Projekt

Radioortung – Hörspiele für Selbstläufer

Verschiedene Künstlerinnen und Künstler-Gruppen haben zusammen mit Deutschlandradio Kultur bisher drei verschiedene Hörspiel-Projekte in Berlin und Köln entwickelt. Radioortung griff dabei die zunehmende Verbreitung von Mobilgeräten mit Internetzugang auf und entwickelte ortsbezogene Hörspiele, die eine Intervention in den öffentlichen Raum sein sollten. In diesem Projekt arbeiten sowohl Theater- und Hörspielmacher als auch Performance-Künstlerinnen und -künstler eine neue Form des Erzählens aus.

Ein Hörerlebnis

Alle drei Projekte basieren auf der Idee, mit einem Handy Hörspiele zu empfangen, die sich auf den Ort, an dem man sich befindet, beziehen. Das Handy registriert dabei das Zusammentreffen des Hörspiels mit der Hörerin oder dem Hörer und beginnt mit dem Erzählvorgang. Die Projektinitiatoren beschreiben das Erlebnis wie folgt: „Persönliche, aktuelle, zukünftige, historische, kollektive, fiktive Geschichten legen sich über den realen Ort. Die Stimmen und Geräusche der virtuellen Tonspur mischen sich mit Geräuschen und Beobachtungen vor Ort und verführen zu einer neuen Wahrnehmung.“ Der Hörspaziergang basiert auf der Grundlage einer offenen Plattform mit dem Namen Radio aporee. Hierbei werden Orte und Klänge verbunden und im Internet frei zur Verfügung gestellt. Ergebnis ist eine Karte, die weltweit Töne von Orten speichert und jederzeit und von überall abrufbar ist.

Verwisch die Spuren!

So lautet der Titel des ersten Projektes, welches von den Medien- und Performancekünstlern Ole Frahm, Michael Hüners und Torsten Michaelsen entwickelt wurde. Entstanden sind 32 Hörspielfragmente, auch Hör-Blasen genannt, die zwischen dem Alexanderplatz und dem Schlossplatz in Berlin platziert wurden. Im September 2010 konnte der Audiowalk, also ein Spaziergang mit hörbaren GPS-gesteuerten Tonfragmenten,  mit vorprogrammierten Handys durchgeführt werden. Doch auch heute kann mit Hilfe der Radioortung App, dieses und auch die beiden anderen Projekte angehört und erlebt werden. Der Streifen zwischen Karl-Liebknecht-Straße und Rathausstraße wurde ausgewählt, weil er vielen großen Veränderungen in den letzten Jahren unterlag und auch noch weiteren unterliegen wird. Der Platz, an dem das Berliner Schloss stand, wurde mit dem Palast der Republik überbaut, womit dieses Areal zur städtebaulichen Präsentation der DDR gehörte. Nach 1989 gab es ausführliche Diskussionen über die Umgestaltung des Ortes. Heute ist dort ein leerer Platz, an dem die DDR-Vergangenheit noch durch den Fernsehturm und das Marx-Engels-Forum erkennbar ist. Die Geschichte hinterlässt Spuren, mitten in der Stadt, sichtbar, aber auch hörbar – diese Erkenntnis fängt das Hörprojekt der Gruppe LIGNA auf und lädt die Hörerinnen und Hörer ein, dies zu entdecken: „Dient GPS normalerweise der genauen Verortung jedes Einzelnen im Hier und Jetzt, lädt die Technik in ‚Verwisch die Spuren!‘ dazu ein, im Flanieren unbekanntes Terrain zu entdecken. Dem Flaneur erscheint die zwielichtige Vieldeutigkeit des urbanen Raums, er entdeckt abgelegte Spuren, legt neue und lernt, die eigenen Spuren zu verwischen.“

50 Aktenkilometer. Ein begehbares Stasi-Hörspiel.

Diese über 100 hörbaren Tonstücke wurden in Koproduktion mit dem Theater Hebbel am Ufer von Deutschlandradio Kultur und Rimini Protokoll produziert. Grundlage dieser Hörspiele sind Stasi-Akten, die vorgelesen werden, aber auch Interviews mit Personen, die sich an ihre Vergangenheit und Erfahrungen mit der Stasi erinnern und Beobachtungen rekonstruieren. Während eines Spaziergangs durch die Mitte Berlins stoßen die Hörerinnen und Hörer auf Observationsberichte, Erinnerungen und Originaltöne aus den Archiven. So treffen Alltäglichkeit des Ortes und Töne aus der Vergangenheit aufeinander. Unter anderem gibt es Berichte von Mitarbeitenden der Bundeszentrale für Stasi-Unterlagen, aber auch O-Töne von einer Observation einer Demonstration auf dem Alexanderplatz und Telefonaufzeichnungen zu Begebenheiten in der Stadt. Dieses Hörspiel basiert ebenfalls auf der Technik von Radio aporee und GPS. Die Hörenden sind jederzeit ortbar, womit eine Beschattungs- und Beobachtungssituation ausgelöst wird, die bei der Thematik der DDR-Staatssicherheit das seltsame Gefühl einer Bewachungsinstanz erweckt. Die Besuchenden sind gezwungen, mit dieser Situation im historisch verorteten öffentlichen Raum umzugehen.
Die Initiatoren dieses Audio-Walks waren maßgeblich Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel, die Begründer von Rimini Protokoll, zusammen mit dem Dramaturg Sebastian Brünger. Diese Theatergruppe ist für ihre Interventionen in den öffentlichen Raum und dokumentarische Theaterstücke sowie Hörspiele bekannt.

Archiv der zukünftigen Ereignisse

Im Gegensatz zu den ersten beiden Hör-Spaziergängen, welche in Berlin lokalisiert sind, ist das folgende Projekt in Köln angesiedelt. Das Regie- und Autorenduo Hofmann&Lindholm richtete den Fokus nicht auf die Vergangenheit, sondern hat ein Archiv der zukünftigen Ereignisse in Köln eröffnet. So wurden 37 Ereignisse auf einer GoogleMaps-Karte positioniert, die früher oder später stattfinden werden. Damit verlässt dieses Hörspiel die Grenzen der Gegenwart und schaut auf Köln in der Zukunft. Sobald ein Ereignis stattgefunden hat, wird es von der Karte und so auch aus dem Archiv der zukünftigen Ereignisse gelöscht.
Die Ereignisse sind akustische Vorinszenierungen, welche auf Erzählungen von Kulturschaffenden und Privatpersonen basieren. Der Inhalt der Hör-Blasen ist laut der Selbstbeschreibung breit gefächert: „Die Prognosen und Vorwegnahmen beziehen sich auf kulturelle Veranstaltungen, städtebauliche Maßnahmen, den technischen Fortschritt, politische oder betriebswirtschaftliche Veränderungen, berühren aber ebenso den Lebenslauf einzelner und können auch den Tod zum Thema haben.“ Zum Beispiel gibt es einen Rundgang durch eine bis Sommer 2012 entstehende Moschee. Die Hörerinnen und Hörer können einen Mann sprechen hören, während er durch die Räume läuft und über die Ausstattung erzählt. Daneben empfängt man beim Durchlaufen der nächsten Blase eine Koranrezitation und später einen fiktiven Bericht über die Eröffnung der Moschee.
Das Duo Hofmann&Lindholm besteht aus Hannah Hofmann und Sven Lindholm. Sie widmen sich der Verbindung von Medien und Kunst durch Stadtrauminterventionen, Hörspiele, Videoinstallationen und Filme.

Spaziergang online

Alle hier vorgestellten Projekte sind auf der Internetseite von Radioortung nachhörbar. Auf GoogleMaps-Karten sind Hör-Blasen zu erkennen, welche am Computer aufgerufen werden können. Ebenso kann die Radioortung App heruntergeladen und der Hör-Spaziergang selbständig nachgegangen werden. Als Laufzeit werden jeweils 2 bis 4 Stunden empfohlen. Doch auch das Anhören der einzelnen Tondokumente von zu Hause aus ist spannend und vermittelt ein neues Bild auf die Städte Berlin und Köln. Orte werden auditiv erfahrbar und es entstehen so neue Möglichkeiten, sich mit der ortbezogenen Geschichte aber auch der möglichen Zukunft auseinanderzusetzen.

Bildungsarbeit

Ideen für den Einsatz in der Bildungsarbeit wurden von den Initiatoren nicht verfasst. Diese Hörspielprojekte dienen der Stadterkundung, aber auch zur Erfahrung der schon bekannten Stadt über eine auditive Rezeption. So können sie zum Beispiel für Klassenfahrten oder Schulausflüge interessant sein. Da die Thematiken der beiden Berliner Hörprojekte einen speziellen historischen Fokus besitzen, muss aber Vorwissen über die DDR und Stasi vorausgesetzt werden. Das Kölner Ton-Projekt beschäftigt sich mit der Zukunft und baut daher weniger auf Fakten auf, sondern greift aktuelle Debatten der Stadt auf und versucht eine Aussicht auf das Kommende zu entwickeln. Die Töne spiegeln die phantasievolle Betrachtung künftiger Ereignisse und können daher wohl weniger als Wissensvermittlung, als vielmehr zur eigenen  kreativen Auseinandersetzung mit der individuellen und der gesellschaftlichen Zukunft dienen. Zu diesem Zwecke kann das Hörspiel als Anregung für eigene Projekte in der Bildungsarbeit genutzt werden.

 

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