Die vorliegende Publikation versammelt 22 unterschiedliche Beiträge, die die Bedeutung der Themen Nationalsozialismus und Holocaust für die Ausbildung von Lehrerinnen im deutschen und internationalen Kontext untersuchen.
Wie aktuell die Frage nach Qualität und Quantität der Lehrerbildung in Bezug auf den Holocaust ist, illustriert zum Beispiel die häufig anzutreffende didaktische Fehlleistungen, dass SchülerInnen oft ungefragt und unvorbereitet mit Fotos medizinischer Experimente, Massenerschießungen oder von strangulierten Kindern konfrontiert werden. Mit dem Nationalsozialismus verknüpfte Fragen von Kindern oder Jugendlichen werden von den Erwachsenen als Aufhänger verwendet, um über den Fragenden unzählige weit über das erfragte Maß hinausreichende und abstrakt bleibende Belege der Diskriminierung und Vernichtung einschließlich der korrekten moralischen Bewertung des historischen Geschehens auszuschütten. Ganz unabhängig von deren Verarbeitungsmöglichkeiten oder Interesse am Thema. Sind diese Negativbeispiele Ausnahme oder Regel des Unterrichts über den Nationalsozialismus? Sind sie Ausdruck individueller Unfähigkeit der Lehrenden oder eines strukturellen Problems unzureichender Aus- und Weiterbildung?
Hinweise darauf geben die Beiträge der ersten zwei Kapitel, die sich der Fragestellung im Kontext der Bundesrepublik zuwenden. Die Herausgeber beschreiben einleitend den gesellschaftlichen und bildungspolitischen Hintergrund für die historisch-politische Bildung zu Nationalsozialismus und Holocaust. Dabei verweisen sie insbesondere auf den sich in seit der Wiedervereinigung manifestierenden Rassismus und den sich zunehmend offener artikulierenden Antisemitismus innerhalb der bundesdeutschen Gesellschaft. In Bereich der Erinnerungspolitik und Gedenkkultur, die sich nicht zuletzt in den überarbeiteten Rahmenplänen der neuen Bundesländer abbildet, erlebt eine, die Verbrechen des Dritten Reichs und der DDR gleichsetzende, Totalitarismustheorie eine Renaissance, welche im Begriff der „Opfer der Gewaltherrschaft“ bzw. der „Opfer beider Diktaturen“ ihren Ausdruck findet.
In einer historischen Betrachtung nähern sich Wolfgang Stammwitz und Matthias Mücke der Bedeutung des Holocaust in der Ausbildung von Lehrern in der BRD bzw. der DDR. Stammwitz belegt dabei detailreich die Leerstelle „Vernichtung der europäischen Juden“ in der Ausbildung der Geschichtslehrer in den 50er und 60er Jahren. Der Unterricht über die NS-Verbrechen durch diese Lehrergenerationen basierte auf einer autodidaktischen Aneignung des Themas oder er fand nicht statt.
Ausgehend von der Frage nach den eigenen weißen Flecken im Geschichtsbild beschreibt Matthias Mücke die Relativierung des Antisemitismus und der Judenvernichtung in den bildungspolitischen Vorgaben zum „Nationalsozialismus“ in der DDR. Die eindimensionale Dimitroff´sche Analyse des Nationalsozialismus schützte „das neue Deutschland“ sowohl vor der Frage nach der Beteiligung der „ganz normalen Deutschen“ an der Vernichtung der Juden als auch vor einer Auseinandersetzung mit antikapitalistischen Rhetoriken der NS-Ideologie. In der Konsequenz blieb die historische Forschung zur Judenvernichtung in der DDR begrenzt, in den Rahmenplänen schlug sie sich gar nicht nieder.
Die aktuelle Ausbildungssituation von Lehrerinnen an deutschen Hochschulen beschreiben Dagmar Grenz, Wolfgang Wippermann, Hanns-Fred Rathenow u.a. sowie Eckehard Tramsen in ihren Beiträgen. Als Hochschullehrer/innen zukünftiger Deutsch-, Geschichts- und Politiklehrer betonen sie das Gebot einer festen Verankerung der Thematik im universitären Curriculum. Sie verweisen auf die Notwendigkeit, sich im Bereich der Didaktik nicht nur mit der Vermittlung „historischer Fakten“ auseinander zusetzen, sondern Fachliteratur ebenso wie Kinder- und Jugendbücher als Teil der Rezeptionsgeschichte wahrzunehmen und als solche zu analysieren.
Grenz und Rathenow u.a. plädieren darüber hinaus für eine intensivere Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Formen von TäterInnengeschichten sowie der faszinierenden Seite von Macht, Täterschaft und Gemeinschaft. Deutlich wird in beiden Beiträgen darüber hinaus das Dilemma, einerseits die Entwicklung eines eigenen Standpunkts der Studierenden im Gespräch über die NS-Geschichte zu wünschen, andererseits den Studierenden jedoch mit einem, den schulischen Rahmenplänen durchaus ähnlichen, nahezu geschlossenem Pflichtcurriculum von Thematiken und Zugängen entgegenzutreten.
Heidemarie Sow und Jens Augner beschreiben aus der Perspektive von Praktiker/innen eigene, die Ausbildungsphase des Referendariats betreffende Projekte. Insbesondere der von Augner konsequent und erfolgreich umgesetzte reformpädagogische Ansatz, Gleichaltrige zu MultiplikatorInnen fortzubilden und sich als Lehrer auf die Rolle des Unterstützenden zu beschränken, verdient Beachtung. Augner hebt hervor, dass die „hierarchiearme Konstellation“ innerhalb der altersheterogenen Schülergruppen eine wesentliche Bedingung für das Gelingen der Gedenkstättenfahrt – sowohl der Erwerb kognitiven Basiswissens als auch eine freiwillige emotionale Annäherung an die Thematik - war.
Im dritten Teil des Sammelbandes werden gelungene Projekte der Lehrerinnenfortbildung erfasst (Heinrich Bartel, ISR, Norbert H. Weber, PL). Annegret Ehmann richtet ihren Blick auf die Lehrerfortbildung in den neuen Bundesländern, analysiert die aktuell vorliegenden Rahmenpläne und kritisiert deren Ausrichtung an einem allein emphatisch auf die Gruppe der jüdischen Opfer ausgelegten Zugang. Elke Gryglewski beschreibt Möglichkeiten, mit Kindern und Jugendlichen zu den Themen Nationalsozialismus und Holocaust zu arbeiten. Sie plädiert ausdrücklich dafür, Fragen und Interessen der Kinder und Jugendlichen als den Rahmen zu begreifen, in dem diese beantwortet bzw. diesen nachgekommen werden soll. Schülerinnen müssen als kompetent für die ihnen zur Verfügung stehenden Verarbeitungsmöglichkeiten begriffen werden. Schockpädagogik verhindert dagegen das übergeordnete Bildungsziel der Mündigkeit.
Im vierten Kapitel stellt das Buch Ansätze der „Holocaust Education“ in der Aus- und –Weiterbildung von Multiplikatorinnen- aus anderen Ländern vor. Auf der Basis von Schulbuchanalysen (Krysztof Ruchniewicz, PL, Zdenek Jirásek, CZ), der Befragung von Lehrerinnen und HochschullehrerInnen (Sami Adwan, Palästinensische Gebiete), der Beschreibung eigener didaktischer Ansätze (Ian Davies, UK, Tomasz Kranz, PL) oder dem Versuch einer Gesamtdarstellung existierender Ausbildungsmöglichkeiten und Rahmenplanvorgaben (Samuel Totten, USA, Michael Schwennen, Michael Yaron, ISR) führen die Autoren in die länderspezifischen Akzentuierungen ein. Deutlich wird dabei der vor allem gegenwartsbezogene und gegenwartslegitimatorische Charakter historisch-politischer Bildung. So wird die Unterrichtung oder Ignoranz gegenüber der Thematik Holocaust in den palästinensischen Gebieten durch die individuelle Einschätzung des Nahost-Konflikts der Lehrenden bestimmt.
Ian Davies setzt die unterrichtliche Bearbeitung des Holocaust in den Kontext einer universalistischen Menschenrechts- und Demokratieerziehung, wenn er sein hochschuldidaktisches Konzept - die Erkenntnis über den eigenen familiären Migrationshintergrund als individuelle Erfahrung, ebenfalls zu den „Anderen“ zu gehören - darstellt. Am deutlichsten lässt sich die Abhängigkeit historisch-politischer Bildung von dem, was politisch als opportun gilt, an Lehrbüchern nachweisen. So tauchen in den tschechischen und polnischen Geschichtsbüchern bis in die 80er Jahre Juden als Opfer des NS kaum auf, erst in den 90er Jahren wird ein deutlicher Wandel sichtbar.
Der Holocaust, so zitiert Tomasz Kranz die Untersuchung polnischer Geschichtsbücher durch Feliks Tych, wird dennoch in den meisten Lehrbüchern als Facette deutscher Besatzpolitik gegenüber Polen wahrgenommen. Mit dieser Deutung werden sowohl der spezifische Charakter des Antisemitismus und der Judenvernichtung für den NS-Staat als auch die polnische Kollaboration verdrängt. In den letzten Jahren entstehen jedoch, auch als Ergebnis der israelisch-polnischen und der polnisch-deutschen Schulbuchkommissionen Lehrbücher, die den Holocaust nicht länger der christlich- polnischen Geschichte unterordnen und die sich im Rahmen der Auseinandersetzung mit der„Jedwabne-Debatte“ auch mit der Frage polnischer Mittäterschaft auseinandersetzen.
Im abschließenden Aufsatz stellen Britta Frede-Wenger und Peter Trummer ein trinationales (PL, CA, D) Projekt mit Lehramtsstudierenden vor, in dessen Mittelpunkt die Unterschiedlichkeit von Perspektiven auf die Geschichte und Ziele historisch-politischer Bildung steht. Während weiße Deutsche, Polinnen und jüdische Kanadier die Erarbeitung der NS-Geschichte als unmittelbar mit ihrer persönlichen und kollektiven Identität verbunden betrachten, wird Holocaust Education für die nichtjüdischen Kanadierinnen eher als Teil eines nicht-rassistischen Erziehungskonzepts betrachtet. Ziel des Projektes war demnach nicht, eine gemeinsame Position zu Geschichte, Rezeption und pädagogischen Zugängen zu finden, sondern ein Verstehen für die verschiedenen Kontexte von Verstrickung, Erinnerung und Verarbeitung zu entwickeln.
Der vorliegende Sammelband kann die eingangs gestellte Frage nach Qualität und Quantität der Beschäftigung mit den Themen Holocaust und Nationalsozialismus in der nationalen und internationalen Lehrerinnenbildung nicht unmittelbar beantworten. Die Stärke der Publikation liegt in der Vielfältigkeit der Themen und der Zugänge der Autor/innen. Insbesondere die Vorstellung von hochschul- und schuldidaktischen „Best practice“-Ansätzen verdient besondere Würdigung. Die Vielfältigkeit der Publikation überlässt es dem Leser/der Leserin, verbindende Schlussfolgerungen zu ziehen. Der Sammelband verbleibt weitgehend auf der Darstellungsebene. Auch eine Reflexion über das „Was“ und „Wie“ statt eines „Ob“ und „Wie viel“ an historisch-politischer Bildung zum Nationalsozialismus wird nur in einigen Beiträgen aufgegriffen.
Den Herausgebern ist zuzustimmen, wenn sie fordern, dass eine Diskussion des ethischen Bezugsrahmens nach Auschwitz zum Pflichtkanon jeder wissenschaftlichen Ausbildung und somit auch zur LehrerInnenausbildung gehören sollte, ebenso wie die intensive Diskussion über didaktisch-methodische Zugänge und deren Begrenzungen. Erst dann könnte für die universitäre Lehrerausbildung die Frage beantwortet werden, welchen strukturellen Beitrag sie zu einem zeitgemäßen und den Schülerinnen entsprechenden Unterricht zu Nationalsozialismus und Holocaust leisten kann.