Zustimmung, Opportunismus und Verantwortung. Die Machtübergabe 1933 und das historische Lernen
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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel Sie müssen angemeldet sein, um das Benutzerprofil zu sehen |
Von Christoph Hamann
„Unbehelligt vom Ausland und verborgen vor den meisten Deutschen, konnten die Machthaber des Reiches in den weiten Räumen des Ostens die Endlösung der Judenfrage durchführen.“ Mit diesem Satz eröffnete noch 1986 ein bundesdeutsches Schulbuch sein Kapitel über den Holocaust. Weder der Schulbuchverlag noch die Lehrmittelzulassung in den Kultusministerien hatten an dieser Einleitung Anstoß genommen. Heute liest der Rezipient den apologetischen Subtext jedoch unweigerlich mit: Die Alliierten werden hier implizit in die Mitverantwortung für den Völkermord genommen, die Deutschen entlastet und das Verbrechen irgendwo im Nirgendwo des Ostens verortet. Die Sprache der Vernichtungstechnokratie verschleiert zudem das konkrete Morden.
Der damals offenbar unhinterfragte Satz liest sich heute als ein Skandal. Dieser Wahrnehmungswandel ist ein Indikator für die Veränderungen im Umgang mit der Geschichte des Nationalsozialismus in dem letzten Vierteljahrhundert. Sie wird heute mit einem anderen Schwerpunkt als vor Jahrzehnten beforscht. Erst seit den 1980ern, vor allem aber in den 1990er Jahren rückten Holocaust und Völkermord in den Fokus des wissenschaftlichen Interesses. Dessen umfassende mediale Darstellung verankerte das staatliche Gewaltverbrechen und die individuelle wie gesellschaftliche Mitverantwortung am Rassismus und Völkermord breit im kollektiven Bewusstsein. Eine apologetische Flucht aus der Schuld und Verantwortung wie sie in dem oben formulierten Satz deutlich wird, ist deshalb heute in der Öffentlichkeit allenfalls randständig möglich.
Der Nationalsozialismus wird heute also in erster Linie von seinem Ende her interpretiert. Dies aber war lange nicht so - Jahrzehnte standen die „Auflösung der Weimarer Republik“ (Karl Dietrich Bracher) und das Jahr 1933 sowie die „nationalsozialistische Machtergreifung“ (Karl Dietrich Bracher/Wolfgang Sauer/Gerhard Schulz) im Vordergrund der zeitgeschichtlichen Forschung zum „Dritten Reich“. Bonn sollte und durfte, so lautete der erinnerungspolitische Imperativ mehr als zwei Jahrzehnte lang, auf gar keinen Fall mehr Weimar werden. So diente die Analyse der Strukturdefizite der ersten Demokratie und der Machtübergabe 1933 vor allem auch der politischen Erneuerung nach 1945. Wissenschaft hatte eine politische Funktion.
So weit, so gut: In wissenschaftlicher und erinnerungspolitischer Hinsicht ist dieser Paradigmenwechsel von „1933“ zu „Auschwitz“, auf den Holocaust und Völkermord zweifelsohne zu begrüßen. Hatte doch die vorherige Konzentration auf den Machtübergang den (ob beabsichtigten oder nicht intendierten) Kollateralgewinn, sich nicht mit dem Holocaust befassen zu müssen. Beschert aber das „Verblassen der historischen Zäsur von 1933“ (Norbert Frei) nicht auch Nachteile – gerade für das historische Lernen? Bietet nicht gerade das Jahr der Etablierung der NS-Diktatur in Staat und Gesellschaft viele Anknüpfungspunkte für die Antwort auf die Frage, warum und wie die Diktatur funktionierten konnte?
Wie wurde die Etablierung der Diktatur im Jahr 1933 lange interpretiert? Ohnmacht musste sich dem Terror beugen – so das simple Schema. Oder diejenige Variante, die den Deutschen zumindest einen Hauch von Mitschuld attestierte: „Verführung und Gewalt“ (Hans-Ulrich Thamer). Demokratische Institutionen in Staat und Gesellschaft wurden, so der Sprachgebrauch, „zerschlagen“ und „gleichgeschaltet“. Diese manichäische Perspektive blendet in ihrer Semantik wesentliches aus: nämlich die bereitwillige „Selbstnazifizierung“ (Norbert Frei) eines großen Teils der deutschen Gesellschaft. So ließ zum Beispiel ein nicht erwarteter Ansturm auf die NSDAP die Zahl ihrer Mitglieder schon bis Mai 1933 auf geschätzte 2,5 Millionen steigen. Nach der Aufhebung der Aufnahmesperre stieg die Zahl ab 1937 auf zuletzt 8,5 Millionen Parteimitglieder.
Die frühzeitige Einführung des sogenannten Arierparagraphen in Vereinen, Verbänden und Berufsorganisationen war nicht nur ein Ausdruck von Opportunismus und Gehorsam, sondern ebenso auch einer verbreiteten judenfeindlichen Haltung. Ohne gesetzliche Grundlage wurden auch Berufsverbote für „Nichtarier“ eingeführt (Ev. Kirche Preußen). Der Rassismus als beherrschende Staatsdoktrin wurde hingenommen, das gesellschaftliche, rechtliche und politische Prinzip der Ungleichheit wurde nicht nur akzeptiert, sondern eben auch zunehmend in aller gesellschaftlichen Breite praktiziert. Im April 1934 resümierte z. B. der Journalist Ferdinand Fried die „Gleichschaltung“ des Ullstein-Verlages in Berlin 1933: „Die Umstellung erfolgte gründlich, wobei das Wunderbare weniger die Schnelligkeit war, mit der diese Umstellung erfolgte, als die Tatsache, dass sie ganz überwiegend von denselben Männern durchgeführt wurde, die sich bislang auf das heftigste gewehrt haben. Der Staat griff hier also so gut wie gar nicht ein.“
Die historische Bildung kann an dem Verhalten vieler Deutscher aufzeigen, dass die Zustimmungsbereitschaft groß und der Opportunismus noch größer waren. Eine Bereitschaft, die auf verbreiteten antidemokratischen Einstellungen fußte und ein Opportunismus, der den eigenen Vorteil nicht selten ausgesprochen genau im Blick hatte. Dies zeigte sich auch später: Viele nichtjüdische Deutsche bereicherten sich am Besitz Deportierter bei Versteigerungen. Die Beschäftigung von Zwangsarbeiter/innen ermöglichte Arbeitgebern billig Mitnahmeeffekte – gleichviel ob in der Landwirtschaft oder Kleinbetrieben, in Kirchen oder Konzernen.
Das historische Lernen kann auch die menschenrechtlich wie pädagogisch relevante Frage nach der individuellen Verantwortung des Einzelnen in der Phase der Etablierung der NS-Diktatur stellen. Also während eines Zeitraums, in dem die individuellen Handlungsspielräume noch vergleichsweise groß und die Zwangslagen dagegen schwächer waren. Dies vor allem im Unterschied zu den Phasen der politischen wie ideologischen Stabilisierung des NS-Regimes. So erforderte die Hilfe für verfolgte Jüdinnen und Juden in der extremen Situation der Deportationen ab 1941 zum Beispiel sehr viel persönlichen Mut. Ungleich viel mehr, als am 1. April 1933 den „Judenboykott“ der Nazis zu boykottieren, indem man in einem Geschäft eines jüdischen Inhabers einkaufen ging – und dies trotz der postierten SA-Männer.
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- 20 Feb 2013 - 09:40