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„Esra (Name der Schülerin geändert) fährt nicht mit an die Ostsee! Sie hat gesagt, der Koran verbiete den Mädchen und Frauen, Berlin zu verlassen. Esras Dominanz hat drei weitere Mädchen beeinflusst. Nun steht unsere Fahrt auf der Kippe.“
Solche oder ähnliche Aussagen hören wir immer wieder, wenn wir mit Schülerinnen und Schülern umgehen, die muslimisch sozialisiert sind. In Situationen wie diesen sind wir häufig zunächst einmal irritiert oder enttäuscht, weil die gesamte Planung für einen Ausflug in Gefahr ist und sich zudem eine Schülerin aktiv verweigert und zudem auch eine klare Grenzüberschreitung begeht, da ein Ausflug als Schulveranstaltung für alle Schülerinnen und Schüler verpflichtend ist.
Eine mögliche und zunächst legitim erscheinende Reaktion wäre, die Schülerin auf ihr Fehlverhalten hinzuweisen, was auch in diesem konkreten Fall geschah. Zunächst gab der Klassenlehrer ihr die Möglichkeit sich zu der Situation zu äußern, wobei sie diese nicht wahrnahm und stattdessen schwieg. Daraufhin war seine Reaktion ungefähr wie folgend: „Eine Absage mit derartigen Argumente zu begründen ist sehr problematisch, da du dadurch möglicherweise auch andere Schüler beeinflusst, deren Glaube der Islam ist und sie sich dadurch in ihrem Selbstverständnis als Muslime unter Druck gesetzt fühlen. So eine religiöse Argumentation könnte unter Umständen sogar unsere Fahrt gefährden - das kann ich so nicht hinnehmen.“
Im September 2013 hat das Bundesverwaltungsgericht einen Beschluss gefasst, wonach das Recht der freien Religionsausübung keine Befreiung vom Schulunterricht begründen kann: »Das Grundrecht der Glaubensfreiheit vermittelt keinen Anspruch darauf, im Rahmen der Schule nicht mit Verhaltensgewohnheiten Dritter konfrontiert zu werden«, heißt es in der Begründung (Sadigh 2013). Die Reaktion des Lehrers auf Esras Aussage bezog sich auf genau diesen Beschluss.
Esra fühlte sich sichtbar unwohl, doch zwei Kolleginnen, die Teil des Klassenleitungsteams waren, konnte man eine Erleichterung durch das Eingreifen des Klassenlehrers ansehen. Hier wurde gegenüber einer religiösen Begründung ein Machtwort gesprochen, was die Lehrerinnen, im Gegensatz zu einem Teil der Schülerschaft, zufriedenstellte.
Es ist nicht immer einfach den vielen unterschiedlichen Erwartungen von Menschen im Kontext Schule gerecht zu werden. Mädchen, Jungen, Eltern, Kolleginnen und Kollegen, Schulleitung haben individuelle Erfahrungen, Prägungen und Einstellungen. Und an dem oben aufgerissenen Beispiel stellen wir schnell fest, dass Religion in unterschiedlichen Situationen und Kontexten eine Rolle spielt oder zumindest spielen kann. Welchen Raum gibt man also „Religion“, und vor allem: Wie geht man damit in der Schule um?
„Religion ist Teil unserer Lebenswelt. Auch wer in einer nichtreligiösen Familie aufwächst, begegnet im Alltag vielfältigen religiösen Symbolen, Gebäuden, Ritualen, Lebensweisen und Überzeugungen. Die Überzeugung, Religion werde in der modernen Gesellschaft verschwinden, hat sich zweifellos als falsch erwiesen. Religion prägt unsere Gesellschaft und Kultur nicht weniger als Politik, Wirtschaft oder Wissenschaft.“ (Deutsche Bischofskonferenz)
So muss man sich der Realität, dass Religion auch in der Schule Teil der Lebenswelt unserer Schülerinnen und Schüler ist, bewusst werden. Religion ist in unserer Gesellschaft nach wie vor bedeutend und hat eine vielgestaltige Präsenz, ist hierbei von einer starken Pluralisierung gekennzeichnet, so dass man sie auch im Rahmen von Interkulturalität sehen sollte.
Götz Nordbruch (Islam- und Sozialwissenschaftler und Mitbegründer des Vereins ufuq.de) legt seine Position zu diesem Thema wie folgt dar: „Die Auseinandersetzung mit religiösen Interessen und Bedürfnissen spielt nicht allein im bekenntnisorientierten Unterricht in muslimischen Lerngruppen eine Rolle. Auch in religiös und kulturell heterogenen Klassen und unabhängig vom religiösen Fachunterricht und Alter bietet sich das Gespräch über religiöse Fragen und Perspektiven an, um Reflexionsprozesse über religiöse Lehren, Werte und Praktiken anzustoßen und damit rigiden und manichäischen religiösen Orientierungen vorzubeugen. Anders als im bekenntnisorientierten Religionsunterricht geht es hier nicht um die Vermittlung religiöser Inhalte. Vielmehr geht es um politische Bildung im weiteren Sinne.“ (Nordbruch 2016)
Bei einer solchen Äußerung, der wir als Lehrer_innen auch häufig in unterschiedlichen Kontexten begegnen, handelt es sich zunächst um eine statische, nicht verhandelbare Position. In der Regel arbeiten wir uns im alltäglichen Umgang an den von unseren Mitmenschen geäußerten Positionen ab. Häufig (vor allem im Konfliktfall) reagieren wir auf Positionen, denen wir kritisch gegenüberstehen mit einer Gegenpositionierung. („Ihre Tochter muss aber teilnehmen, weil es eine gesetzlich festgeschriebene Schulpflicht gibt“). Damit erzeugen wir weder Verständnis, noch verstehen wir durch einen in dieser Form angeheizten Konflikt unser Gegenüber besser. Für ein tatsächliches Interesse am Gegenüber, das wir uns als Lehrerinnen und Lehrer grundsätzlich zuschreiben sollten, ist eine tiefergehende Auseinandersetzung mit geäußerten Positionen obligatorisch. Legen wir zunächst also die dahinterliegenden Absichten durch offenes Nachfragen frei, werden wir ein tieferes Verständnis entwickeln, wie es zu einer solchen Positionierung kommt. Durch weiteres Nachfragen werden die hinter diesen Interessen liegenden Bedürfnisse freigelegt. Abraham H. Maslow, der mit seinem Modell der Bedürfnishierarchie/Bedürfnispyramide klar aufzeigt, welche wesentlichen Bedürfnisse uns Menschen antreiben, bietet auch hier für den täglichen Umgang von Lehrerinnen und Lehrern mit Schülerinnen und Schülern einige zentrale Grundlagen. (Vgl: Maslow 1987 : 150).
Wenn es dem Vater um Schutz und Sicherheit seiner Tochter geht, kann man im Gespräch mit größter Wahrscheinlichkeit leichter für eine Teilnahme der Tochter an der Fahrt werben, indem man aufzählt, was genau im Zuge der Klassenfahrt passieren wird und wie die Schülerinnen und Schüler auf der Fahrt betreut werden. Diese Strategie ist zunächst einmal deeskalierend und sorgt im Weiteren dafür, dass sich Eltern, Schülerinnen und Schüler oder sonstige beteiligte Gesprächspartner wahrgenommen, wertgeschätzt und verstanden fühlen. Im letzten ist eine Nicht-Auseinandersetzung mit Eltern und Schülerschaft in Form von Abblocken, Aufzeigen auf Gesetzestexte und Ähnlichem nicht nur zu kurz gegriffen, sondern führt zu Verärgerung und Missverständnissen. Außerdem ist genau die Argumentation mit Bezug auf deutsche Gesetze eine, die in manchen Fällen sowohl bewusst, als auch unbewusst, Familien mit sogenanntem „Migrationshintergrund“ gegenüber diskriminierend wirken kann.(Shooman 2014) Im Äußersten kann ein solcher Diskurs zu einem Vertrauensbruch führen. Vertrauen ist jedoch die Grundlage jeder Beziehung und damit auch zwischen Lehrerinnen und Lehrern, Schülerinnen und Schülern und Eltern von höchster Wichtigkeit.
Ein wichtiger Bestandteil einer zielführenden Auseinandersetzung mit Schülerinnen und Schülern ist die Erkenntnis, dass jeder Mensch in seinem Wesen geprägt ist von einer Weltanschauung oder Religion. Die damit implizite Zugehörigkeit zu einer Gruppe mit ihren spezifischen identitätsstiftenden Merkmalen trägt wesentlich zur Festigung und vertiefenden Auseinandersetzung junger Menschen mit ihrer eigenen Identität bei. Die eigenen Wurzeln, die jeweilige Herkunft, sowie eine Befriedigung der spirituellen Bedürfnisse nach Maslow, sind also ein wichtiger Bestandteil der individuellen Entwicklung. Insoweit ist es essentiell wichtig, sich mit den Identitäten und ihren jeweiligen Spezifika in der Schülerschaft auseinanderzusetzen, wertschätzend darauf einzugehen und zielführende Gespräche auf Augenhöhe mit beteiligten Akteuren zu führen. Das ist eine der zentralen Herausforderungen von Lehrerinnen und Lehrern in einer pluralen Gesellschaft. Hier hat die Religion (und zwar in jedweder Ausführung) ihren Platz in der Gesellschaft und insbesondere auch im schulischen Alltag. Auf den Punkt bringend lässt sich festhalten: Religiöse Identitäten ablehnen, heißt Schüler_innen ablehnen.
Im Fall der Schülerin Esra und dem Ausflug an die Ostsee hat der Klassenlehrer seine erste emotionale Reaktion am Ende der Schulstunde korrigiert und hat ihr und der Klasse klargemacht, dass er es für falsch halte, wenn ihre religiöse Überzeugung ihr zum Nachteil wird und sie sich dadurch ausgeschlossen fühlt. Nach einem ausführlichen klärenden Gespräch mit dem Vater stellte sich heraus, dass das Verbot an der Teilnahme nicht von Esra ausging, sondern eine Strafe für ihre schlechten Noten darstellen sollte. Esra jedoch wollte ihre Nichtteilnahme religiös begründen, um sich der Peinlichkeit eines elterlichen Verbots zu erwehren und gleichzeitig Mitschülerinnen und Mitschüler zu beeinflussen, da sie in dieser Situation sonst als Außenseiterin dastehen würde. In der Tätigkeit als Lehrer macht man sehr oft die Beobachtung, dass sich Jugendliche altersbedingt, vor allem in der Pubertät, dem Unterricht ein Stück weit entziehen und dies interessanterweise religiös zu begründen und zu legitimieren versuchen. Häufig erweisen sich solche Begründungen als haltlos und es lassen sich andere Beweggründe für ein solches Verhalten entdecken.
Hier wird deutlich, dass im Zuge einer tatsächlichen Auseinandersetzung (im Gegensatz zur anfänglichen vorschnellen Verurteilung), die dahinterliegenden Absichten deutlich werden und somit für ein größeres gegenseitiges Verständnis gesorgt wurde.
„Bildungsinstitutionen müssen auf solche Spannungen besonders sensibel reagieren. Sie sind aufgerufen, Integration, Glaubensfreiheit und staatlichen Bildungsauftrag miteinander zu vereinbaren, Vorurteile abzubauen und eine Kultur der Toleranz zu vermitteln. Zu ihren Aufgaben gehört es jedoch auch, Kindern neue Perspektiven zu eröffnen, die durch religiöse oder fundamentalistische Denkverbote unter Druck gesetzt werden.“ (Sadigh 2013)
Im Gegensatz zu einer emotionalen Reaktion auf vermeintlich religiös motivierte Nonkonformität sollte man eher einen gelasseneren Umgang mit solchen Situationen pflegen. Man sollte voreilige kulturalisierende Reaktionen vermeiden und versuchen, die Interessen und Bedürfnisse, die hinter solchen religiös begründeten Handlungen liegen, zu erkennen.
Grundsätzlich ist es empfehlenswert, genauer und nüchtern auf die Argumentation einzugehen um festzustellen, ob es sich dabei möglicherweise nur um eine scheinreligiöse Begründung handelt, die einem realen, noch unbekanntem Grund, vorgeschoben wird. Vor allem ist es von großer Wichtigkeit, dass man als Lehrkraft erkennt, dass Religion für viele Schüler im außerschulischem Leben eine hohe Relevanz hat und damit auch Beachtung in der Schule verdient. Wenn Religionen im schulischen Umfeld zu kurz kommen, fangen Schüler_innen an, die Bildungsinstitutionen, in denen sie sich als „fremd“ markiert fühlen, abzulehnen. Ist der Umgang der Schule jedoch wohlwollend und wertschätzend, so hat dies den gegenteiligen Effekt – die Schülerin oder der Schüler fühlen sich akzeptiert.
Jim Al- Khalili: Im Haus der Weisheit – Die arabischen Wissenschaften als Fundament unserer Kultur. Frankfurt am Main, 2012.
Matthias Deiß / Jo Goll: Ehrenmord. Ein deutsches Schicksal. Hamburg, 2011.
Deutsche Islam Konferenz: Tagungsband Muslimfeindlichkeit – Phänomen und Gegenstrategien. Berlin, 2012.
Gisbert Gemein: Kulturkonflikte – Kulturbegegnungen – Juden, Christen und Muslime in Geschichte und Gegenwart. Bonn, 2011.
Karl Jaspers: Was ist der Mensch – Philosophisches Denken für alle. München, 2003.
Abraham Maslow: Motivation and Personality. 1987.
Behnam T. Said / Hazim Fouad: Salafismus – Auf der Suche nach dem wahren Islam. Freiburg im Breisgau, 2014.
Yasemin Shooman: >…weil ihre Kultur so ist< – Narrative des antimuslimischen Rassismus. Bielefeld, 2014.
Ahmet Toprak, Katja Nowacki: Muslimische Jungen – Prinzen, Machos oder Verlierer? Ein Methodenhandbuch. Freiburg, 2012.
Argumente für den Religionsunterricht an öffentlichen Schulen! Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, http://www.dbk.de/fileadmin/redaktion/veroeffentlichungen/Sonstige/argumente_fuer__den_religionsunterricht.pdf (11.07.2016)
Nordbruch, Götz: Lebenswelten anerkennen! Religion im Unterricht und die Prävention salafistischer Einstellungen, sicherheitspolitik-blog, 18.01.2016, http://www.sicherheitspolitik-blog.de/2016/01/18/lebenswelten-anerkennen-religion-im-unterricht-und-die-praevention-salafistischer-einstellungen/ (10.07.2016)
Parvin Sadigh: Schulurteile: Wie viel Religion verträgt die Demokratie? – ZeitOnline, 11. September 2013, (ZfdS_Sch.pdf) http://zfds.zeit.gaertner.de/content/download/402/2872/file/ZfdS_Schulurteile3.pdf (10.07.2016)
Ders.: Religiöse Vorschriften haben im Unterricht nichts verloren, Zeit Online, http://www.zeit.de/gesellschaft/schule/2013-09/religion-schule-bundesverwaltungsgericht (10.07.2016)