Das Revolutionsjubiläum von 1848 als politische Projektionsfläche
Manfred Hettling
„Ein Mann hat eine Erfahrung gemacht, jetzt sucht er die Geschichte dazu – man kann nicht leben mit einer Erfahrung, die ohne Geschichte bleibt, scheint es“ (Frisch 1964: 11). Max Frisch hat in seinem Roman Mein Name sei Gantenbein das Verhältnis von sich verändernden Identitätskonstruktionen und diesen jeweils anzupassenden Geschichtserzählungen dargestellt. Ob Geschichtsbücher oder Historienfilme, museale Ausstellungen oder Gedenkrede – alle stehen unweigerlich in diesem Spannungsfeld von politischem Selbstverständnis als Erfahrung der Gegenwart und einem gesellschaftlich konstruiertem Geschichtsbild. Das gilt selbstverständlich auch für die Gedenkveranstaltungen, die in den letzten zwei Jahren der gescheiterten Revolution von 1848 gedachten.
Die Historie kennt diese Spannung zwischen getätigter Erfahrung und erzählter Geschichte seit ihrer Genese als Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert. Der Anspruch, „bloß zeigen, wie es eigentlich gewesen“ (Ranke 1885: VII) verweist auf den einen Pol dieser Beziehung; die Erkenntnis, Geschichte sei eine „Projektion aus der Gegenwart in die Vergangenheit“ (Droysen 1977: 67) auf den anderen. Im Banne des ethischen Imperativs, unter den Aleida Assmann und andere die bundesdeutsche sogenannte Erinnerungskultur stellen, hat das Projizieren eigener politischer und moralischer Kriterien in die Geschichten, die man sich sucht, erneut weite Verbreitung erfahren und wird das eigentlich Gewesene instrumentalisiert, um Vergangenes zu „richten“ und die Gegenwart zu „belehren“ (Ranke 1885: VII).
Der Preis für diese heute so genannte Geschichtspolitik ist hoch, denn es lässt sich nicht aus der Geschichte lernen, wenn sie in gefilterter und gesäuberter Weise präsentiert wird. Historische Erkenntnis kann nur erwachsen, wenn man sich der Unaufgeräumtheit der Geschichte, der unendlichen Mannigfaltigkeit vergangener Wirklichkeit zuwendet – wenn Fragen an die Geschichte gestellt, und nicht die eigenen Antworten in die Vergangenheit projiziert werden (Novick 2001: 330). Die politische, öffentliche und publizistische Thematisierung der Revolution von 1848/49 erfolgte jedoch in den Gedenkveranstaltungen 2023/24 ganz unter dem neuen Imperativ der Demokratiegeschichte, mit welchem in das Geschehen von 1848 geleuchtet wurde. Die Vergegenwärtigung von 1848 geriet zu einem Versuch, sich einen historischen Beginn der demokratischen Gegenwartserfahrung in einer neuerdings demokratisch gefärbten Geschichte des 19. Jahrhundert zu suchen.
Um 1848 in eine mehr oder weniger stringente Kontinuität zur Gegenwart zu bringen, musste viel, zu viel, ausgeblendet werden. Das führte dazu, dass das im 175-Jahre-Jubiläum präsentierte Bild von 1848 manchmal mehr einer kostümierten, verkleideten Gegenwart als einer zu entschlüsselnden fremden Vergangenheit ähnelte. Zugleich wurden grundlegende Problemfelder der damaligen Zeit ausgeblendet. Dieses Urteil soll im Folgenden an vier, für das damalige Gewesene signifikanten Handlungsbereichen erläutert werden.
WAS IST MIT ÖSTERREICH UND DEN ANDEREN?
1848 existierte Deutschland nicht als staatliches Gebilde. Stattdessen bildeten etwa drei Dutzend eigenständige Herrschaftseinheiten den Deutschen Bund. Preußen und das multiethnische Habsburger Reich gehörten, vereinfacht gesagt, dem Deutschen Bund nur mit ihren „deutschen“ Gebietsteilen an. Außerhalb des Bundes blieben von Preußen die Provinzen Posen, West- und Ostpreußen, vom Habsburger Reich hauptsächlich das östliche Galizien, die italienischen Provinzen, das Königreich Ungarn und alle weiter östlich gelegenen Territorien. Insofern stellt es eine bemerkenswerte Blindheit dar, in deutscher Selbstbezogenheit andere Nachfolgestaaten von Territorien, die damals zum Deutschen Bund gehörten, in der Gedenkkultur auszublenden. Ein Großteil Ostmitteleuropas und des Westbalkans, von Polen über die Ukraine, von Bosnien über Slowenien bis Böhmen/Tschechien, gehörten zum Habsburger Reich und waren vom Versuch der revolutionären Staatsneubildung der Deutschen existentiell betroffen.
Erst recht natürlich das heutige Österreich. Dort spielten sich analoge Geschehnisse ab: eine Märzrevolution (in Wien am 13. März 1848, verbunden mit der Flucht Metternichs), Bauernproteste und die anschließende Bauernbefreiung, Verhandlungen im neu geschaffenen Reichstag über die Zukunft des Habsburger Reiches, die Niederschlagung der Revolution im Herbst 1848. Dass aber die norditalienischen und ungarischen Gebiete nicht vertreten waren und es in Budapest eine separate Versammlung gab, verweist auf die Mobilisierungs- wie auch Sprengkraft der Nationalitätenfrage. Ein wirklich umfassender deutscher Nationalstaat hätte die Zertrümmerung des Habsburger Reiches nach sich gezogen. Die damals so genannte großdeutsche Lösung wiederum hätte die Überführung des multinationalen Gefüges der Wiener Monarchie in das dann nicht mehr wirklich nationalstaatlich zu konstituierende Deutschland bedeutet. Und dabei ist noch nicht einmal die Sprengung des europäischen Machtgefüges durch eine wie auch immer konstruierte großdeutsche Staatlichkeit bis nach Galizien, Siebenbürgen und Norditalien hinein berücksichtigt.
Die Frage von großdeutscher oder kleindeutscher Lösung, von Nationalstaatsbildung, war eben nicht nur für Österreich existentiell, sondern für Europa insgesamt. Man denke nur an die russische Intervention in Ungarn 1849 (das vor dem Vertrag von Trianon 1920 ungefähr die dreifache Fläche von heute umfasste und selbst multiethnisch gewesen war), ohne die das Habsburger Reich bereits 1849 zerbrochen wäre.
Die bundesdeutschen Gedenkevents offenbarten die selbstbezogene Arroganz einer preußisch-kleindeutsch geprägten Nationalerzählung, indem sie all das ausgeblendet und nicht einmal nach möglichen Rückbezügen im heutigen Österreich oder Ungarn auf 1848 gefragt haben. Sie sind allerdings auch ein Indiz für die völlige Vernachlässigung machtpolitischer Probleme und der alten Frage des Mächtegleichgewichts im heutigen Deutschland. So einflussreich und präsent Österreich als Kern der Donaumonarchie, Wien als kulturelles Zentrum, Metternich als Architekt der nachnapoleonischen Ordnung von 1815 und als Leitfigur der politischen Repression im Vormärz waren, so vollständig ist sein Ausschluss aus dem historischen Vorstellungsraum der eigenen deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts.
WO BLEIBT DIE NATION?
In der Geschichte des nation building seit dem 18. Jahrhundert war der Kampf um die innere Freiheit (antifeudal, oft antimonarchisch) eng mit dem Kampf um die äußere Freiheit verbunden. Die amerikanische Revolution gegen die britische Herrschaft im 18. Jahrhundert oder die Radikalisierung der französischen Revolutionäre gegen die Intervention der ausländischen Monarchien nach 1789 sind hierfür Beispiele. Deshalb war die Vorstellung von Freiheit 1848 in den deutschen Territorien untrennbar mit der Idee der nationalen Einheit, der Schaffung eines nationalen Staates gekoppelt. Sowohl für die Liberalen, welche die große Mehrheit in der bürgerlichen Bewegung stellten, als auch für die Demokraten, die Minderheit, war das Ziel des Nationalstaats selbstverständlich. Volkssouveränität bedeutete die Absage an die alte dynastische Herrschaftslegitimität und das Ideal nationaler Selbständigkeit. Aus diesem Grund hat Ralf Dahrendorf, unverdächtig gegenüber nationalistischen Unterstellungen, auch betont, dass ohne die Nation als Rahmen für eine staatliche Verfasstheit langfristig keine erfolgreiche Demokratisierung habe stattfinden können. Dieser Zusammenhang bestätigt sich auch noch im 21. Jahrhundert.
Dieser zentrale Beweggrund für das politische Handeln der Menschen 1848 scheint bei uns heutzutage geradezu verschämt verdrängt zu werden. Zweifellos war und ist Nationsbildung von der spannungsreichen Ambivalenz zwischen Partizipations- und Souveränitätsversprechen einerseits und einem Potential für Ausgrenzung und Gewalt andererseits geprägt. Das ließe sich gerade auch am „demokratischen Nationalismus“ von 1848 zeigen. Die Nationsbildung im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts war deshalb auch von Nationalitätenkonflikten der konkurrierenden Nationsbildungen gekennzeichnet: zwischen Deutschen und Dänen in Schleswig und Holstein, zwischen Deutschen und Polen in Galizien oder Posen und erst recht innerhalb des Habsburger Reiches. Wenn man sich diese Problemstellungen und Konflikte von damals nicht bewusst macht, kann man das Handeln der Zeitgenossen von 1848 nicht hinreichend verstehen – und kann kaum aus der Betrachtung dieser Geschichte lernen.
WELCHE DEMOKRATIE?
Unser heutiges Verständnis von Demokratie ist durch die Revitalisierung des Begriffs nach 1945 geprägt. Im antitotalitären Geist wurden damals mit Demokratie die Werte der Gleichheit und der allgemeinen Partizipation aller (männlichen) Bürger, der Freiheit, der konstitutionell verfassten freiheitlichen Ordnung und der Wert der Rechtsstaatlichkeit verbunden. Dabei handelte es sich nach dem Zweiten Weltkrieg um eine Verschmelzung der liberalen Verfassungstradition aus der Mitte des 19. Jahrhunderts mit der egalitären, partizipativen industriellen Massengesellschaft und dem allgemeinen Wahlrecht seit dem späten 19. Jahrhundert. Doch 1848 war noch ganz von der Auseinandersetzung zwischen der alten, dynastisch legitimierten Fürstenherrschaft und der bürgerlichen Bewegung für einen liberalen Verfassungsstaat bestimmt. Daraus eine lineare Entwicklungsgeschichte zu machen, die 1848 begonnen habe, wie es die politischen Gedenkreden und die aktuell populären „Demokratiegeschichten“ suggerieren, projiziert hingegen heutige Vorstellungen auf die Konfliktkonstellation von 1848.
Man kann die Grundrechte in der Paulskirchenverfassung zu Recht würdigen,
sollte aber nicht vergessen, dass sich die Nationalversammlung 1849 auf einen monarchischen Verfassungsentwurf einigte, der überhaupt keine parlamentarische Exekutive vorsah. Das sollte als Korrektiv für das relativ allgemeine Wahlrecht fungieren, das allerdings die Frauen ausschloss, wie es in der Mitte des 19. Jahrhunderts noch in allen Parlamenten der Fall war. Denn in der Vorstellung eines typischen Liberalen wie Friedrich Christoph Dahlmann konnte „mit dem allgemeinen Wahlrecht nie ein Staat bestehen“ (Fenske 1976: 384). Diese Verfassung wurde 1871 realisiert – wer also 1848 demokratiegeschichtlich würdigt, müsste also auch die Bismarck’sche Reichsgründung ebenso würdigen.
WIRKLICH REVOLUTION?
Das Jubiläum wurde vor allem in Berlin als Revolution inszeniert. Das hat für diese Stadt zum Teil auch seine Berechtigung. Aber Berlin war weder Preußen noch das heutige Deutschland. Der Kernbegriff der bürgerlich-liberalen Mehrheit im Deutschen Bund lautete „Vereinbarung“ – mit den fürstlichen Herrschern und ohne Gewalt. Die liberale Mehrheit forderte Reformen, aber keine Revolution. Sie strebte nach einer politischen Veränderung durch gesetzliche Regelungen in der Nationalversammlung, verzichtete aber zugleich darauf, sich als revolutionäre Versammlung aus eigenem Recht zu definieren. So lehnte die Berliner Nationalversammlung nach kontroverser Debatte am 8./9. Juni 1848 die „Anerkennung der Revolution“ (Stenographische Berichte 1848: 171) ab, nahm also von einer revolutionären Selbstermächtigung Abstand. Die Paulskirche konnte somit 1849 den preußischen König nur untertänig bitten, die Kaiserkrone anzunehmen. Bekanntlich ohne Erfolg.
Die zwei Hauptfragen von 1848 lauteten Einheit und Freiheit sowie Nationalstaatsbildung und Verfassung. Beide waren damals nur durch Gewalt zu lösen. Die Frage der territorialen Struktur, kleindeutsch oder großdeutsch, wurde im Krieg 1866 entschieden: Das Habsburger Reich, und damit dessen deutscher Teil Österreich, wurden ausgeschlossen. Die Frage der inneren Freiheit, der liberalen Konstitutionalisierung Preußens und Österreichs, wäre 1848 auch nur durch Gewalt, durch eine Revolutionierung, möglich gewesen. Doch in beiden Fällen lehnte die große Mehrheit der bürgerlich-liberalen Bewegung Gewalt ab. Man setzte, „tatenarm und gedankenvoll“ (Hölderlin, An die Deutschen), auf die „Gewalt der Überzeugung“ und hoffte auf eine „gesetzliche Revolution“ (Seidl 2014: 241).
Auf dieses Dilemma, nämlich einerseits die alten Mächte substantiell zu entmachten, gleichzeitig aber Veränderungen nur mit deren Einwilligung herbeiführen zu wollen, hatten die sogenannten Revolutionäre von 1848 keine Antwort. Das ist nicht nur eine historische Erkenntnis ex post – diese selbst geschaffene Handlungsbegrenzung war politisch scharfsichtigen Zeitgenossen durchaus bewusst. So erklärte Alexis de Tocqueville, der wichtigste Revolutionsanalytiker des 19. Jahrhunderts und nach 1848 Außenminister der Französischen Republik, das Scheitern der in seinen Augen „gemäßigten und mit Recht unschädlich zu nennenden Revolutionäre“ damit, dass sie „sich eingebildet hatten, die Völker und Fürsten Deutschlands auf friedlichem Wege durch Überredung und gesetzliche Regelung zur Unterwerfung unter eine Gesamtregierung bestimmen zu können“ (Tocqueville 1954: 328f.). Schärfer noch klang es bei Bismarck, der 1862 erklärte, „nicht durch Reden und Majoritätsbeschlüsse werden die großen Fragen der Zeit entschieden – das ist der große Fehler von 1848 und 1849 gewesen –, sondern durch Eisen und Blut“ (Gall 1981: 63).
Wenn Geschichte die Möglichkeit bietet, aus nicht erlebter Erfahrung zu lernen, dann gehört auch dazu, das vergangene Geschehen in seiner Gesamtheit zu betrachten und nicht nur jene Bestandteile, die sich mit gegenwärtigen Gegebenheiten und Wertvorstellungen in Übereinstimmung bringen lassen. Nur dann kann man das – damals – Gewünschte vom Möglichen trennen, kann nach Bedingungen für das Realisierbare fragen, kann nicht-intendierte Folgen von intendierten Handlungen unterscheiden. Geschichtliche Bildung erschöpft sich eben nicht darin, Analogien zu präsentieren und zur simplen Nachahmung mobilisieren zu wollen. Nur wer sich der Unaufgeräumtheit der Geschichte öffnet, dem Schmutzigen, Chaotischen, Verstörenden, kann aus den mal erfolgreichen, mal gescheiterten Versuchen der damals Handelnden Erkenntnis gewinnen. Allein die eigenen Antworten auf die Vergangenheit zu projizieren – das ist reine Geschichtspolitik.
LITERATUR
Droysen, Johann Gustav: Historik, herausgegeben von Peter Leyh, Stuttgart 1977.
Fenske, Hans (Hrsg.): Vormärz und Revolution 1840−1849, Darmstadt 1976.
Fenske, Hans (Hrsg.): Vormärz und Revolution 1840−1849, Quellen zum politischen Denken der Deutschen im 19. und 20. Jahrhundert, Band 4, Darmstadt 1976.
Frisch, Max: Mein Name sei Gantenbein, Frankfurt/ Main 1964.
Gall, Lothar (Hrsg.): Bismarck. Die großen Reden, Berlin 1981.
Novick, Peter: Nach dem Holocaust. Der Umgang mit dem Massenmord, Stuttgart 2001.
Ranke, Leopold von: Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1514, Leipzig 1855.
Seidl, Klaus: „Gesetzliche Revolution“ im Schatten der Gewalt. Die politische Kultur der Reichsverfassungskampagne in Bayern 1849, Stuttgart 2014.
Stenographische Berichte über die Verhandlungen der zur Vereinbarung der preußischen Staatsverfassung berufenen Versammlung, Bd. 1, Berlin 1848.
Tocqueville, Alexis de: Erinnerungen, Stuttgart 1954.