Berlin im Sommer 2016: Angehörige der linksautonomen Szene zünden in Friedrichshain Autos an und leisten sich gewaltsame Auseinandersetzungen mit Polizist_innen. Wochenlang trauen sich manche Anwohner_innen der Rigaer Straße kaum vor die Tür, berichten von Schikane durch die Polizei. Auslöser für den Ausnahmezustand im Berliner Trendbezirk ist Innensenator Frank Henkels (CDU) Anordnung, das teilweise besetzte Haus in der Rigaer Straße 94 zu räumen. Schuldzuweisungen und Anfeindungen aus allen und in alle Richtungen lassen die Fronten zunehmend verhärten. Henkel wird vorgeworfen, aus wahlkampftaktischen Gründen ein Exempel statuieren zu wollen. Ein Gericht entscheidet schließlich zugunsten der Besetzer_innen, woraufhin sich die Polizei aus der Rigaer Straße zurückziehen muss.
Nicht zum ersten Mal gerieten in Berlin Hausbesetzer_innen und Staatsmacht aneinander. Im Herbst 1990 war die Situation schon einmal eskaliert: In der Mainzer Straße, ebenfalls in Friedrichshain gelegen, waren damals die Ausschreitungen weitaus schlimmer als 2016. Anwohner berichteten hinterher sogar von „bürgerkriegsähnlichen Zuständen“.
Am Beispiel der Mainzer Straße zeigt eine Website, wie viel Geschichte in der unmittelbaren Nachbarschaft steckt und auch, wie sich anhand dieser Geschichte tagesaktuelle Ereignisse oftmals besser einordnen lassen. Die verantwortlichen Studierenden des Masterstudiengangs Public History an der FU Berlin präsentieren die Geschichte der Mainzer Straße als „Mikrokosmos, der von der ‚großen‘ nationalen Geschichte ebenso viel erzählt wie von den individuellen Lebensgeschichten der Menschen, die dort gewohnt haben“.
Die Seite ist chronologisch aufgebaut und damit gut zu überblicken. Die (naheliegenden) thematischen Schwerpunkte sind die ersten Jahre der Mainzer Straße in den 1890er-Jahren, die Weimarer Republik, der Nationalsozialismus, die DDR, der „heiße Herbst“ 1990 sowie die Mainzer Straße in der Gegenwart. Jede Rubrik umfasst dabei mehrere Artikel.
Das Friedrichshain der späten 1920er- und frühen 1930er-Jahre wird auf der Seite als „Hochburg des Widerstands“ gegen die nationalsozialistische Bewegung charakterisiert. Sowohl Kommunist_innen als auch Sozialdemokrat_innen waren demnach im Berliner Osten sehr präsent und lieferten sich mit den Nationalsozialisten brutale Kämpfe auf offener Straße. Menschen wurden entführt; in der Mainzer Straße kam es sogar zu tödlichen Schüssen auf den jungen Kommunisten Rudi Toffel. Trotz des gemeinsamen Feindbildes bekämpften sich Anhänger_innen von SPD und KPD bis zuletzt auch gegenseitig und waren nicht dazu bereit, ihre Kräfte gegen die Bedrohung von rechts zu bündeln.
Die Rubrik „Nationalsozialismus“ erzählt die Geschichte der jüdischen Familie Gelbart, damals wohnhaft in der Mainzer Straße 13. Josef Gelbart arbeitete hier gleichzeitig als Hausverwalter. Hatte das Ehepaar die jahrelangen Anfeindungen und Drohungen seitens der anderen Mieter noch ertragen können, veranlasste das Berufsverbot für Juden Josef Gelbart und seine Frau Rosa 1938, Berlin und Deutschland zu verlassen. Trotz vieler Gefahren gelang ihnen die Flucht nach Palästina. Andere Jüdinnen und Juden aus der Mainzer Straße hatten weniger Glück: Heute erinnert hier ein Stolperstein an Gertrud Luchterhand, die sich nach Ankündigung ihrer Deportation das Leben nahm. Ein weiterer Stolperstein erinnert an den Homosexuellen Richard Miersch, der wegen „widernatürlicher Unzucht“ inhaftiert und 1943 im Gefängnis Tegel ermordet wurde.
Jahrzehnte später waren in der Mainzer Straße Informant_innen des Ministeriums für Staatssicherheit aktiv. Die Website erzählt die Geschichte zweier Student_innen, die in den 1980er-Jahren unter den Decknamen „Hans Radke“ und „Carola“ ihre Nachbarn bespitzelten. Ein anderer Artikel widmet sich dem in der DDR immer häufiger auftretenden Phänomen des „Schwarzwohnens“: Der große Wohnungsleerstand und die Anonymität der Großstadt veranlassten zahlreiche Ost-Berliner_innen dazu, Wohnungen illegal zu beziehen. In vielen Fällen blieb dies unbemerkt. Den Behörden gelang es nie, effektiv gegen die „Schwarzwohner_innen“ vorzugehen.
Die Hausbesetzer_innen, die 1990 so massiv mit der Staatsmacht aneinanderprallten, waren also nicht die ersten illegalen Bewohner_innen der Mainzer Straße. So viel Aufmerksamkeit wie während der Wende wurde ihnen allerdings noch nie zuteil. In die Darstellung des „heißen Herbstes“ fließen gleich mehrere Perspektiven ein. Hausbesetzer_innen, Anwohner_innen, Politiker_innen und Polizisten schildern ihre Erinnerungen an die Monate, als die Besetzerszene aus Ost und West in der Mainzer Straße zusammenkam und im halbanarchischen Umfeld des zerfallenden DDR-Staates den „Sommer ihres Lebens“ verbrachte. Dieser Sommer endete, als die Polizei im November mit Wasserwerfern anrückte, um die Häuser zu räumen. In der Folge eskalierte auf beiden Seiten die Gewalt. Zu Wort kommen unter anderem Georg Schertz, ehemaliger Polizeipräsident von Berlin, der Polizeihistoriker Hartmut Moldenhauer sowie die Grünen-Politikerin Renate Künast, die 1990 zwischen den Parteien vermittelte.
Wer glaubt, Geschichte ließe sich nicht anhand einer Straße vermitteln, wird von diesem studentischen Projekt eines Besseren belehrt. Geschichte wird umso greifbarer, wenn sie nicht nur anhand großer Namen und Institutionen, sondern als Alltagsgeschichte aus der unmittelbaren Nachbarschaft präsentiert wird. Fließen darüber hinaus in die Darstellung so zahlreiche Perspektiven ein wie im vorliegenden Fall, werden zusätzlich umfassende Reflexions- und Deutungsmöglichkeiten geschaffen. Die Website zur Mainzer Straße zeigt damit das Potential, dass Regionalgeschichte für die historisch-politische Bildungsarbeit beinhaltet.