Methode

"Heute geh’n wir ins Archiv …"

Lernangebote im außerschulischen Lernort Archiv

Roswitha Link ist Referentin für Historische Bildungsarbeit im Stadtarchiv Münster, hat seit 2010 einen Lehrauftrag für Archivpädagogik an der WWU Münster und ist (Gründungs-)Mitglied mehrerer Arbeitskreise und Ausschüsse zu verschiedenen Themen der Archivpädagogik; sie hat mehrfach in der Zentraljury des Geschichtswettbewerbs des Bundespräsidenten mitgearbeitet.

Von Roswitha Link

Der Besuch eines Archivs als außerschulischem Lernort gehört immer häufiger in den Rahmen des Geschichtsunterrichts. Willkommen sind Schulklassen und einzelne Schüler/innen nicht nur in den naheliegenden Kommunalarchiven – auch Kreisarchive, Landesarchive/Staatsarchive und sogar Kirchen-, Universitäts- und Wirtschaftsarchive haben sich längst auf den Besuch von Kindern und Jugendlichen in ihren Häusern eingestellt.

Archive sind ein unverzichtbarer Teil der Kulturlandschaft unserer Gesellschaft, sie sind öffentliche Einrichtungen, die von jedem Interessierten besucht und genutzt werden können, jedoch ist die Hemmschwelle zur tatsächlichen Nutzung eines Archivs nicht nur bei Schüler/innen meistens recht hoch. Noch immer existiert die Vorstellung von "geheimen" Archiven, die allenfalls von Wissenschaftler/innen (und vielleicht noch Familienforscher/innen) betreten werden dürfen, von verstaubten Regalen, unzugänglichen Magazinen und griesgrämigen Archivar/innen. Dazu trägt bei, dass Archive zwar meistens geregelte Öffnungszeiten haben, doch im Gegensatz zu Büchereien und Museen sind die Türen in der Regel verschlossen, man muss klingeln und sogar seine Identität preisgeben, um hineinzugelangen. Die Dokumente, die man hofft zu finden, stehen nicht in Regalen bereit, aus denen man selbst auswählen könnte. Und liegt endlich eine Akte auf dem Tisch, ist sie nicht lesbar, weil sie mit der Hand geschrieben wurde – in alter deutscher Kurrentschrift. Für die erfolgreiche Arbeit mit Quellen im Archiv sind grundlegende Kenntnisse der Funktion und Aufgaben dieser Institution sowie der Besonderheiten der Bestände unverzichtbar.

Funktion und Aufgabe der Archive und der resultierende Erkenntnisgewinn

Zu den archivischen Kernaufgaben gehört die "Bewertung" und "Erschließung" von Schrift-, Bild- und Tondokumenten. Da die Behörden und Verwaltungen selbst keine Akten vernichten dürfen, liegt die Entscheidungshoheit über das aufzubewahrende und zu kassierende Schriftgut bei den zuständigen Archiven. Die Tatsache, dass heutzutage nur etwa ein bis zehn Prozent der vorhandenen Daten, Schriften usw. dauerhaft in den Archivmagazinen archiviert wird, dass auch aus zurückliegenden Zeiten nur ein Teil der Dokumente überliefert ist und dass es Zeiten mit sehr eingeschränkter Schriftlichkeit gab, ermöglicht den Schüleri/nnen einen elementaren Einblick in die Voraussetzungen für die Geschichtsschreibung. Hier werden die Lücken in der Überlieferung augenscheinlich, hier erkennen sie den gravierenden Unterschied zwischen Vergangenheit und Geschichte. Archive sind "Hüter und Bildner der Schriftüberlieferung" [1], durch ihre Entscheidungen über Bewahren versus Vernichten konstruieren sie das Bild der Geschichte wesentlich mit.

Mit der "Erschließung" sorgen die Archive dafür, dass die dort aufbewahrten Dokumente der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Jedoch können nur verzeichnete Akten, Fotos, Stadtpläne, Plakate usw. wiedergefunden werden. Die inhaltliche Beschreibung der Dokumente bei der archivischen Bearbeitung liefert die Stichworte, mit deren Hilfe Forscher/innen die Dokumente finden können. Passen die archivischen Stichworte nicht zur Terminologie beispielsweise junger Spurensucher/innen, wird das Finden von Archivalien schwierig. Archive arbeiten entweder mit computergestützten Datenbanken oder sie erstellen "Findbücher", die nach Beständen, d. h. nach den Verwaltungseinheiten, die ihre Dokumente an das Archiv abgegeben haben, gegliedert sind.

Konstruktcharakter von Geschichte

Machen Lernende sich mit den beiden zentralen Aufgabenbereichen der Archive vertraut, können sie bereits deutlich Elemente des Konstruktcharakters von Geschichte erkennen. Sich des Konstruktcharakters von Geschichte bewusst zu sein, bildet eine wichtige Voraussetzung für das eigene Lernen, Forschen und Entdecken im Archiv.

Besonderheiten archivischer Quellen und Lernchancen

Archivische Quellen haben mit denen im Schulbuch nur wenige Gemeinsamkeiten, denn Originalquellen unterscheiden sich maßgeblich von gekürzten, vereinfachten, kurz "didaktisierten" Quellen in gedruckter Form. So spannend es ist, originale Dokumente aus früheren Jahrhunderten mit allen Sinnen wahrzunehmen – für die konkrete Bearbeitung wird die Authentizität zur Herausforderung. Akten, Protokolle, Rechnungsbücher oder Pläne sind nicht angelegt worden, um dem historisch interessierten Menschen von heute Informationen zu liefern. Sie sind in einer heute ungeläufigen Verwaltungssprache verfasst, die viele Floskeln und zeitgenössische Redewendungen enthält, gelegentlich sind sie äußerst detailliert oder verschweigen das Wesentliche. Manchmal verspricht der Aktentitel zu viel, der Inhalt entspricht nicht den Erwartungen, manchmal ist die Beschreibung in der Verzeichnung nicht aussagekräftig genug, vielleicht besteht eine Akte nur aus drei Blättern, vielleicht liegen zwischen den Aktendeckeln aber auch 300 engzeilig beschriebene Seiten – nicht mit der Schreibmaschine, sondern mit der Hand, mit Tinte und Feder in "Sütterlin" (deutscher Kurrentschrift) beschrieben.

Schüleri/nnen müssen nun mit den in der Schule erlernten historischen Methoden und der Kenntnis der archivischen Spezifika ihre Informationen aus dem Rohmaterial herausarbeiten. Bei der Analyse unterschiedlicher Dokumente geht es darum, den intentionalen Charakter jeder einzelnen Quelle zu erkennen, Widersprüche, Fehler und Lücken in der Überlieferung zu finden. Sie lernen das "Werkzeug des Historikers" im Lesesaal des Archivs anzuwenden und mit eigenen Themen konkret auszuprobieren.
Bei der Spurensuche geht es um das Sammeln und Zusammensetzen vieler kleiner Hinweise zu einem plausiblen Bild. Die gut überlegte Entscheidung für oder gegen die Einbeziehung einzelner Quellen in die historische Auswertung vertieft den Einblick in die Methode der Re-Konstruktion von Geschichte am konkreten Beispiel.

Checkliste: Quellensuche im Archiv

1. Vorbereitung
Thema festlegen und Fragen entwickeln

  • "Einlesen": Internet, Bücher, Aufsätze
  • Kontakt mit dem Archiv aufnehmen – per Mail oder Telefon: Gibt es Informati-onen im Archiv? Wie sind die Öffnungszeiten? Gibt es noch andere Archive mit Material zum Thema?
  • Werden ältere Quellen genutzt (aus der Zeit ca. vor dem 1. Weltkrieg): Einarbeitung in die deutsche Schrift. Gute Übungen gibt es im Internet (z.B. zum Einstieg oder zum Vertiefen, mit kostenloser Anmeldung) bzw. in entsprechenden Büchern (z.B. in dem hilfreichen Band von Harald Süß: Deutsche Schreibschrift. Lesen und Schreiben lernen. München 2004.)
  • Tipp: Archivalien müssen ausgewählt, „bestellt“ und anschließend von Archivar/innen aus den Magazinen geholt werden. Manchmal ist eine Vorbestellung möglich.

2. Der Besuch im Archiv

  • Nur Schreibwerkzeuge (Block, Bleistift!, Notebook) in den Arbeitsraum mitnehmen; die werden auf jeden Fall gebraucht!
  • Benutzungsantrag ausfüllen, mit der Archivarin/dem Archivar das Thema und die offenen Fragen besprechen, nach weiteren Informationen und Quellen fragen, Kopier- bzw. Scan- oder Fotografiermöglichkeiten klären. Achtung: Alte Dokumente dürfen häufig nicht kopiert werden.
  • Zeit mitbringen, mindestens zwei Stunden einplanen.

3. Die Arbeit mit den Quellen und ihre Auswertung

  • Textquellen vorsichtig durchblättern und nach wichtigen Schriftstücken suchen.
  • Zentrale Texte quellenkritisch bearbeiten: äußere Merkmale, inhaltliche Auswertung, z.B. Wer schreibt was, an wen, wo, warum, auf welche Weise?
  • Evtl. Notizen machen oder abschreiben und unbedingt die Signatur der Quelle genau notieren.
  • Gibt es auch Fotos, Plakate, Zeitungen, Flugblätter …. zum Thema?

Hinweise für Archivbesuche: Von der Grundschule bis zum Ende der Schulzeit

Um die Besonderheiten eines Archivs kennenzulernen und um von den vielfältigen Möglichkeiten zu profitieren, die Archive für das historische Lernen bieten, ist es sinnvoll, Schüler/innen so früh wie möglich mit dieser Einrichtung bekannt und vertraut zu machen. Dazu bietet sich ein gestuftes Vorgehen an.

Die Erstbegegnung findet schon in der Grundschule statt. Dieser Besuch sollte stark erlebnisorientiert sein, die Kinder bemerken beim Gang durch die archivischen Räume besondere Gerüche, bedienen die Rollregalanlage und dürfen wertvolle Schätze (z.B. Urkunden) mit weißen Stoffhandschuhen aus dem Karton nehmen. Das haptische Erlebnis und die Fremdheit von altem Schriftgut erzeugen Faszination und Spannung selbst bei medienverwöhnten Kindern. Letztendlich lernen sie das Archiv als eine Einrichtung kennen, die auch für Kinder zugänglich ist und in der sie Informationen über die Vergangenheit finden können. Schon jetzt sind erste Schrift- und Leseübungen – die Voraussetzung für die spätere Bearbeitung von Textquellen aus der Zeit vor Einführung der Schreibmaschine – einzuplanen. Für Kinder ist das Erlernen der „Geheimschrift“ ein weiteres spannendes Erlebnis.

Die weiterführenden Schulen beginnen im Unterstufenbereich mit den so genannten "Schnupperführungen", bei denen das Archiv mit seinen Aufgabenbereichen und Beständen vorgestellt wird. Um das Interesse und die Aufmerksamkeit der zukünftigen Archivnutzer/innen zu wecken und zu fördern, sind diese Termine stark handlungsorientiert und abwechslungsreich vorzubereiten. Neben den normalen Gruppenführungen bieten sich beispielsweise die Form des Stationenlernens und Rollenspiele an. Die Durchführung sollte in enger Absprache zwischen Schule und Archiv erfolgen, damit das Angebot konkret auf die Zielgruppe ausgerichtet werden kann. Ein besonderes Erlebnis bei diesen allgemeinen Einführungsveranstaltungen ist die Begegnung mit ausgewählten, möglichst unterrichtsbezogenen Archivalien, die von den Schüler/innen gesichtet sowie nach vorgegebenen Kriterien äußerlich und inhaltlich beschrieben werden können. Eine Differenzierung hinsichtlich der unterschiedlichen Quellengattungen ist für eine Unterrichtseinheit im Archiv empfehlenswert. Neben Textquellen findet man nämlich auch Bild- und gelegentlich Tondokumente. Fotos, Postkarten, Plakate und vor allem Stadtpläne zur Erforschung der topographischen Veränderungen vor Ort gehören zum Bestand.

Für den Mittel- und Oberstufenbereich kommen auf den schulischen Lehrplan abgestimmte Angebote mit quellenkritischen Übungen an konkreten Archivalien und erste Versuche im Bereich der Heuristik hinzu. Geschichtsprojekte, Facharbeiten und Leistungskurse Geschichte sollten sich keinesfalls nur auf bereits bearbeitete Quellen in Geschichtsbüchern beschränken. Der Kontakt mit Originalquellen am authentischen Ort ist für sie eine Pflichtaufgabe und bietet Chancen für Entdeckungen. Zur Vorbereitung auf den Besuch im Archiv sollten sich Schüler/innen zunächst intensiv in die vorhandene Literatur einlesen und anschließend einen Fragenkatalog entwerfen, mit dem sie in das Archiv gehen. Zum ersten Besuch im Archiv gehört das Gespräch mit einer Archivarin/einem Archivar. Bei Bedarf erläutern sie die Findmittel, geben weitere Hinweise, zunächst auf gedruckte Materialien, im nächsten Beratungsschritt dann zu den Quellenbeständen.

In dieser Phase des Geschichtsunterrichts im außerschulischen Lernort Archiv werden viele in den Richtlinien und Lehrplänen geforderten Kompetenzen angesprochen und vor allem gefördert. Insbesondere die Sach- und die Methodenkompetenz lassen sich mit Hilfe der Materialvielfalt in Archiven hervorragend üben und die Urteils- und die Handlungskompetenz ergeben sich aus der Übertragung der Erkenntnisse in die Lebensumwelt der Schüler/innen . Diese Übungen sind zudem bestens geeignet für die Vorbereitung auf ein sich anschließendes wissenschaftliches Studium.

Archive und der Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten

Nicht nur für den Schulunterricht bietet sich die Kooperation mit Archiven an, auch für den Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten ist die Einbeziehung von Quellen unterschiedlichster Gattung eine wesentliche Grundlage. Für diesen alle zwei Jahre ausgeschriebenen bundesweiten Wettbewerb für Kinder und Jugendliche bis 21 Jahre sind die Archive mit ihren wertvollen Quellenbeständen unverzichtbare Partner. So stellt Stefan Frindt von der Körber-Stiftung in Hamburg fest [2], dass für die Erarbeitung fast aller prämierten Wettbewerbsbeiträge archivische Quellen in Text- oder Bildform genutzt werden.

Fazit

Archive präsentieren keine "fertigen Geschichten", sie können nur Fragmente der Vergangenheit zur Verfügung stellen, aus denen jede/r die eigene Geschichte verantwortungsvoll rekonstruieren muss. Mit dem entdeckenden Arbeiten in einem Archiv lernen Schüler/innen im Verlauf ihrer Recherche vorhandene Darstellungen kritisch zu hinterfragen, durch intensive und kritische Quellenbearbeitung den Dingen auf den Grund zu gehen und schließlich die eigenen Ergebnisse zu präsentieren. Bezogen auf ihr ausgewähltes Thema lernen sie den forschenden Weg der Historiker/innnen kennen, von der Idee bis zur Darstellung am konkreten selbst gewählten Beispiel. Von der Grundschule bis zum Ende der Schullaufbahn und darüber hinaus können Archive entscheidend mitwirken an der Ausbildung und Förderung eines demokratischen und kritischen historischen Bewusstseins.

Literatur

[1] Franz-Josef Jakobi: Archive und Geschichtsbewußtsein. Zur didaktischen Dimension der Archivarbeit. In: Geschichte und Geschichtsbewußtsein. Festschrift Karl-Ernst Jeismann zum 65. Geburtstag, hg. v. Paul Leidinger und Dieter Metzler. Münster 1990, S. 680-704, S. 696.

[2] Vgl. Stefan Frindt, Ludwig Brake: Schülererfahrungen in der Archivarbeit: Zur Rolle und Bedeutung der Kommunalarchive beim Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten.

 

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