Historisch-politische Bildung in der Einwanderungsgesellschaft
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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel Sie müssen angemeldet sein, um das Benutzerprofil zu sehen |
Von Franziska Ehricht und Ingolf Seidel
In einer Einwanderungsgesellschaft begegnen sich Menschen mit sehr verschiedenen Erfahrungen, Narrativen und Geschichtsbildern. Im zwanzigsten Jahrhundert ereigneten sich zahlreiche wichtige historische Ereignisse und in Deutschland leben viele Menschen, die oder deren Familien diese Ereignisse aus den unterschiedlichsten Perspektiven erlebt haben. Letztlich haben alle diese Ereignisse das Deutschland, das Europa und die Welt geformt, in der wir heute leben. Wichtig für das historisch-politische Lernen ist, dass in der Einwanderungsgesellschaft Deutschlands Menschen zusammenleben, für die oder für deren Familien einzelne dieser Ereignisse von zentraler Bedeutung waren, die diese Ereignisse aus sehr verschiedenen Perspektiven erlebten oder für die sie sehr unterschiedliche Konsequenzen hatten. Was für die einen den Weg in die Freiheit und Unabhängigkeit bedeutete, konnte für andere Flucht, Vertreibung und Verlust der Heimat bedeuten. Wo die einen als Täter Verbrechen gegen die Menschlichkeit begingen, wurden andere Opfer.
In einer historisch-politischen Bildungsarbeit, die einen Beitrag dazu leisten möchte, die Welt in der wir leben besser zu verstehen, muss diesen Themen mit ihren verschiedenen Narrativen Raum gegeben werden. Ein Geschichtslernen, das einen verengten Blick auf die jeweiligen Nationalstaatsgeschichten richtet, erfüllt seine Aufgabe nicht, junge Menschen bei ihrer Orientierung in der globalisierten Welt zu unterstützen. Das soll nicht bedeuten, dass bisherige zentrale Themen plötzlich an Bedeutung verlieren sollen. So hat die Epoche des Nationalsozialismus bleibend und zu Recht einen zentralen Stellenwert für die Geschichtstradierung in Deutschland. Aber auch auf diese Geschichte gibt es zahlreiche Perspektiven, die über die Perspektive deutscher Täter, Mitläufer, Zuschauer, Widerstandskämpfer oder Opfer hinausgehen. Diese müssen bei der Vermittlung der Geschichte Berücksichtigung finden.
Der Berliner Verein Miphgasch/Begegnung e. V. führte in den vergangenen Jahren Seminare zum Nationalsozialismus durch, in denen einige Perspektiverweiterungen vorgenommen wurden. Anhand von Archivmaterial wurde die Rassenideologie des Nationalsozialismus vertiefend behandelt, indem neben dem rassistischen Antisemitismus auch der Frage nachgegangen wurde, welche Auswirkungen diese Ideologie auf weitere Personengruppen hatte. So erfuhren die Jugendlichen von der Zwangssterilisation der Rheinlandkinder, befassten sich mit der Biografie eines Schwarzen, der in Sachsenhausen ermordet wurde oder mit den Auswirkungen der Rassenideologie auf den Heiratswunsch eines deutsch-türkischen Paares. Darüber hinaus erfuhren sie, dass nicht nur die Juden in Deutschland und Europa, sondern beispielsweise auch jene in Tunesien, von den deutschen Nationalsozialisten verfolgt wurden. Gleichzeitig lernten sie Personen mit türkischem, arabischem und jugoslawischem Hintergrund kennen, die sich für verfolgte Juden einsetzten. Auch wurde in den Seminaren darüber gesprochen, welche Auswirkungen der Zweite Weltkrieg auf Staaten außerhalb Europas hatte. Schließlich hatten die Jugendlichen immer auch die Möglichkeit, einem jüdischen Überlebenden des Nationalsozialismus zu begegnen, seine Überlebensgeschichte anzuhören und ihn dazu zu befragen.
Hauptzielgruppe der Seminare waren Berliner Jugendliche der Klassenstufen 9 und 10, die größtenteils einen Hauptschulabschluss oder einen mittleren Schulabschluss anstrebten. Viele der Jugendlichen stammten aus Familien mit Migrationsgeschichte; aus Ländern wie der Türkei, dem Libanon, Polen, Russland, Bosnien, Serbien oder auch Angola. In der Regel lebten sie zugleich in ökonomisch prekären Lebenslagen. In den Seminarauswertungen brachte die Mehrheit der Jugendlichen Interesse am Thema zum Ausdruck und bekundete Empathie mit dem Zeitzeugen und seinen Erfahrungen. Einige Jugendliche bekundeten offen ihre Unwilligkeit, sich mit dem Themenkomplex näher zu beschäftigen, wobei dies mehrheitlich mit einem allgemeinen Desinteresse an historischen oder politischen Themen einherging. In einzelnen Fällen kam es jedoch auch zu antisemitischen Äußerungen beim schriftlichen Feedback, die teils einen Bezug zu rechtsextremistischen Einstellungen vermuten lassen, sich in anderen Fällen auf den Nahostkonflikt beziehen.
In dem Projekt „Vielfalt der Erinnerung – Chancen für die Zukunft“, welches durch die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ gefördert wurde, trafen sich Muslimas und Muslime palästinensischer Herkunft aus der Berliner Moscheegemeinde „Haus der Weisheit“ mit Jüdinnen und Juden des Vereins „Jung und Jüdisch“. Die Grundkonzeption des Projekts war darauf ausgerichtet, sich als Minderheiten mit den eigenen Geschichten im Verhältnis zur Einwanderungsgesellschaft auseinanderzusetzen. Die Teilnehmenden waren in der Mehrzahl junge Erwachsene. Von Anfang an war das Gesprächsklima durch ein hohes Maß an gegenseitigem Respekt geprägt. Die Teilnehmenden entdeckten anfangs vor allem religiöse Gemeinsamkeiten zwischen Judentum und Islam. Darüber ergaben sich Gespräche und Vertrautheiten. Sicherlich war die gegenseitige Anerkennung der jeweils anderen als Gesprächspartner auf Augenhöhe eine wesentliche Grundlage für den Erfolg des Projekts. So konnten auch schwierige Themen wie der Nahostkonflikt zwar emotional, aber ohne gegenseitige Schuldzuschreibungen diskutiert werden. Weiterhin maßgebend war dabei, dass jenseits der persönlichen und identitären Bezüge zu Israel oder zu einem erhofften palästinensischen Staat, die Beteiligten ihren Lebensmittelpunkt in der Bundesrepublik verorteten. Die Themen Nakba und Holocaust spielten zu unterschiedlichen Phasen des Projekts eine Rolle, waren allerdings nicht die einzigen wichtigen Themen der gemeinsamen Auseinandersetzung. Außerdem wurde von den Teilnehmenden in den Gesprächen auf falsche Parallelisierungen beider Ereignisse verzichtet. Bei den muslimisch geprägten Teilnehmer/innen bestand ohne Frage ein empathisches Verhältnis zur Verfolgungsgeschichte von Jüdinnen und Juden während des Nationalsozialismus. Nicht unwesentlich dürfte zudem sein, dass die jüdischen Teilnehmer/innen zum Teil selber aus eingewanderten Familien der GUS-Staaten bestanden, deren Migrationsgeschichte häufig prägend war. In der früheren Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten ist zudem auch für Jüdinnen und Juden ein anderes Geschichtsnarrativ prägend. Häufig hat sich die Großelterngeneration nicht ausschließlich als Verfolgte des Nationalsozialismus gesehen, sondern zugleich als Befreier.
Für die muslimischen Teilnehmenden war es – obwohl bereits eine große Offenheit auf ihrer Seite bestand - wichtig im persönlichen Gespräch zu erfahren, wie belastend es für Jüdinnen und Juden in Deutschland sein kann, immer wieder für die Politik der wechselnden israelischen Regierungen haftbar gemacht zu werden. Die jüdischen Teilnehmenden wiederum erfuhren durch die Begegnungen , wie tief greifend Diskriminierungen sein können, die beispielsweise Muslimas mit Kopftuch bei der Jobsuche erfahren. In den Projektverlauf fiel die sogenannte Sarrazin-Debatte. Gemeinsam war allen Beteiligten die Betroffenheit und die Empörung über die unhaltbaren Thesen des ehemaligen Berliner Finanzsenators. Die sich daraus entwickelnde Debatte machte aber auch deutlich, wie sehr tagesaktuelle Ereignisse den Verlauf eines Projektes bestimmen, das sich der Auseinandersetzung mit der Geschichte verschrieben hat. Durch die Dominanz des gesellschaftlichen Diskurses rückte die Auseinandersetzung mit den eigenen und fremden Geschichtsnarrativen über mehrere Treffen in den Hintergrund. Der Effekt war durchaus zwiespältig. Zwischen den Teilnehmenden gab es einen weitgehenden Konsens über die Ablehnung von Sarrazins Thesen. Gleichzeitig machte es die nachvollziehbare Empörung für eine Zeitspanne unmöglich sich mit den eigenen Themen zu beschäftigen, da das Gefühl zweier Minderheiten dominant war, durch einen Mehrheitsdiskurs bestimmt zu werden.
Die Erfahrungen aus beiden hier vorgestellten Beispielen machen deutlich, dass in Deutschland ein gesellschaftliches Klima gegenseitiger Anerkennung, das zunächst einmal die geleisteten Integrationserfolge in den Mittelpunkt rückt, noch fehlt. Auch fehlt es in vielen gesellschaftlichen Diskursen an einem Klima der Solidarität mit Menschen in ökonomisch prekären Lebenslagen. Damit einher gehend existiert eine dauerhafte und strukturelle Chancenungleichheit bei der Bildungsbeteiligung. Die Feedbacks vieler Jugendlicher zu den NS-Seminaren zeigten, dass eine Wertschätzung ihrer Person, eine Anerkennung ihrer Fähigkeiten und ein für sie erkennbares Engagement, ihnen etwas nahebringen zu wollen, ihre Aufgeschlossenheit und Motivation deutlich zu steigern vermag. Ein erster Schritt auf der Seite von Pädagog/innen und Lehrkräften wäre, wenn Bildung als ein Prozess begriffen würde, der ein gegenseitiges Lernen auf vielerlei Ebenen beinhaltet.
Für das historische Lernen im schulischen und außerschulischen Kontext existieren bisher nur wenige Materialien, die der Vielfalt und Unterschiedlichkeit von Geschichtsnarrativen gerecht werden und die Lehrkräfte zur Unterrichtsplanung mit Hinblick auf heterogene Lerngruppen anregen. Miphgasch/Begegnung entwickelt zur Zeit im Rahmen eines durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend geförderten Modellprojekts didaktische Materialien zum historischen Lernen in der Einwanderungsgesellschaft unter dem Titel „Gemeinsam Geschichte schreiben“. Mit diesem Projekt soll ein weiterer Schritt zum Schließen der benannten Lücke gegangen werden.
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- 7 Dez 2011 - 15:15