Beitrags-Autor: Ingolf Seidel Sie müssen angemeldet sein, um das Benutzerprofil zu sehen |
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Der Schweizer Journalist Sacha Batthyány stammt aus einer Familie, die in den NS-Staat verstrickt war. Die Großtante, Margit von Batthyány-Thyssen, stammte aus der Unternehmerfamilie Thyssen und hatte 1933 den verarmten ungarischen Grafen Ivan von Battyány geehelicht. Die Familie bewohnte das Schloss der Stadt Rechnitz im Burgenland, zugleich ein Erholungsort für die Waffen-SS. Dort findet in der Nacht vom 24. auf den 25. März 1945 ein Gefolgschaftsfest von Mitgliedern der Gestapo, örtlichen Nazi-Größen und SS-Angehörigen in Anwesenheit des Grafen und der Gräfin statt. Zur selben Zeit stehen am Bahnhof von Rechnitz ungefähr 200 ungarisch-jüdische Zwangsarbeiter. Am Ende des Abends sind 180 von ihnen tot. Ermordet. Erschossen in einer nahen Scheune von Gästen des Schlosses. Es bleibt unklar, ob die Gräfin selbst an der Mordaktion beteiligt war, ob sie Juden erschossen hat. Das Massaker findet in der Familie Thyssen keine Erwähnung, 62 Jahre lang herrscht Schweigen und es gelingt lange, die Offenlegung einer möglichen Verwicklung oder Beteiligung der Familie an dem Massenmord zu vertuschen.
Gräfin Batthyány-Thyssen beginnt nach dem Krieg ein neues Leben in der Schweiz – als Pferdezüchterin und Sportschützin. Ihr Mann wird gefangengenommen und landet für zehn Jahre in einem sibirischen Gulag in Asbest. Erst der Großenkel beginnt Fragen zu stellen. Er recherchiert, nachdem ihn eine Kollegin auf einen Zeitungsartikel aufmerksam gemacht hat, in dem der Großtante eine Beteiligung an dem Judenmord nachgesagt wird. Der Schriftsteller Maxim Biller stellt ihm daraufhin die Frage: Und was hat das mit dir zu tun? Für Sacha Battyány beginnt mit den Nachforschungen eine Zeit der Verunsicherung. Was weiß seine Familie, sein Vater? Was hat sie zum Schweigen gebracht? Angst? Scham? Das Geld der Großtante? Auch in Rechnitz herrscht Schweigen. Zwar wurde ein Prozess angestrengt, aber nach der Ermordung von zwei Augenzeugen, darunter ein Überlebender des Massakers, stockt dieser.
Batthyány wendet sich an nahe und entfernte Verwandte. Er liest Akten über seine Tante Margit, ihren Mann Ivan, Bücher über die Thyssen-Familie, alte Tagebücher und durchsucht Archive in Berlin, Bern, Budapest und Graz. Im Frühjahr 2009 begibt er sich das erste Mal nach Rechnitz. Der Autor stellt fest: „Es war ein Massaker an 180 Juden, das mich meiner Familie näherbrachte.“ Er konfrontiert den Vater mit dessen Wissen um den Judenmord: „Aber hast du dir nie überlegt, dass sie möglicherweise darin verwickelt war?“ Die Gegenfrage: „Ist das ein Verhör?“
Im Zuge der Nachforschungen ändert sich die Motivation von Batthyány. Er will nicht nur die Geschichte des Verbrechens rekonstruieren. In den Mittelpunkt rückt die Frage, die titelgebend für das Buch über die Familienrecherche sein wird: Was hat das mit mir zu tun? Der Autor reist nach Moskau und Sibirien, begleitet vom Vater. Es kommt zu Auseinandersetzungen. „»Die Russen haben Methylalkohol aus den Benzinlampen gesoffen, kannst du dir das vorstellen? Die Deutschen waren zivilisierter.« »Die Nazis? Zivilisiert?«, frage ich, »das ist nicht dein Ernst.« »Nicht jeder Deutsche war ein Nazi«, antwortet er. Sie besuchen die Menschenrechtsorganisation Memorial. Sacha Batthyány fragt sich nach dem Sinn der Reise: „War ich nicht nach Sibirien geflogen, damit mein Vater mich endlich bemerkte?“
Auch die Eltern von Agnes Mandel wurden ermordet. Sie waren die „Dorfjuden“. Im Beisein der Großeltern von Sacha Batthyány. Auch sie haben geschwiegen und zugesehen. Agnes Mandel hat die deutsche Vernichtungspolitik überlebt und ist nach dem Krieg nach Buenos Aires gezogen. Dort leben ihre Nachfahren, die Schwestern Marga und Mirta, zu denen der Autor Kontakt aufnimmt. Bei einer Begegnung in Argentinien stellt er die Frage, ob es nicht besser gewesen wäre, die Geschichte ruhen zu lassen. »Wozu?« sagten sie nicht spöttisch (...), »Wir sind mit dem Gefühl aufgewachsen«, sagte Mirta, »dass die schmerzvolle Vergangenheit unser heutiges Leben bestimmt. Es ist unser Erbe. Es war immer da, in jeder Minute unserer Kindheit, jeder Stunde unserer Jugend, an jedem Tag unseres Lebens.«“
Auch wenn die Auseinandersetzung mit der begleitenden Psychoanalyse Batthyánys immer wieder Raum einnimmt, gerät der Text nicht selbstbezüglich oder larmoyant. Das Buch ist vielmehr eine autobiographische Auseinandersetzung mit seiner Familie. Wer eine Generalabrechnung erwartet, wird also enttäuscht sein. Das ist eine Stärke und Problematik zugleich. Der Autor schafft ein familiäres Narrativ, das es ihm ermöglicht sich anzunähern und dabei einen Bruch zu vermeide. Das ist ein durchaus diskutabler Aspekt, stellt sich doch die Frage, ob nicht heute noch in Bezug auf die NS-Vergangenheit wesentlich mehr Brüche vonnöten wären. Gleichzeitig vermeidet Batthyánys Herangehensweise einen moralisierenden Blick auf seine Vorfahren. Seine familienbiografische Auseinandersetzung ist eingängig und flüssig geschrieben – manche Passagen wirken beinahe zu unterhaltsam. Für den Einsatz im Unterricht sind allerdings solche Merkmale eine Empfehlung. Der Autor stellt sich die Frage, ob er anders gehandelt hätte als seine Großtante und die Großeltern. Anhand von Fragen nach eigener Verantwortung und eigenem Handeln kann im Unterricht ein Gegenwartsbezug hergestellt werden. Und es kann eine Problematik thematisiert werden, den der Historiker Yehuda Bauer beschrieb: „Die der Shoah innewohnende Warnung lautet eindeutig, daß unter bestimmten Umständen jeder Mensch die Handlungen der Täter wiederholen könnte.“ (Bauer : 2001,38).
Zudem: Es gibt auch heute noch viele Familiengeschichten aufzudecken. Die Auseinandersetzung in der Mehrzahl der Familien von Täter_innen, Zuschauer_innen, Kollaboratuer_innen und Bystandern sind in der Mehrzahl nicht erzählt. Dazu anzuregen wäre eine pädagogische Aufgabe.
Yehuda Bauer: Die dunkle Seite der Geschichte. Die Shoah in historischer Sicht. Interpretationen und Re-Interpretationen. Frankfurt am Main, 2001.