„Es ist schon 'was los hier!“
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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel Sie müssen angemeldet sein, um das Benutzerprofil zu sehen |
Von Christiane Grün
„Also, ich stehe jetzt hier in West-Berlin, in der Baruther Straße, hinter mir ist das Haus zu sehen von Onkel Max und Tante Traude. Die wissen nicht, dass ich komme. In wenigen Minuten werde ich bei ihnen sein. Das ist eine unheimliche Reise gewesen. Ich wusste selbst heute früh um 8h noch nicht, dass ich jetzt um die Zeit bei Tante Traude Kaffee trinken werde. Es ist unwahrscheinlich interessant alles. ... Ich hab' ihnen versprochen, wenn die Grenzen auf sind, werd' ich als erstes zu ihnen kommen und 'ne Tasse Kaffee mit ihnen trinken. Und das werde ich jetzt tun.“
Man spürt deutlich das Erstaunen und die Vorfreude von Reiner Hofmann, als er diese Sätze am 10. November 1989 um 14.29h vor dem Haus in Berlin-Spandau in seine Kamera spricht. Der zitierte O-Ton-Ausschnitt stammt aus dem Film „Ereignisse im November und Dezember 1989“, einer einstündigen Sammlung von Filmmaterial, die Reiner Hofmann der Deutschen Kinemathek für die Ausstellung „Wir waren so frei … Momentaufnahmen 1989/1990“ zur Verfügung gestellt hat. Nun ist der Film im Internet-Archiv www.wir-waren-so-frei.de zu sehen.
Etwa 50 Stunden private Filmaufnahmen aus den Jahren 1989/90 reichten Hobby- und Amateurfilmer/innen, Technikfans, Student/innen und Künstler/innen 2008 nach Aufrufen in der Presse ein. Mit Eröffnung der Ausstellung, in der ein Teil des Filmmaterials gezeigt wurde, ging 2009 auch das Internet-Archiv www.wir-waren-so-frei.de online, in dem alle eingereichten Aufnahmen dauerhaft und frei zugänglich in voller Länge zu sehen sind. Durch die Lizenzierung unter Creative Commons steht ein Großteil der Filme für nicht-kommerzielle Nutzungen zur Verfügung, z. B. im Rahmen von Forschung und Lehre. Seit kurzem werden auf www.unterricht.wir-waren-so-frei.de begleitende Unterrichtsmaterialien angeboten.
Zurück zu Herrn Hofmann. In der Nacht vom 21. auf den 22. Dezember 1989 dokumentiert er den Abbau des ersten Mauersegments am Brandenburger Tor für die feierliche Eröffnung des Grenzübergangs. 14 Minuten dauert es, bis das Segment mühevoll mit schwerem Gerät aus der Mauer gelöst, umgestoßen und auf einen LKW gehievt ist. Der verregneten Eröffnung am nächsten Tag mit den Reden von Helmut Kohl und Hans Modrow widmet der Filmemacher hingegen nur etwas mehr als drei Minuten.
Diese inhaltliche und formale Entscheidung überrascht und befremdet zunächst. Aber wenn man sich auf die ungewöhnliche Langsamkeit des Materials einlässt, wird die Faszination des nächtlichen Geschehens deutlich spürbar. Auch viele weitere Aufnahmen verblüffen durch ihren eigenartigen Fokus und entwickeln durch ihre Länge und ihr ausschweifendes Erzählen, oft ohne Anfang und Ende, einen besonderen Reiz. Fast meditativ sind z. B. die vielen mitgeschnittenen Autofahrten entlang der ehemaligen Grenze („Fahrten auf dem Grenzstreifen, über Grenzübergänge und durch Ost-Berlin“, „DDR-Grenze im August 1990“, „DDR-Grenze 1983 und 1990“); vergnüglich die zahlreichen Dokumentationen von neugierigen Besuchen und Besucher/innen im jeweils unbekannten Land. Die privaten Aufnahmen zeigen, dass die Freude in kleinen Städten und Dörfern im Osten und Westen genauso groß war wie in den Großstädten: Kostenlose Getränke, warme Suppe und improvisierte Übernachtungsmöglichkeiten warten am 11. November in Eschwege („Ein grenzenloses Wochenende“) und Braunschweig („Die fröhliche Invasion“) auf die Gäste aus der DDR; die 300 BRD-Besucher/innen aus dem niedersächsischen Schnackenburg werden bei ihrer Ankunft am 2. Weihnachtsfeiertag 1989 im Hafen von Wittenberge von 5.000 Bürger/innen mit überschwänglichem Jubel („Wittenberge im November/Dezember 1989“) begrüßt. Zur selben Zeit kommentiert der Berliner Filmemacher Willi Kluge in seinem Film „Die Mauer ist auf...“ (Teil 2) die Stimmung treffend: „Es ist schon 'was los hier!“.
Durch ihren beobachtenden Gestus, der oft keiner klaren Narration folgt, erzählen die privaten Filme viel vom Alltag in der Zeit des Umbruchs. Aber auch die Werke, die eine eindeutige Dramaturgie verfolgen, die ihr Material durch den Schnitt oder Off-Kommentare und Zwischentitel bewusst formen und das Geschehen reflektieren und einordnen, konzentrieren sich meist auf den Alltag der Menschen. Sie zeigen große Veränderungen auf, im Stadtbild genauso wie im Leben der Protagonisten. Was die Filme so besonders macht, ist ihre Offenheit. Während die Ereignisse im Rückblick meist als linear und alternativlos dargestellt werden, sind fast alle der privaten Filme in einer Zeit entstanden, in der noch nicht feststand, wie es weitergeht. „Mal sehen, was eines Tages darüber in den Geschichtsbüchern stehen wird.“, sagt Hubertus Andörfer in seinem Film „Was wird werden...“ über die Novembertage 1989. Er befragt Cottbusser Bürger/innen und Schüler/innen einer 6. Klasse zu ihren Wünschen und offenbart ihre Hoffnungen, Vorurteile und Ängste angesichts der ungewissen Zukunft. Auch die 1990 entstandenen Studentenfilme der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (u.a. von Thomas Arslan und Christian Petzold) sind nachdenklich und skeptisch und unterscheiden sich damit von den “(retrospektive[n]) Filmkompilationen der Medien, die immer die letztlich euphorische Geschichte vom Glück des nationalen Zusammenfindens erzählen.” (Hickethier 2009, 35)
Nur wenige der eingereichten Filme sind vor dem 9. November 1989 entstanden. „Pfingsttreffen der FDJ in Ost-Berlin“, „Lenindenkmal am Leninplatz“, „Bahnhof Berlin Friedrichstraße“ und einige Ausflugsfilme von Bruno Fröhlich zeigen kurze Momentaufnahmen des DDR-Alltags im Frühjahr und Sommer 1989. Aber auch die ersten Massendemonstrationen halten Privatleute auf Film fest. „November 1989 – Wir gehen auf die Straße“, „Demonstration in Potsdam“, „Aufbruch '89 – Dresden“ und „Die Wende in Leipzig“ lassen das Wagnis erahnen, dass Demonstranten und Filmemacher auf sich nahmen. Die Angst vor der Überwachung durch die Stasi offenbart sich auch in den privaten Filmen. „Machen Sie die Kamera aus!“, werden die ungarischen Filmemacher in „Demonstration am 7. Oktober 1989 in der Schönhauser Allee“ aufgefordert. Sie taten es nicht.
Literatur
Knut Hickethier: Zur Ikonographie des Mauerfalls in Fernsehen und in der privaten Fotografie. In: Rainer Rother, Ulrike Schmiegelt (Hg.), Annette Vogler (Red.): Wir waren so frei … Momentaufnahmen 1989/1990. Deutsche Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen, DruckVerlag Kettler, Bönen 2009, 35.
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- 22 Feb 2012 - 07:18