert werden. Da es sich bei dem Band um die Dokumentation einer Tagung handelt, die 2005 in der Gedenkstätte Buchenwald stattgefunden hat, kommt es teilweise zu Themendopplungen und -überschneidungen. Es empfiehlt sich daher, einzelne Beiträge schwerpunktmäßig zu behandeln. 

 

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