Projekt

Grenzüberschreitungen – ein Versuch über die Grenze hinweg historisch zu lernen

Ondřej Matějka studierte Geschichte und Politikwissenschaft in Prag, ist Leiter von Antikomplex, Experte für Geschichtsdidaktik und politische Bildung sowie Dozent an der Karlsuniversität in Prag.

Von Ondřej Matějka

Das Projekt "Grenzüberschreitungen" entstand als eine deutsch-tschechische Initiative mit dem Ziel, einer grenzüberschreitenden Region durch die Beschäftigung mit der Regionalgeschichte einen Impuls neuer Art zu bieten. Die Region des Projekts umfasst Westböhmen (Region Karlsbad), Westsachsen (Vogtland) und Ostthüringen. So sehr es sich auch um Regionen mit einer unterschiedlichen historischen Entwicklung handelt, es gibt dennoch klare Zusammenhänge und Gemeinsamkeiten, die es – in Anbetracht der offenen Grenze und des starken gegenseitigen Grenzverkehrs – Sinn macht zu thematisieren. Die wohl prägendste Gemeinsamkeit ist die Strukturschwäche. Alle drei in das Projekt involvierte Regionen leiden unter Arbeitslosigkeit, Bevölkerungswegzug sowie unter der relativ großen Entfernung zu wichtigen Zentren.

Eine Initiative – drei Partner

Die Initiative brachte vier unterschiedliche Partner zusammen: Dialog mit Böhmen e.V. (Greiz/DE), die Technische Universität Chemnitz (DE), das Staatliche Kreisarchiv Cheb (CZ) und die Bürgervereinigung Antikomplex (Prag, CZ). Lernen aus der Geschichte hat Antikomplex in einem weiteren Beitrag bereits näher vorgestellt. Das deklarierte gemeinsame Ziel ist es, in der genannten grenzüberschreitenden Region die Identifizierung der dortigen Einwohner mit ihrer Region zu stärken. Wir gehen davon aus, dass eine Regionalentwicklung nicht nur aus materiellen Investitionen bestehen sollte, sondern dass man ebenso auch in die Beziehung der Menschen zu ihrer Region investieren muss. Kurz gesagt – eine neue Autobahnausfahrt hilft der Entwicklung einer Region nicht wirklich, wenn es keine Menschen gibt, die in dieser Region gern leben und bereit sind, für die Region auch etwas zu tun.

Ein Projekt – drei Anteile

Nach längeren Schwierigkeiten ist es gelungen, ein gemeinsames Projekt mit dem Titel "Grenzüberschreitungen" zu organisieren und eine Finanzierung aus dem Programm des Sächsisch-tschechischen Ziel 3/Cíl 3 für drei Jahre zu bekommen. Das Projekt besteht aus drei Teilen: Der erste Teil steht für die historische Forschung. Unter Leitung des Instituts für europäische Regionalgeschichte an der TU Chemnitz entstehen zwei Dissertationen zur Geschichte der am Projekt beteiligten Regionen. Der zweite Teil steht für Veranstaltungen für die Öffentlichkeit. Darunter sind vor allem Fachtagungen, die als "Greizer Kolloquien" bezeichnet werden sowie Studienreisen zu verstehen. Der dritte Teil ist für Schüler/innen bestimmt. Alle drei Teile werden durch den oben genannten roten Faden verbunden – durch regionale Geschichte werden wichtige Beziehungen zur Region aufgebaut. Wir hoffen auch, dass wir darüber hinaus eine Stärkung des an der Region interessierten und grenzüberschreitenden Netzwerks erzeugen können.

Ziele des Schulprojekts

Im Einklang mit dem Projektziel geht es auch im Schulprojekt darum, den Schüler/innen einen stärkeren Bezug zu ihrer Region und damit auch zu ihrer Nachbarschaft zu vermitteln. Dabei muss man sich vor Augen führen, dass es sich bei den Herkunftsorten (Cheb, Kraslice, Mylau und Greiz) in allen vier Fällen um Orte handelt, in denen die Schüler/innen ihrer eigenen Aussage nach in der überwiegenden Mehrheit nicht bleiben wollen. Dies mag bei Jugendlichen in ländlichen Gebieten normal sein. Für unsere Region gilt jedoch, dass sie selbst von den meisten Erwachsenen nicht positiv wahrgenommen wird. Wir versuchen, das Bildungsziel des Schulprojekts mit Hilfe von Regionalgeschichte auf der einen und grenzüberschreitender Zusammenarbeit mit Schüler/innen auf der anderen Seite zu erreichen. Mit Hilfe des Projekts sollen die Schüler/innen in der Lage sein, konkrete, selbst gewählte geschichtliche Inhalte eigenständig zu erforschen.

Beteiligte des Schulprojekts

In das Schulprojekt haben wir vier Schulen eingebunden: Das Gymnasium Cheb, die Grundschule in Kraslice (in Tschechien umfasst die Grundschule die 1. bis 9. Klasse), das Ulf-Merbold-Gymnaisum in Greiz (Thüringen) und die Schule Vogtland Futurum aus Mylau (Sachsen). Die Idee ist, eine Partnerschaft dieser vier Schulen über den Zeitraum von drei Jahren und über die Grenze hinweg aufzubauen. In jedem Schuljahr wird die Gruppe der beteiligten Schüler/innen neu zusammengesetzt, sodass wir im Rahmen des Projektes insgesamt auf ca. 100 involvierte Schüler/innen aus den Klassen 8 bis 10 kommen sollten. Die jeweiligen Schulkoordinatoren sind in allen Fällen Geschichtslehrer/innen, wobei die beiden tschechischen Lehrer/innen auch sehr gut Deutsch sprechen. Die Schüler/innen kommunizieren über eine Facebookgruppe, die in die Webseite des gesamten Projektes integriert ist.

Gemeinsame und schulspezifische Workshops

Das Projekt ist nach Schuljahren organisiert. In jedem Schuljahr finden drei gemeinsame Workshops statt. Am Anfang lernen sich die Schüler/innen untereinander kennen, sie werden mit den Projektzielen noch enger vertraut gemacht und vor allem gibt es mehrere methodische Workshops. Nicht zuletzt wird in einem Auswahlverfahren das gemeinsame Thema für das ganze Schuljahr bestimmt. Der zweite Workshop findet etwa in der Mitte des Schuljahres statt. Dort werden die Ergebnisse der bisherigen Arbeit vorgestellt und ausgewertet, es gibt thematische Exkursionen und vor allem werden die Beziehungen unter den Schüler/innen weiter ausgebaut und vertieft. Beim dritten Workshop stellen sich die Schüler ihre Arbeit gegenseitig vor und sie wird auch ausgewertet. Zum Schluss werden von den Organisatoren des Projektes, das heißt von Antikomplex, die Ergebnisse der Schülerarbeit in die Form einer Ausstellung gebracht, die dann am Anfang des darauffolgenden Schuljahres auch für die Öffentlichkeit eröffnet und präsentiert wird. Nach drei Schuljahren wird aus den Ergebnissen eine Publikation entstehen, ein historischer Reiseführer durch die betroffene Region aus der Perspektive der Schüler/innen.

Erfahrungen im Schulprojekt

In den Workshops und in der Zusammenarbeit mit den Lehrer/innen haben wir uns vor allem auf die Arbeit mit Quellen und Zeitzeugen konzentriert und darüber hinaus ein besonderes Augenmerk auf die Fähigkeit, selbst eine "Geschichte" zu erzählen, gelegt. Thematisch haben die Schüler/innen im ersten Schuljahr das Thema "Ausflugsziele in der eigenen Stadt und der Umgebung" gewählt, in dem zweiten Schuljahr war es das "Alltagsleben in den 1970er und 1980er Jahren". Die Erfahrungen sind sehr vielfältig. Während der gemeinsamen Workshops haben neben der inhaltlichen Arbeit den Schwerpunkt auf die Begegnung gelegt. Eine intensive inhaltliche Zusammenarbeit erwies sich aufgrund der Sprachschwierigkeiten der tschechischen und der deutschen Jugendlichen schwieriger als erwartet. Aus diesem Grunde mussten wir die Auswertung der bisherigen historischen Forschung in sprachlich getrennten Gruppen durchführen. Umso mehr konnten wir dann auf dem Gebiet des interkulturellen Lernens aufbauen und profitieren.

Was sich allerdings als sehr gelungen erwiesen hat, das sind die thematischen Überschneidungen über die Grenze hinweg. Die erforschten Inhalte lassen sich problemlos nebeneinander stellen und vergleichen. Sowohl bei dem Thema "Ausflugsziele" als auch bei dem Thema "Alltagsleben in den 70er und 80er Jahren" konnten klare Paralellen in der Entwicklung der beiden Länder und Gesellschaften festgestellt werden. Dadurch, dass die auf den ersten Blick sehr unterschiedliche Geschichte Deutschlands und Tschechiens in den von uns erforschten Regionen viele Gemeinsamkeiten aufweist, können wir in diesen Fällen von grenzüberschreitenden Phänomenen sprechen.

Laut Feedback der Schüler/innen trägt das Projekt dazu bei, dass sie im Ergebnis mehr über ihre Region wissen, was einen positiven Einfluss auf die Haltung zu ihr ausübt. Sowohl für die deutschen als auch für die tschechischen Schüler/innen ist der grenzüberschreitende Aspekt überraschend neu. Auch wenn sie in der Nähe der Grenze leben, ist ein Kontakt zum Land und zu den Nachbar/innen, die sich nur wenige Kilometer entfernt befinden, im Normalfall sehr begrenzt, wenn überhaupt vorhanden. Zusammenfassend kann man den bisherigen Erfahrungen nach den Schluss ziehen, dass wir es als sehr sinnvoll erachten, dem grenzüberschreitenden Bildungsprojekt ein weiter gefasstes Thema als die Grenze an sich zu geben. Die Jugendlichen lernen gemeinsam über die Grenze hinweg, sie nehmen diese auch wahr, allerdings steht sie nicht mehr im Vordergrund. Diese Dualität halten wir für gelungen, weil sie von den Schüler/innen als etwas Natürliches wahrgenommen wird. So entsteht durch die gemeinsame Arbeit über die teils gemeinsame Geschichte deutsch-tschechische Nachbarschaft.

 

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