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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel Sie müssen angemeldet sein, um das Benutzerprofil zu sehen |
Von Anna Biewer
Eine gute halbe Stunde sind Besucherinnen und Besucher des Museums der Gedenkstätte Trutzhain im nordhessischen Schwalmstadt zu Fuß unterwegs, bis sie die „Mahn- und Gedenkstätte Waldfriedhof Trutzhain“, so lautet seit 1992 die offizielle Bezeichnung, erreichen. Der Spaziergang führt vom Museum in der ehemaligen Wachbaracke des Kriegsgefangenen-Mannschafts-Stammlagers STALAG IX A Ziegenhain zunächst durch den Ort und vorbei am heutigen Gemeindefriedhof, ehemalig „Alliiertenfriedhof“. Seit 2003 bilden diese Stationen ein gemeinsames Gedenkstättenkonzept.
Die wechselvolle Geschichte Trutzhains vom größten Kriegsgefangenenlager der Wehrmacht zwischen 1939 und 1945 in Hessen bis hin zur Gemeindegründung durch Flüchtlinge und Vertriebene 1951 spiegeln die beiden Friedhöfe in besonderer Weise wider. Als Orte der Erinnerungs- und Gedenkkultur, die Ausgangspunkt für eine vielschichtige historisch-politische Bildung sein können, wurden sie bislang jedoch kaum wahrgenommen. Daher hat die Gedenkstätte und Museum Trutzhain 2012 mit Hilfe des Landesverbands Hessen im Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. ein neues pädagogisches Modul entwickelt, das Schulen und andere Besuchergruppen dazu anregen soll, die Friedhöfe als Lernorte zu entdecken. Der Landesverband Hessen verfolgt bereits seit vielen Jahren das Ziel, ausgewählte Kriegsgräberstätten zu erforschen und auf dieser Grundlage Programme für Schulen und Gruppen anzubieten. Allein in Hessen gibt es 1052 Friedhöfe mit Kriegsgräbern – doch kaum jemand kennt ihre Geschichte(n).
Das pädagogische Modul „Gräber erzählen Geschichte(n)“ ist als ganztägiger Projekttag konzipiert. Das Angebot richtet sich an alle Schulformen ab der 9. Klasse bzw. an Gruppen mit bis zu 35 Personen ab 14 Jahren. Die Ergebnisse werden in Form von Plakaten dokumentiert und können als Ausstellung z.B. der Schulgemeinde zugänglich gemacht werden oder als Grundlage dienen, um Themen zu vertiefen.
Spurensuche auf den Friedhöfen
Der Projekttag startet mit einer Spurensuche auf den beiden Friedhöfen. Mit Hilfe eines Fragebogens erschließen sich die Jugendlichen die Orte selbstständig. Bei einem gemeinsamen Rundgang werden anschließend die Antworten besprochen. Der erste Teil der Spurensuche orientiert sich an den unterschiedlichen Bereichen auf dem Waldfriedhof:
Ende 1941 wurde der STALAG-Friedhof II angelegt, auf dem sowjetische und serbische Tote fernab vom Lagergelände begraben wurden. Die nationalsozialistische Bezeichnung „Russenfriedhof“ ist einer der problematisierten Punkte der Spurensuche. Auch entdecken die Jugendlichen das Grab eines muslimischen sowjetischen Soldaten.
Der Fragebogen führt weiter zu einem Gräberfeld, in dem auch Frauen und Kinder bestattet sind, die nach 1945 gestorben sind. Es handelt sich um Verstorbene aus einem TBC-Sanatorium in Steinatal. Das ehemalige STALAG IX A Ziegenhain diente ab dem Sommer 1946 als Lager für Displaced Persons (DP), zu dem dieses UNRA- bzw. IRO-Krankenhaus[1] gehörte.
Die letzte Station auf dem Waldfriedhof sind die Gräber von deutschen Internierten. Im März 1945 richtete die US-Army in Ziegenhain das Civil Internment Camp 95 ein. 1960 wurden verstorbene Internierte vom Truppenübungsplatz Schwarzenborn hinzugebettet. Der Fragebogen lenkt die Aufmerksamkeit auf die Inschrift eines Gedenksteins, aus der die Begriffe Ehre und Treue hervorstechen. Dies bietet Gelegenheit für eine Diskussion über Täterschaft und Schuld und schlägt den Bogen zu Rechtsextremismus.
Die systematische Ungleichbehandlung der verschiedenen Gefangenengruppen fand ihre konsequente Fortsetzung über den Tod hinaus. Dies wird auf dem ehemaligen „Alliiertenfriedhof“ besonders deutlich. Dort findet der zweite Teil der Spurensuche statt. Die polnischen, westeuropäischen und jugoslawischen Toten wurden nach 1945 auf zentrale Kriegsgräberstätten umgebettet, teilweise in den Heimatländern. Daher stehen im Mittelpunkt das Eingangstor und die Skulptur „Die trauernde Frau“, beides von französischen Kriegsgefangenen gefertigt. Sie sind auf dem heutigen Gemeindefriedhof die einzigen verbliebenen Zeitzeugen. Durch die Spurensuche wird die Frage gestellt, was sie uns heute noch von der Geschichte des STALAG IX A Ziegenhain erzählen können.
Die angebotenen Themen für vertiefende Gruppenarbeit
Dem Rundgang über die Friedhöfe schließt sich eine Phase der Gruppenarbeit an, welche die Themen vertieft und veranschaulicht. Das jeweils ausgewählte und aufbereitete Material und die dazugehörigen Arbeitsaufträge bieten unterschiedliche inhaltliche Aspekte ebenso wie diverse methodische Herangehensweisen. Somit ermöglicht das selbstständige Lernen in den Arbeitsgruppen (AG) den Jugendlichen verschiedene Lernzugänge. Alle Formulierungen in den Projekttagsunterlagen sind leicht verständlich; Textquellen oder Hintergrundinformationen sind in kurze Einheiten aufgeteilt und komplexe Zusammenhänge entzerrt.
Insgesamt wurden fünf Themen gewählt:
- Ein Zeitzeugenbericht und Ausstellungsexponate veranschaulichen das Leben von französischen Kriegsgefangenen. Die Aufgabe besteht in einer szenischen Darstellung eines Dialogs oder Monologs im Lager. Dadurch sollen Handlungsoptionen oder emotionale Reaktionen ausgelotet werden. Auch stellen sich Fragen wie »Was bedeutet Demütigung?« oder »Welche Auswirkungen hatten die Lebensbedingungen auf das Zusammenleben?«.
- Eine weitere AG widmet sich der Klärung des realen Schicksals eines sowjetischen Kriegsgefangenen. Zu dem bereit gestellten Archivmaterial gehört eine Anfrage des Enkels an den Suchdienst des Roten Kreuzes von 2010. Die Jugendlichen sollen sich mit den Auswirkungen historischer Zusammenhänge auf Einzelne auseinandersetzen. Welche Antworten finden sie für die Familie des Verstorbenen?
- Auf dem Waldfriedhof zeugt heute nichts mehr von den verstorbenen Italienischen Militärinternierten (IMI), die nach 1945 nach Frankfurt umgebettet wurden. Quellen geben Auskunft über den Status der IMIs und Einblick in die alltäglichen Schikanen, denen sie ausgesetzt waren. Die Aufgabe steht im Kontext von aktuellen Formen von Erinnerungskultur und es ist Kreativität gefragt: Die Jugendlichen werden vor die Herausforderung gestellt, ein Denkmal zu entwerfen.
- In Deutschland bestattete Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter bleiben oft nur abstrakte Namen auf Grabsteinen. Diese Leerstellen sollen erzählerisch gefüllt werden, in Form einer fiktiven Biographie. Bei diesem Portrait soll klar werden, dass es um Menschen geht, die ein Leben und eine Persönlichkeit hatten, was ihnen durch die Zwangsarbeit genommen wurde.
- Wie sieht ein angemessener Umgang mit Gräbern von NSDAP-Mitgliedern aus? Ende der 1980er Jahre gab es darüber eine hitzige Diskussion im Schwalm-Eder-Kreis, die durch Zeitungsartikel und Leserbriefe dokumentiert ist. Anhand einer rechten Hetzrede, die bei einem Interniertentreffen auf dem Waldfriedhof gehalten wurde, können die Jugendlichen geschichtsrevisionistische Argumente dekonstruieren. Sie sollen eine eigene Position zu dem Umstand finden, dass Kriegsgräberstätten potentiell Rechtsextreme und Neonazis anziehen.
Am Ende des Projekttags werden die Ergebnisse präsentiert und gemeinsam reflektiert.
Abhängig vom Lernniveau und den Bedürfnissen der Lerngruppen kann ein Projekttag entsprechend angepasst werden. Der Spurensuche kann z.B. praktische Pflegearbeit auf dem Friedhof folgen. Dies kann mit einem Zeitzeugenfilm ergänzt werden.
Das Ziel des Projekttags besteht nicht allein in Wissensvermittlung; es geht vielmehr um Sensibilisierung: Es soll ein Bewusstsein geschaffen und Orientierung geboten werden für das Thema Nationalsozialismus und den Umgang mit Vergangenheit. Das pädagogische Modul bietet einen neuen Zugang zur Geschichte Trutzhains. Jugendliche und Erwachsene können sich aus verschiedenen Perspektiven und mit Bezügen zu unserer Gegenwart dem historischen Lernort der Gedenkstätte (neu) nähern.
Von der Webseite des Volksbundes Duetsche Kriegsgräberfürsorge kann ein Infoblatt mit weiteren organisatorischen Hinweisen heruntergeladen werden.
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- 15 Aug 2012 - 15:06