Wie erlebten Menschen die deutsche Volksgemeinschaft, die weder integrierter Bestandteil eben dieser waren und auch nicht diskriminiert und ausgeschlossen wurden? Ist es möglich, als Besuchender objektiver auf das Dritte Reich zu schauen? Dieser fremde Blick auf Deutschland in den zwölf Jahren der Naziherrschaft ist das Thema des vorliegenden Buches.
"Die Vorstellung, eine Reise in das Dritte Reich zu unternehmen, mag heute einigermaßen abwegig erscheinen. Und vielleicht wurde aus diesem Grund die Reiseliteratur über Nazideutschland als Thema übersehen." So beginnt der Herausgeber Oliver Lubrich, Literaturwissenschaftler an der Freien Universität Berlin, seine Einführung in das Thema.
Kenntnisreich in ihren jeweiligen zeitgeschichtlichen Kontext gestellt und sorgfältig ediert werden in diesem Buch "Reisen ins Reich 1933 bis 1945" Texte bekannter, vergessener und unbekannter internationaler Autoren vorstellt, die zwischen 1933 und 1945 Deutschland bereisten oder aus unterschiedlichen Gründen einige Zeit dort verbrachten. Die Beobachtungen dieser Autoren zeichnen ein durchaus widersprüchliches Bild des "Dritten Reiches".
Als Zeitzeugnisse sind sie äußerst aufschlussreich und bisher wenig genutzt. Die Autoren kamen aus den europäischen Nachbarstaaten, Frankreich, England, Belgien, Dänemark, Schweden, Norwegen, der Schweiz, Ungarn, aber auch aus den USA, China und weiteren Ländern. Worüber schrieben die reisenden Autoren? Wie verhielten sie sich zu dem, was sie in Deutschland beobachteten und erlebten? Viele Beiträge sind private Erinnerungen oder kulturjournalistische Aufzeichnungen. Nicht die politische Analyse des Nazireiches steht im Vordergrund, sondern Erfahrungen des Alltags.
Die Liste der bekannten Namen überrascht und beeindruckt: Samuel Beckett, Karen Blixen, Albert Camus, Max Frisch, Jean Genet, Sven Hedin, Christopher Isherwood, Vladimir Nabokov, Jean-Paul Sartre, William Shirer, Georges Simenon, Virginia Woolf und Thomas Wolfe. Wie war ihre Haltung zum NS vor dem Aufenthalt in Deutschland, wie war sie danach? Manche Autoren waren anfangs von der Dynamik des "Dritten Reichen" fasziniert. Einige blieben bis zum Ende Sympathisanten, andere schildern den Prozess ihrer allmählichen Desillusionierung.
Wenige legten von Anfang an eine Hellsicht an den Tag, die beeindruckend ist. Der schwedische Dichter Gunnar Ekelöf sah schon kurz nach der Machtergreifung den Niedergang voraus. Im Dezember 1933 an eine schwedische Schriftstellerkollegin: "Deutschland hat auf eine beklemmende Weise die Rolle als 'Europas kranker Mann' übernommen. Es ist ein verfaultes, absinkendes Bürgertum, das auch vor den gröbsten Infamien nicht zurückschreckt, sobald es den Kampf um die eigenen Hosen betrifft."
Die US-amerikanische Diplomatentochter Martha Dodd, die zunächst wie Thomas Wolfe Deutschland und dem Nationalsozialismus positiv gegenüberstand, kam 1938 zu dem Schluss, dass "Hitler zielstrebig auf die Liquidierung des deutschen Judentums hingearbeitet" habe. Auch Jean Genet, der in Frankreichs Gefängnissen noch mit dem Nationalsozialismus sympathisierte, wandte sich nach einem Aufenthalt in Berlin entsetzt von Deutschland ab. Ihm, dem Freund des Diebstahls, ist dieses "Volk von Dieben unheimlich".
Egal ob die Autoren subjektiv oder analytisch berichten, deutlich wird, wie sehr sich die Deutschen jener Zeit von den Bürgern der Nachbarstaaten unterscheiden: "Man braucht nur nach den Klängen der Musik zu marschieren und 'Hoch! Hoch! Hoch!' zu rufen, um den großen Schauder zu empfinden", schreibt Georges Simenon im Frühjahr 1933. Wo Ansichten von Nazi-Gegnern, noch Unentschiedenen und NS-Sympathisanten aufeinander treffen, bleibt am Ende kaum eine Frage zum NS unbeantwortet. Welche Einblicke konnten die Reisenden in das totalitäre System nehmen? Was wussten sie zu welchem Zweitpunkt? Wie gingen ausländische Autoren mit der Zensur um?
Der US-Radiokorrespondent Harry Flannery erwähnte 1941 beiläufig, dass "Juden in Konzentrationslager deportiert" werden. Er, der kaum Deutsch verstehen und sprechen konnte, verbreitet nur das Wissen, das jeder haben konnte, und widerlegt damit die Behauptung vieler Deutscher nach 1945, von nichts gewusst haben. Die Anordnung der Textauszüge, soweit sie zu datieren sind, folgen der Chronologie der wichtigsten historischen Ereignisse, die im Anhang in einer Zeittafel aufgelistet sind. Den einzelnen Textauszügen wurden zur besseren Orientierung Überschriften und kurze Einleitungen zur Einordnung von Autor und Werk hinzugefügt. Im Anhang finden sich ein Verzeichnis der Textquellen sowie eine Dokumentation weiterführender Literatur zu den Autoren und ihren Werken.
Diese Anthologie eignet sich hervorragend als Lese- und Quellenbuch für den Geschichts- und Literaturunterricht in der Oberstufe.