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1933. Der Anfang vom Ende des deutschen Judentums

Ein Online-Projekt des Jüdischen Museums Berlin

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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Henriette Kolb ist Kunsthistorikerin und arbeitet als Projektmanagerin und Redakteurin in der Medienabteilung des Jüdischen Museums Berlin.

Von Henriette Kolb

»Heute ist also Hitler Reichskanzler, eine nette Gesellschaft, na die werden auch mit Wasser kochen, bleibt abzuwarten was nun kommt!« Das schreibt Rosa Süss aus Mannheim am 30. Januar 1933 an ihre Tochter und ihren Schwiegersohn, die in Italien auf Hochzeitsreise sind. Skeptisch, aber nicht übermäßig beunruhigt kommentiert sie so die Machtübertragung an die Koalition von NSDAP und DNVP und die Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler. Wie rasch und konsequent die neue Regierung ihre antidemokratische und antisemitische Gesinnung in praktische Politik umsetzen würde, kann sie, wie vermutlich die meisten deutschen Juden, nicht ahnen. 

Der Brief steht am Beginn eines Online-Projekts, mit dem das Jüdische Museum Berlin den 80. Jahrestag des Beginns der NS-Diktatur begleitet. Bis Ende 2013 wird unter www.jmberlin.de/1933 alle 3-5 Tage ein Dokument oder Foto aus dem Jahr 1933 veröffentlicht und sein biografischer und historischer Kontext erläutert. Die Objekte stammen aus dem Archiv des Jüdischen Museums und aus dem Leo Baeck Institute, das eine Dependance am Museum unterhält. Es sind überwiegend Familiendokumente, die durch Nachlässe und private Stiftungen in den Bestand gelangt sind: berufliche und private Korrespondenz, Tagebücher, Ausweisdokumente, Bescheinigungen, Notizen, Familienfotos, Urlaubsschnappschüsse. Sie legen Zeugnis ab über die individuellen Folgen des organisierten und unorganisierten Antisemitismus, dem die Betroffenen 1933 ausgesetzt waren: wie etwa die knappe Mitteilung der Firma Telefunken an ihren langjährigen Mitarbeiter Sergius Reiter, dass er am 1. April "anlässlich des Boykotts" beurlaubt sei, "bis wir Ihnen eine weitere Nachricht zukommen lassen"; das Protokollbuch des Turnvereins St. Pauli, das den erzwungenen Rücktritt des jüdischen Vereinsvorsitzenden Ludwig Nathan dokumentiert; der Beschwerdebrief, in dem der Maler Jakob Steinhardt von seiner willkürlichen Verhaftung durch die SA und von Drohanrufen berichtet.

Doch es gibt auch Dokumente des weiterhin vorhandenen alltäglichen Lebens: Fotos vom Ostseeurlaub, ein Konzertprogramm, ein Poesiealbum, eine bestandene Promotionsprüfung. Dann sind es nicht die Objekte selbst, an denen Diskriminierung und Verfolgung abzulesen sind. Das rührende Foto der sechsjährigen Malka Kahan im Kostüm eines Hotelpagen lässt nicht erahnen, dass das Mädchen 16 Monate später Deutschland verlassen musste. Ein Schwimmzeugnis zeugt von einem wahrscheinlich stolzen Moment im Leben der elfjährigen Felice Schragenheim – einige  Jahre später wurde Juden das Betreten von öffentlichen Schwimmbädern verboten.

Es ist nicht das Anliegen des Projekts, eine überblickshafte Darstellung zu geben, politisch-gesellschaftliche Strukturen zu analysieren oder Ereignisgeschichte zu liefern. Absicht ist es vielmehr, die Verfolgungs- und Entrechtungspolitik des NS-Regimes anhand der individuellen und konkreten Auswirkungen auf die Betroffenen und deren Reaktionen aufzuzeigen. Die Leser/innen erhalten auch nicht von vornherein einen in sich geschlossenen Überblick, denn wir präsentieren die Dokumente in einer kalendarischen Struktur, wie man sie von Webblogs kennt und auch von vergleichbaren Projekten benutzt wird (wie zum Beispiel „Die Quellen sprechen“, „on this day“ oder „32 Postkarten“). In chronologischer Abfolge und synchron zum Jahr 2013 werden die Einträge veröffentlicht und einzelne Begebenheiten und Schicksale vorgestellt, die sich nach und nach zu einem Bild zusammensetzen. Erst wenn man das Projekt über einen längeren Zeitraum verfolgt, wird deutlich, welch tiefer Einschnitt das Jahr 1933 für das Leben der deutschen Juden bedeutete. Mit allen Mitteln, in allen Lebensbereichen wird ihnen signalisiert: Ihr seid hier nicht mehr erwünscht.

Zu einem Gedenkjahr mit einer Vielzahl von Überblicks- und Spezialausstellungen, Veranstaltungen und Publikationen – man schaue sich nur das Programm des Berliner Themenjahrs "Zerstörte Vielfalt" an, zu dem auch das hier vorgestellte Online-Projekt gehört –will das Jüdische Museum Berlin seinen museumsspezifischen Beitrag leisten. So ist die besondere Perspektive, die das Projekt einnimmt, auch die eines Ortes, der Dinge bewahrt und anhand derer Geschichte vermittelt. Objekte als historische Quellen zu entschlüsseln, ihren Kontext darzustellen und die mit ihnen verbundenen Geschichten lebendig zu machen, gehört zu den zentralen musealen Aufgaben. Das Archiv des Jüdischen Museums praktiziert diesen Ansatz seit langem in seinen erfolgreichen Archivworkshops mit Schüler/innen und Student/innen. 

Wenn man also abschließend fragt, was das Projekt im Rahmen des Historischen Lernens leisten kann, sind mehrere Aspekte zu nennen:

1. Die kalendarische Struktur legt den Fokus auf den Moment, für den das Dokument steht. Jede Quelle ist zudem mit einer bestimmten Person, einem bestimmten Schicksal verbunden. In der Auseinandersetzung wird Geschichte konkret, rücken die betroffenen Menschen in den Mittelpunkt, kann man sich zu ihnen und ihrer Lebensgeschichte in Beziehung setzen.

2. In der Abfolge der Objekte zeigt sich aber auch die Struktur hinter den Einzelfällen. Wir neigen dazu, die NS-Diktatur vom Holocaust aus zu betrachten, doch es reicht schon, sich die ersten Monate anzuschauen, um zu erkennen, wie die Diskriminierungs- und Verfolgungspolitik funktioniert. Auf den ersten Blick vielleicht nicht so spektakulär wirkende Vorgänge – ein erfolgreicher Schriftsteller kann seinen neuesten Roman nicht mehr veröffentlichen, ein junger Mann muss seinen Fußballverein wechseln, die Fenster eines Geschäftes werden eingeschlagen –, zeigen in der Summe, wie das Klima feindseliger wird. Und zudem lässt sich auch fragen, inwieweit Ausgrenzungsmechanismen, denen Juden im privaten, nachbarschaftlichen und beruflichen Umfeld ausgesetzt waren, auch in der heutigen Gesellschaft zu beobachten sind.

3. Das Online-Projekt bietet zudem die Möglichkeit, sich mit sehr verschiedenartigen Quellen kritisch auseinanderzusetzen und ihre Aussagekraft zu diskutieren: Was verbirgt sich hinter dem sachlichen Behördendeutsch? Was lässt sich an den vielen Stempel im Pass ablesen? Transkriptionen von allen Dokumenten und Lupenfunktionen erleichtern dies.

4. Die Zusammensetzung einer Sammlung ist Ergebnis von Zufällen, Gelegenheiten und Fügungen. Es haben sich naturgemäß mehr Nachlässe von Menschen erhalten, die noch rechtzeitig aus Deutschland fliehen konnten, als von solchen, die ermordet wurden oder im Versteck überlebten. Das Projekt gibt Anlass darüber nachzudenken, welche historischen Zeugnisse uns etwas über die Vergangenheit erzählen können und welche Aufgabe dabei Archiven und Museumssammlungen zukommt.  

 

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