Zeitgeschichte, Visual History und historisches Lernen
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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel Sie müssen angemeldet sein, um das Benutzerprofil zu sehen |
Von Christoph Hamann
Zeitgeschichte als Mediengeschichte: In seiner wahrhaft Epoche machenden Grundsatzbetrachtung „Zeitgeschichte als Aufgabe“ definierte der Historiker Hans Rothfels 1953 die Zeitgeschichte als die „Epoche der Mitlebenden und ihre wissenschaftliche Behandlung“. Geprägt sei deren historische Erfahrung vom „Zeitalter krisenhafter Erschütterung“ durch den Nationalsozialismus, Zweiten Weltkrieg und Kalten Krieg. Sechs Jahrzehnte später ist die historische Erfahrung der „Mitlebenden“ von anderen Ereignissen bestimmt. Zu diesen gehört neben dem Ende des Ost-West-Konflikts, der europäischen Einigung, der globalen Bewegung von Waren, Kapital, Menschen und Ideen auch die Medialisierung des Alltags. Die „Mitlebenden“ sind heute vor allem „Mithörende“ und „Mitsehende“ (Thomas Lindenberger). Die Produktion, Distribution und Konsumtion von medialen Zeichen sind zentrale Eigenschaften der (post-)modernen Dienstleistungs- und Informationsgesellschaft – die Nutzung von Film, Fernsehen, Fotografie, Radio und Internet sind integraler Bestandteil unseres Alltags. Das lässt sich messen am täglichen Zeitbudget für die Mediennutzung, zeigt sich aber beispielsweise auch an der (auto-)biografischen Erinnerung. Die Generationengedächtnisse heute sind in den befriedeten Gesellschaften des Westens in aller Regel nicht mehr segmentiert nach den historischen Erfahrungen von Hunger, Krieg oder körperlicher Gewalt. Die Periodisierung des eigenen Lebens erfolgt vielfach entlang von Erinnerungen an mediale Erfahrungen. Radiosendungen wie „Die Hits der 60er-, 70er- und 80-Jahre“ haben hier ebenso die Quelle ihres kommerziellen Erfolgs wie Retro-Shows im Fernsehen. Nicht ohne Kalkül setzt auch die Werbung auf Geschichte: In der popkulturell inspirierten Re-Inszenierung eines Bildes der Kommune I stößt Uschi Obermeyer in einem Werbe-Spot spitze Schreie aus angesichts der gelieferten Zalando-Schuhe. Die Analyse der Zeitgeschichte heute muss also wesentlich auch „vergangenes Hören und Sehen“ (Lindenberger) konzeptionell mitdenken. Zeitgeschichte als Realgeschichte ist wesentlich eben auch Mediengeschichte.
Zeitgeschichte und Geschichtskultur: Hans Rothfels‘ Kriterium der Zeitgeschichte als der (Real-)Geschichte der Mitlebenden entlässt den Nationalsozialismus zunehmend aus dem Horizont zeithistorischen Forschens. Unabweisbar ist aber gerade dieser nach wie vor medial omnipräsent. So visualisieren z. B. Dokumentationen, Spielfilme, Reenactements den Nationalsozialismus, den Holocaust, den Zweiten Weltkrieg sowie Flucht und Vertreibung mit teilweise hohen Einschaltquoten nahezu allabendlich. Das Wochenmagazin „Der Spiegel“ thematisiert regelmäßig historische, vorzugsweise NS-Themen und lockt mit Filmen auf Bonus-DVDs. Der „Geschichtsboom“ lässt darüber hinaus heute auch andere Epochen ins Visier der Medienmacher geraten. Neben dem NS werden ebenso visualisiert zum Beispiel die SED-Diktatur (NVA, 2005), die frühe Bundesrepublik (Das Wunder von Bern, 2003) oder auch das Mittelalter (Königreich der Himmel, 2005), die Renaissance (Die Borgias, 2011) oder das 19. Jahrhundert (Bertha Benz, 2010). Medialisierung als integrativen Teil der Zeitgeschichte zu fassen bedeutet deswegen eben auch, die Vergangenheitswahrnehmung wie die Deutung der Geschichte als medial formatierte zu analysieren. Und dies heißt zugleich: Die geschichtskulturelle Aneignung von (Zeit-)Geschichte ist wesentlich eine Visual History (Gerhard Paul), denn Medialisierung ist zu einem nicht unwesentlichen Teil Visualisierung.
Visual History und historisches Lernen: Die Visualisierung von Geschichte kommt den Mediengewohnheiten, Vorlieben und Interessen der jungen Generation nahe. Durch empirische Studien ist der weitgehende Einfluss geschichtskultureller Medien und insbesondere des Leitmediums Film auf das Geschichtsbewusstsein (nicht nur) junger Menschen belegt. Die sogenannte Schroeder-Studie über das DDR-Bild von Schülern (2008) zeigt, dass der Film eine wesentliche Quelle tatsächlicher oder vermeintlicher Geschichtskenntnisse ist. „Auf Nachfrage, woher die Schülerinnen und Schüler ihre Kenntnisse über die DDR haben, gaben die Jugendlichen an, Filme wie 'Sonnenallee‘ und 'Good Bye Lenin‘ gesehen zu haben, die sie für eine objektive Informationsquelle halten.“ Schließlich: Über die Filme werden nicht nur „Kenntnisse“, sondern auch Deutungen der Vergangenheiten und (mitunter politische) Botschaften transportiert. Gerade aufgrund des Einflusses von Filmen auf das Geschichtsbewusstsein junger Menschen ergibt sich die Notwendigkeit, bei diesen die Kompetenz zu fördern, mit den medial basierten Narrativen reflektiert umzugehen. Im Unterricht steht dabei nicht das „vergangene Hören und Sehen“ im Vordergrund, sondern das gegenwärtige Hören und Sehen über Vergangenheit.
Die geschichtsdidaktische Theoriebildung war mit Jörn Rüsens Konzeptionalisierung der Geschichtskultur seit den frühen 1990ern Vorreiter der kulturwissenschaftlichen Wende. Diese forderte die Thematisierung und Analyse von gegenwärtigen gesellschaftlichen Bezügen auf die Vergangenheit. So sollte, Rüsen folgend, ein analytisch-dekonstruktiver Umgang mit Filmnarrativen deren ästhetische, kognitive und politische Dimension gleichberechtigt im Unterricht berücksichtigen. Der Film sollte in seiner medialen Spezifik ernst genommen und nicht an den Standards der Geschichtswissenschaft gemessen werden. Ein Film ist ein Film ist ein Film – er folgt den Regeln des jeweiligen Genres bzw. denen des Marktes und nicht der historischen Methode. Gleichwohl muss auch hier gefragt werden, welche historische Sachverhalte der Film aufgreift oder ausspart. Welche Perspektive nimmt er ein, welche vernachlässigt er? Wie interpretiert er Vergangenheit? Welche (politischen) Botschaften und Urteile bietet er an? Welche filmsprachlichen Mittel werden verwendet, um die Interpretation von Vergangenheit und die Botschaft für die Gegenwart wirkungsmächtig zu visualisieren?
Eine geschichtskulturelle Orientierung, wenn nicht Wende des Unterrichts ist dringend geboten. Fachdidaktisch erforderlich ist dies vor allem deswegen, weil geschichtskulturelle Deutungen im gesellschaftlichen Alltag allgegenwärtig sind. Nur eine Minderheit der jungen Menschen wird dagegen in ihrem späteren Leben mit den Anforderungen der Interpretation historischer Quellen konfrontiert sein. Und die Schule ist neben der Universität der einzige gesellschaftliche Ort, an dem junge Menschen systematisch, wissenschaftsorientiert und nachhaltig lernen können, verantwortlich mit der Geschichtskultur und zum Beispiel mit deren Leitmedium Film umgehen zu können.
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- 24 Jan 2012 - 16:37