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Die Frage wie Bildungsarbeit gegen Antisemitismus und die Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus in Zeiten der Covid-Pandemie aussehen können, verdeutlichte schnell die Bedeutung von digitalen Zugängen und Konzepten sowie die Notwendigkeit der digitalen Transformation von historisch-politischer Bildungsarbeit.
Im Frühjahr 2020 zeigte sich, dass die Pandemie die Durchführung von Workshops in Schulklassen deutlich erschwert, mitunter verunmöglicht. Deshalb erschien es notwendiger denn je Bildungsarbeit außerhalb von geschlossenen Räumen zu denken.
Die Idee, einen digitalisierten Gedenkspaziergang zur Widerstandsgruppe um Marianne und Herbert Baum durch Berlin-Mitte mithilfe der App Actionbound (interaktiver Multi-Media Guide) zu entwerfen, entstand im März 2020. Wichtig war dabei, einen erleichterten und kostenlosen Zugang zu Bildungsinhalten zu schaffen. Das Konzept ist somit eine Reaktion auf die Perspektiven, Möglichkeiten und Grenzen von Bildungsarbeit gegen Antisemitismus in Zeiten der Pandemie.
Auf dem Spaziergang begeben sich die Teilnehmenden auf Spurensuche in Berlin-Mitte. Sie lernen die Lebensgeschichten von sieben Freund*innen kennen, die zur Zeit des Nationalsozialismus einer großteils jüdischen Widerstandsgruppe in Berlin angehörten. Die Biografien der jungen Menschen führen die Teilnehmenden durch das ehemalige Scheunenviertel, wo einige der Mitglieder der Widerstandsgruppe gelebt und gewirkt haben: die Schwestern Alice und Hella Hirsch, Herbert Budzislawski und die Paare Marianne und Herbert Baum sowie Sala und Martin Kochmann.
Sie alle verband in erster Linie ihre Freund*innenschaft und ein starkes Interesse für den Kommunismus. Aber sie teilten auch die Erfahrungen von antisemitischer Ausgrenzung und Verfolgung im Nationalsozialismus. Gemeinsam fassten sie den Entschluss, auf verschiedene Arten Widerstand zu leisten.
Im Laufe des Spaziergangs wird die stetig zunehmende Entrechtung von Juden*Jüdinnen im Nationalsozialismus thematisiert und der Frage nachgegangen, was Freund*innenschaft und Widerstand für die sieben jungen Menschen bedeutete – in einer Zeit, in der ihr Leben zunehmend bedroht wurde.
Es wird Wissen über die Ereignisse in Berlin zur Zeit des Nationalsozialismus vermittelt und verortet: zum Beispiel die Angriffe während der Reichspogromnacht am 9./10. November 1938 auf die Synagoge in der Oranienburger Straße. Fünf Jahre zuvor hatte einer der Jugendlichen, Herbert Budzislawski, in der Synagoge seine Bar Mizwa erlebt, ein Fest bei dem das Erreichen der religiösen Mündigkeit gefeiert wird. Darüber hinaus werden diverse Widerstandsaktionen aufgegriffen: von illegalen antifaschistischen Plakataktionen der Geschwister Alice und Hella Hirsch bis hin zu dem Brandanschlag von Herbert Baum und einigen seiner Freund*innen und Genoss*innen auf eine nationalsozialistische Propaganda-Ausstellung am Berliner Lustgarten.
Ferner werden verschiedene Formen von Erinnerung im Stadtbild veranschaulicht und reflektiert, beispielsweise der Gedenkstein an die Gruppe um Marianne und Herbert Baum im Lustgarten. Dort endet der Spaziergang mit einem kurzen Videozeitzeugenbericht vom Überlebenden Walter Sack, der dem Freund*innenkreis der sogenannten Herbert-Baum-Gruppe angehörte und durch eine frühzeitige Emigration die Shoah überleben konnte.
Das Narrativ der vermeintlich wehrlosen Juden*Jüdinnen ist noch immer weit verbreitet. Sofern Widerstandsaktionen und Widerstandskämpfer*innen beispielsweise im Unterricht behandelt werden, sind diese vorwiegend nicht jüdisch und falls doch, werden sie nicht als jüdischer Widerstand benannt. Auch Herbert Baum und seine Freund*innen wurden in erster Linie als Kommunist*innen wahrgenommen und als solche thematisiert. Der Freund*innenkreis um Marianne und Herbert Baum zeigt jedoch deutlich, dass es sich um junge jüdische Menschen handelte, die nicht nur als Kommunist*innen, sondern vor allem auch als Jüdinnen*Juden verfolgt wurden. Ihr Lebensmittelpunkt war Berlin und einer ihrer Treffpunkte der Alexanderplatz, der auch heute noch ein beliebter Treffpunkt für Jugendliche ist. Der Spaziergang markiert den Versuch, die Erinnerung an die Widerstandsgruppe in Berlin wachzuhalten. Die Lebensgeschichten der jungen jüdischen Widerstandskämpfer*innen sollen dabei im Stadtbild verortet und sichtbar gemacht werden. Auf diese Weise soll schließlich ein Beitrag geleistet werden, das dominante Narrativ der vermeintlich wehrlosen Juden*Jüdinnen zu brechen.
Ziel des Actionbounds ist eine durch diverse Biografien angeregte Auseinandersetzung mit dem Thema jüdischer Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Anhand der verschiedenen Lebensgeschichten soll das Wissen über den Nationalsozialismus vertieft, aber auch eine Reflexion über das Thema Freund*innenschaft und Widerstand angeregt werden.
Mithilfe des interaktiven Stadtrundgangs gehen die Teilnehmenden auf Spurensuche und entdecken gemeinsam Geschichte vor Ort, in der eigenen Stadt. Das neu erworbene Wissen wird mit dem eigenen Lebens- und Wohnumfeld verknüpft und dadurch Geschichtsbewusstsein gefördert. Durch die interaktiven Elemente werden immer wieder Brücken zur persönlichen Lebenswelt, dem Alltag und den Wahrnehmungen der Teilnehmenden geschaffen. Nicht zuletzt werden unterschiedliche Formen von Gedenken reflektiert und die Erinnerung an die Widerstandsgruppe im Stadtbild sichtbar gemacht und lebendig gehalten.
Durch das Kennenlernen der vielseitigen Biografien sollen die Teilnehmenden einen Einblick in die Lebenswirklichkeiten von jüdischen Jugendlichen in Berlin zur Zeit des Nationalsozialismus gewinnen. Selbstverständlich kann dieser Einblick nur unvollständig und fragmentarisch bleiben. Der Lebensrealität der Jugendlichen im Widerstand kann sich dabei lediglich angenähert werden. Die eigene Perspektive zu wechseln, sich in eine andere Person und zusätzlich noch in eine andere Zeit hineinzuversetzen, kann immer nur einen Versuch darstellen und nie ganz gelingen. Dennoch kann dieser Versuch dazu beitragen, sich um einen Perspektivwechsel zu bemühen und den eigenen Blick für andere Lebenswirklichkeiten zu schärfen. Dadurch wird schließlich auch ein Verständnis für andere Sicht- und Lebensweisen und nicht zuletzt Empathiefähigkeit gefördert.
Hauptzielgruppe des Actionbounds sind (bildungsbenachteiligte) Schüler*innen ab der 10. Klasse, da der Actionbound an Vorwissen zum Nationalsozialismus und der Shoah anknüpft und dieses erweitert. Darüber hinaus richtet sich das Angebot an alle Interessent*innen.
Für die Umsetzung des digitalisierten Spaziergangs durch Berlin Mitte fiel die Wahl auf die App Actionbound. Die App ermöglicht es, Routen für Spaziergänge zu entwerfen und diese mit Fragen und multimedialen Inhalten zu ergänzen. Die in den Actionbound eingespeisten Informationen setzen sich aus Audiobeiträgen, Texten, Fotografien, assoziativen Bildern und einem Zeitzeug*innenbericht in Form eines Videos zusammen. Die Audiobeiträge vermitteln die wesentlichen Informationen zu jeder Station. Darüber hinaus bietet die App interaktive Möglichkeiten: Teilnehmer*innen können auf Fragen mit Audio-, Video-, Fotobeiträgen oder auch durch eine Teilnahme an einer knappen Umfrage zu ihrem eigenen Alltag antworten und den Rundgang somit aktiv mitgestalten. Offene Fragestellungen sollen dabei eine Subjektorientierung ermöglichen, die die Teilnehmenden mit ihren jeweiligen Interessen und Wissenshintergründen berücksichtigt. Es gibt kein Richtig oder Falsch, es zählen vielmehr die persönlichen Eindrücke, Beobachtungen, Gedanken und Erfahrungen, ohne letztere jedoch direkt abzufragen.
Insgesamt liegen neun Stationen auf der etwa 3,2 Kilometer langen Route: Der Spaziergang beginnt am Alexanderplatz, verläuft über den Hackeschen Markt zur Synagoge in der Oranienburger Straße, weiter zur Auguststraße, Gipsstraße, Großen Hamburger Straße und endet schließlich am Gedenkstein für die antifaschistische Gruppe um Herbert Baum am Berliner Dom und Lustgarten. Die Teilnehmenden werden von einer Station zur nächsten mittels der App navigiert. Der Actionbound dauert zu Fuß ca. 2 Stunden, ist aber auch in kürzerer Zeit mit dem Fahrrad möglich.
Für die Teilnahme wird ein Smartphone oder Tablet mit der installierten App Actionbound benötigt. Die Nutzung der App ist dabei kostenlos. Der Spaziergang kann durch den Zugang über die App Actionbound wahlweise über Eingabe des Titels „Junger jüdischer Widerstand gegen den Nationalsozialismus“ in die Suchfunktion oder Scannen des QR Codes (zu finden auf der Internetseite www.miphgasch.de/workshops) jederzeit gestartet werden.
Kopfhörer sind von Vorteil. Wenn sich mehrere Teilnehmende ein Gerät teilen, empfehlen sich Adapter, die es ermöglichen, bis zu drei Kopfhörerpaare an ein Smartphone/Tablet anzuschließen.
Die Inhalte des Actionbounds können im Wlan z.B. zuhause oder in der Schule vorgeladen werden. Für die Navigation und die interaktive Teilnahme benötigt es zudem leider mobiles Datenvolumen oder Zugang zu öffentlichem Wlan.
Welche Möglichkeiten gibt es, den Actionbound durchzuführen?
Der interaktive Spaziergang kann alleine oder gemeinsam in einer Gruppe beispielsweise mit Freund*innen und/oder der Familie durchgeführt werden.
Auch eine Durchführung mit einer Schulklasse in Begleitung einer Lehrkraft ist empfehlens- und wünschenswert. Die Inhalte lassen sich von jedem Ort aus mithilfe der App Actionbound abrufen, sodass eine Vorbereitung auf Ablauf, Route und Inhalte gewährleistet werden kann.
Für Berliner Jugendliche, Schüler*innen und Multiplikator*innen kann der Actionbound auch von zwei Teamenden des Bildungsvereins Miphgasch/Begegnung e.V. begleitet werden.
Zur Ergänzung des Actionbounds gibt es einen Workshop (ggf. auch in Form eines Webinars) von Miphgasch/Begegnung e.V., welcher auf die Inhalte des Spaziergangs vorbereitet. Der Workshop und Actionbound können bei Bedarf auch jeweils einzeln und getrennt voneinander durchgeführt werden. Die Einhaltung der jeweiligen Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-Pandemie wird bei der Durchführung gewährleistet.
Das Projekt wurde im Rahmen des Landesprogramms gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus durch die Senatsverwaltung für Justiz, Verbraucherschutz und Antidiskriminierung, die Landesstelle für Gleichbehandlung - gegen Diskriminierung (LADS) gefördert.
Miphgasch heißt Begegnung auf Hebräisch. Der Verein Miphgasch/Begegnung e.V. bietet kostenlose Bildungsangebote für Berliner Schulklassen, Jugendgruppen und Multiplikator*innen an. Wir möchten damit Kindern, Jugendlichen und Multiplikator*innen Begegnungen ermöglichen und Verständigung fördern. Mit dem Angebot laden wir (junge) Menschen ein, sich aus neuen Perspektiven mit den Themenfeldern Migration, Identität, Religion, Antisemitismus, Nahost und Nationalsozialismus auseinanderzusetzen.
Brothers E. (2012): Berlin Ghetto. Herbert Baum and the anti-fascist Resistance. The History Press: Gloucestershire.
Brothers E.: „Wer war Herbert Baum? Eine Annäherung auf der Grundlage von „oral histories“ und schriftlichen Zeugnissen“. In: Lökhen W., Vathke W. (Hg.) (1993): Juden im Widerstand. Drei Gruppen zwischen Überlebenskampf und politischer Aktion. Berlin 1939-1945. Edition Hentrich: Berlin.
Geisel E.: „Störenfriede der Erinnerung“. In: Lökhen W., Vathke W. (Hg.) (1993): Juden im Widerstand. Drei Gruppen zwischen Überlebenskampf und politischer Aktion. Berlin 1939-1945. Edition Hentrich: Berlin.
Kasper B., Schuster L. (2007): Hella Hirsch und ihre Freunde. BetaSP/DVD, 35 Minuten, Deutschland.
Lökhen W., Vathke W. (Hg.) (1993): Juden im Widerstand. Drei Gruppen zwischen Überlebenskampf und politischer Aktion. Berlin 1939-1945. Edition Hentrich: Berlin.
Scheer R. (2004): Im Schatten der Sterne. Eine jüdische Widerstandsgruppe. Aufbau Verlag: Berlin.