Erinnerungskulturen im deutsch-polnischen Vergleich
Von Markus Nesselrodt
Das Schlagwort der europäischen Erinnerungskultur beschäftigt Politik, Gesellschaft und Wissenschaft seit einigen Jahren. Sehr oft bleibt dabei jedoch unklar, was eine gemeinsame historische Erinnerung auf dem Kontinent ausmacht und wo sie lediglich ein politisches Projekt zu sein scheint. Die Seminarreihe „Erinnerungskultur des 20. Jahrhunderts in Polen und Deutschland“ - eine Kooperation zwischen dem polnischen Stefan Starzyński Institut und dem deutschen Verein Jugend bewegt Europa e.V. - wagt seit nunmehr vier Jahren den Versuch, diese Gemeinsamkeiten zu identifizieren. Ein Zwischenfazit bildet der vorliegende Sammelband, dessen Beiträge überwiegend von studentischen Teilnehmenden des ersten Seminars verfasst wurden.
Wie lassen sich Erinnerungskulturen vergleichen?
Der Direktor des Museums des Warschauer Aufstandes, Jan Ołdakowski, formuliert in seinem Vorwort das Ziel der deutsch-polnischen Aufsatzsammlung. Diese möge, „eine Quelle der Inspiration für interessante Diskussionen über die gemeinsame Geschichte und Kultur Polens und Deutschlands [werden] und darüber hinaus zum Nachdenken über eine gemeinsame europäische Erinnerungskultur“ anregen (S. 10). In insgesamt 19 Fallstudien analysieren zehn deutsche und neun polnische Autor/innen Erinnerungsorte, hier verstanden als Museen, Ausstellungen und Denkmäler, aus beiden Ländern. Wie der Titel der Seminarreihe bereits verrät, konzentrieren sich die Texte auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts, wobei besonders die Themen Zweiter Weltkrieg, Holocaust und die antikommunistische Bürgerbewegung dominieren. Um die verschiedenen Aspekte der deutschen und polnischen Erinnerungskulturen möglichst fundiert miteinander zu vergleichen, bedienten sich die Autor/innen der Theorie der gesellschaftlichen Bewegungen von Charles Tilly. Erst mithilfe des sozialwissenschaftlichen Rüstzeugs sei es möglich, Erinnerungskulturen zweier Länder zu vergleichen, ohne dabei eine als besser oder schlechter zu bewerten, so die wissenschaftlichen Projektleiter Paulina Bednarz-Łuczewska und Michał Łuczewski. Wie sieht dieser Vergleich konkret aus?
Bednarz-Łuczewska und Łuczewski identifizieren zwei Begriffe im Diskurs um Erinnerung seit den 1990er Jahren: Zum einen den Begriff „Geschichtspolitik“, der eher mit staatlicher Politik und offiziellen Feierlichkeiten verbunden werde; und zum anderen den Begriff „Erinnerungskultur“, der eher mit Zivilgesellschaft und Praktiken des alltäglichen Lebens assoziiert sei (S. 18). Ausgehend von dieser Aufteilung in oben/unten unterscheiden die Wissenschaftler/innen Akteure wie Individuen, zivilgesellschaftliche Initiativen oder den Staat. Entscheidend dafür, ob ein Projekt von oben (top-down) oder von unten (bottom-up) initiiert und realisiert wird, ist auch sein gesellschaftlicher und politischer Kontext. Wenn ein Gegenstand der Erinnerung erst einmal eine materielle Form gefunden hat, also ein physisch existenter Erinnerungsort wie ein Denkmal oder ein Museum geworden ist, lässt er sich mit der Theorie von Charles Tilly analysieren.
Erinnerungsorte in Deutschland und Polen im Vergleich
Die Kernfragen der 19 Fallstudien zielen zunächst auf die imaginierten Identitäten, die an einem Erinnerungsort repräsentiert werden. In einem zweiten Schritt geht es um das unter Umständen konfliktreiche Verhältnis von Uns und den Anderen, welches ausgehandelt werden muss und zuletzt darum, welche Erzählungen mit der am Erinnerungsort repräsentierten Gruppe verbunden werden. Die Fallstudien sind chronologisch sortiert, beginnen also mit dem staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau bzw. der Gedenkstätte Buchenwald und enden mit dem Warschauer Kommunismusmuseum sowie der Bundesstiftung „ Flucht, Vertreibung, Versöhnung“. Die meisten Texte sind sehr kurz gehalten. Auf drei bis vier Seiten orientieren sie sich eng an dem beschriebenen Theoriegerüst und sind teilweise gut mit Sekundärliteratur fundiert. In der pointierten Kürze der Beiträge liegt jedoch zugleich ein Schwachpunkt der Publikation. Denn nicht allen Autor/innen gelingt es, die komplexen Prozesse aufzuzeigen, die der Entstehung von Erinnerungsorten oft zugrundeliegen. Das mag auch daran liegen, dass einige Beiträger/innen fast vollständig auf Sekundärliteratur verzichten, wodurch ihre Texte etwas beliebig und oberflächlich wirken. In ihrem zusammenfassenden Text gelingt es jedoch Bednarz-Łuczewska und Łuczewski, einige interessante Ergebnisse zu benennen. So kommen sie zu dem Schluss, dass die Erinnerungskulturen in Deutschland und Polen sich zunehmend angleichen. Dabei meinen sie weniger die Inhalte als mehr die Formen der Erinnerung. In beiden Ländern sei in den letzten 20 Jahren der Kontext für die Entstehung neuer Erinnerungsorte günstig. Zudem sei es immer besser möglich, kontroverse Erinnerungen zu repräsentieren. Ein wesentliches Ergebnis ist ebenfalls die starke Tendenz zur Europäisierung der Erinnerung in Deutschland und Polen, sichtbar beispielsweise im neuen Europäischen Solidarność-Zentrum (Danzig) und im Denkmal für die ermordeten Juden Europas (Berlin). Diesen und anderen Orten der Erinnerung sei gemein, dass sie den Rahmen der nationalstaatlichen Geschichte verließen und stattdessen eine europäische Perspektive betonen. Inwieweit die beiden Beispiele wirklich Belege für eine europäische Erinnerungskultur sein können und nicht nur Belege für den modischen Zusatz „europäisch“, ist sicher zu diskutieren. Ebenfalls zur weiteren Diskussion stehen Essays zur Verfügung, die den Fallstudien folgen und einzelne Aspekte des Themas vertiefen. Zwei interessante Texte widmen sich der Frage nach Emotionen an Erinnerungsorten aus einer geschichtsdidaktischen Perspektive (Maren Münzberg, Benedikt Volbert und Tim Völkering) und plädieren für ein Wörterbuch der deutsch-polnischen Missverständnisse (Stefan Neumann und Anna Pukajło).
Der Sammelband „Erinnerungskultur des 20. Jahrhunderts“ bietet interessante Ansätze zur vertiefenden Diskussion über Erinnerung in Deutschland und Polen. Ob es ihm darüber hinaus gelungen ist, über die beiden Nachbarn in Europa Merkmale einer europäischen Erinnerungskultur zu belegen, ließe sich diskutieren. Für Praktiker/innen der außerschulischen Bildungsarbeit zu den hier behandelten Themen kann der Band aber sicher eine anregende Bereicherung darstellen, sich dem schwierigen Unterfangen des grenzüberschreitenden Vergleichs von Erinnerungskulturen zu widmen.
Eine Neuauflage des Projektes mit dem Schwerpunkt historisch-politische Bildung ist geplant. Weitere Informationen sind voraussichtlich ab Mitte März auf der Projekthomepage sowie auf der Website von Jugend bewegt Europa e.V. zu finden.
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- 24 Jan 2012 - 16:37