Geschichte, gerade wenn sie schwierige, belastete Themen enthält, vermag sich an die nächste Generation vor allem über Erzählungen zu vermitteln. Die Kölner Schriftstellerin Gertrud Seehaus und ihr Ehemann, der jüdische Journalist Peter Finkelgruen, blicken auf ein sehr ungewöhnliches, dennoch produktiv verarbeitetes Leben zurück. Dieses möchten sie nun an ihre Enkelkinder weitererzählen, an David und Anna, deren Photos wir im Buch begegnen. So haben sie nun erstmals gemeinsam ein Kinderbuch geschrieben. Der Schriftsteller Günter Kunert, dem das Buch gefiel, hat ihnen hierzu Bilder gezeichnet.
Einen Schwerpunkt des Buches bilden die traumatischen Erlebnisse, welche Peter Finkelgruen mit Glück überlebte. Parallel dazu erzählt Gertrud Seehaus - sie wurde 1934 geboren - aus ihrer katholischen Kindheit im Nationalsozialismus. Sie erzählen in einer leichten, kindgemäßen, nicht anklagenden Weise: "Wir wurden an schöne Dinge, aber auch an traurige erinnert. Schöne Dinge - das waren Spiele und Freunde und lustige Ereignisse, traurige - das waren Krieg und Verfolgung und der Tod der Menschen, die wir lieb hatten." (S. 9) Und: "So war unser Leben - gibt es Übereinstimmungen mit Eurem", so ist die Grundhaltung.
Gertrud Seehaus arbeitete lange in Köln als Lehrerin, bevor sie Schriftstellerin wurde. Peter Finkelgruen wurde 1942 als Kind einer jüdischen Familie in Shanghai - wo seine Eltern Zuflucht gesucht hatten - geboren, ging 1946 zusammen mit seiner Großmutter nach Prag und siedelte 1951, nach dem Tod seiner Mutter, nach Israel über, wo er das Abitur machte. Peter Finkelgruen wollte studieren, so kehrte er gemeinsam mit seiner Großmutter nach Deutschland zurück, studierte politische Wissenschaft und arbeitete seit 1963 in Köln bei der Deutschen Welle. In den 1980er Jahren gingen die Finkelgruens für sechs Jahre nach Israel, wo Finkelgruen als Korrespondent wirkte. Vor gut zehn Jahren publizierte er die autobiographischen Bücher "Haus Deutschland oder Die Geschichte eines ungesühnten Mordes" (1992) sowie "Erlkönigs Reich. Die Geschichte einer Täuschung" (1997). Der Kölner Filmemacher Dietrich Schubert hat ein eindrucksvolles filmisches Portrait über sein Leben erstellt. Seit einigen Jahren gehört Peter Finkelgruen dem Vorstand des P.E.N. Zentrum deutschsprachiger Autoren im Ausland an.
Von diesen Erlebnissen nun erzählen die Finkelgruens in einer persönlichen, einfachen, berührenden Sprache. Sie beschreiben in knappen Sätzen das Erstarken des Nationalsozialismus, durch welchen Finkelgruens jüdische Eltern ausgeschlossen, bedroht wurden: "Die anderen von damals waren die Juden. Manche trugen schwarze Mäntel, hatten Schläfenlocken und sprachen ein merkwürdiges Deutsch. Anders als Kölsch, Bayrisch oder Hessisch. Man nennt es Jiddisch. Heute hört man es kaum in Deutschland. Die meisten Juden aber sahen aus wie Eure Mütter und Väter, wie wir und Ihr." (S. 18) Woher kommen unsere Familiennamen, was erzählen sie uns? "Jetzt zu Finkelgruen. Finkeln ist das jiddische Wort für funkeln. Und was funkelt grün? Ein Smaragd! Der erste Herr Finkelgruen hat vermutlich Smaragde geschliffen oder verkauft, war also eine Art Edelsteinschleifer oder Juwelier. Gefällt Euch das?" (S. 24).
Die Finkelgruens schreiben über Peters Kindheit im Shanghaier Getto. Es wird ein Abbildung vom ersten Getto gezeigt, in Venedig, 1531. Unter der Überschrift "Nicht alle Betten sind Himmelbetten" schreiben sie: "Der kleine Peter im Getto hatte ganz sicher keine Wiege und auch keinen Kinderwagen. Er hatte auch kein Himmelbett. Er schlief, wo sich gerade Platz fand. Und das waren keine Kuschelecken. (...) Der kleine Peter, der heute, David und Anna, Euer Opa ist, weiß nicht mehr, wo er damals schlief. Aber ganz sicher waren es abenteuerliche Schlafplätze. Ihr könnt Euch ja welche ausdenken." (S. 33).
Gertrud hingegen lebte in diesen Jahren in Bonn, suchte Schutz in Bunkern. Wir sehen ein Gruppenphoto mit dem dreijährigen Peter in einer Gruppe von Kinder aus Shanghai. Mit diesen hat er damals gespielt. Er sieht wirklich sehr fremd aus, unter all diesen Asiaten. Aber sein Leben bleibt dem Leser nicht lange fremd. Peter erzählt einige kurze Geschichten nach, welche ihm seine Großmutter - welcher er sein Überleben verdankt - damals erzählt hat.
Und den allfälligen moralischen Einwand, dass man Kindern nicht solche traurigen Geschichten erzählen dürfe, wissen die Autoren gleich zu entkräftigen: "Stop! Halten wir unseren Gedankenteppich für kurze Zeit an und steigen herunter. Bevor es nämlich weitergeht, wollen wir Euch etwas sagen: Wir sind ein bißchen traurig, daß wir Euch keine lustigere Geschichte erzählen können. Aber schließlich können wir nur das erzählen, was sich ereignet hat." (S. 49). Und wenig später schreiben sie: "Manche Erwachsene wollen nicht, daß man Kindern so traurige Geschichten erzählt, wie wir sie Euch erzählen, Geschichten über Konzentrationslager. Aber es ist doch unsere Geschichte, ob wir wollen oder nicht!" Es ist unsere Familiengeschichte." (S. 59).
Geschichte ist ein Teil von uns. Und sollte erzählt werden. Und so erzählen Gertrud und Peter auch von ihren Haustieren. Und von den Abenteuern, die man mit einem Fahrrad erleben kann - wenn auch Peter seinerzeit keines hatte. Aber auch von dem gelben Stern, den Juden damals tragen mussten. Wir sehen ein Photo von der zerstörten Hohenzollernbrücke, mit dem wie durch ein Wunder erhalten gebliebenen Kölner Dom. Und Peter erzählt von seiner abenteuerlichen Rückreise von Shanghai nach Prag, wo er vierjährig beinahe in einer Toilette ertrinkt - und so zum bewunderten Helden des Schiffs wird. Das kleine, ansprechende, rührende Kinderbuch endet mit den Worten: "Und ihr, die mitreisenden Freunde und Freundinnen von Anna und David, könnt mit Euren Großeltern und Eltern deren Reisen machen und Euch gegenseitig davon erzählen. Denn wer seine Geschichten erzählt, kann verstanden werden. Und selbst, wer gestorben ist, wird nicht vergessen werden, wenn seine Geschichten weiterleben." (S. 69).
Die Finkelgruens sind gerne bereit, in Kölner Schulen im Rahmen längerer Unterrichtsprojekte aus ihrem Buch vorzulesen: gertrudseehaus [at] gmx [dot] net
Dieser Text wurde erstmalig in dem jüdischen Internetmagazin haGalil veröffentlicht.