In ihrem Aufsatz gibt Birgit Müller einen Überblick über die Erinnerungskultur in der DDR, wie sich diese im Laufe der Jahrzehnte entwickelte und welche Faktoren Einfluss auf jeweilige Brüche und Kontinuitäten hatten.
In der nach sowjetischem Modell errichteten DDR wurde der Antifaschismus bereits in der Kinderwiege zur Staatsdoktrin erhoben. Der neue, realsozialistische Staat verstand sich daher nicht als Nachfolgestaat des „Dritten Reiches“, als der sich die westdeutsche Bundesrepublik verstand, sondern als antifaschistisches Gegenmodell und entnazifizierte Zone.
Tatsächlich gab es in den ersten Nachkriegsjahren im Zuge der Entnazifizierung Tausende von Entlassungen, Enteignungen und Prozesse; nicht nur ehemaliger organisierter Nationalsozialisten. Dennoch lassen sich insbesondere auf mittlerer Funktionsebene im Folgenden starke Kontinuitäten von Angestellten, Beamten und Leitungspersonen feststellen. Neben den Auswirkungen auf die strukturellen Bedingungen in der DDR stellt sich außerdem die Frage, wie das – vor allem antifaschistische – Selbstverständnis die Erinnerungskultur des jungen Staates beeinflusste. In einem durch die Bundeszentrale für politische Bildung (BpB) herausgegebenen Aufsatz gibt Birgit Müller einen Überblick über Erinnerungsformen, Entschädigungszahlungen und die Wahrnehmung der verschiedenen Opfergruppen in den unterschiedlichen Jahrzehnten und stellt dabei Kontinuitäten und Brüche dar.
Müller geht dabei angenehm differenziert vor. Statt abzuurteilen und zu kategorisieren gibt sie einen anschaulichen Überblick über die jeweiligen Entwicklungen, stellt sowohl positive als auch – die doch überwiegenden – negativen Aspekte heraus. So legt sie dar, dass zwar gerade in den ersten Nachkriegsjahren die Erinnerung allen Opfergruppen galt, die damit gemeinsam die große Bilanz der „Opfer des Faschismus“ bildeten. Sie beschreibt auch, dass es sehr bald dennoch zu einer Hierarchisierung kam – sowohl mit Blick auf die einzelnen Opfergruppen als auch durch die neu geschaffene Unterteilung in „Opfer des Faschismus“ und „Kämpfer gegen den Faschismus“. Der größten Opfergruppe, den jüdischen Verfolgten und Ermordeten, wurde damit ihr Opferstatus zwar anerkannt, doch galten sie durch ihre vermeintliche Passivität im antifaschistischen Kampf gegen die nationalsozialistischen Verfolger als nicht ehrungswürdig. Damit verbunden war auch die Frage nach individueller Entschädigung, Rückerstattung und Wiedergutmachung. Da sich die DDR eben nicht als Nachfolgestaat NS-Deutschlands verstand, lehnte die Führung dahingehende Regelungen lange Zeit ab. Anhand ähnlicher Erklärungsmuster wurde auch die Entnazifizierung 1952 für beendet erklärt, durch den "Erlass von Sühnemaßnahmen und Gewährung staatsbürgerlicher Rechte" wurden außerdem ehemalige Mitglieder von NSDAP und Wehrmacht endgültig resozialisiert. Dadurch entwickelte sich in den 1950er Jahren ein kollektives Geschichtsbewusstsein, das den antifaschistischen Kampf als allgegenwärtige Schablone einsetzte und sich durch die antisemitischen Wellen jener Jahre aus der Sowjetunion, Tschechien und Polen speiste.
Unter dem Eindruck dieser Entwicklungen ging die Erinnerungs- und Gedenkkultur in der DDR immer stärker mit einer politischen Inszenierung, Instrumentalisierung und Ritualisierung einher. In ihrem Aufsatz skizziert Müller, wie sich die Politisierung der Erinnerungskultur auch in der Denkmal- und Gedenkstättenarchitektur jener Jahre abzeichnet. Dabei geht sie auf die Entstehung der großen staatlichen Gedenkstätten in Buchenwald, Sachsenhausen und Ravensbrück ein.
Die verstetigte Ritualisierung des Gedenkens beschreibt die Autorin indes an der Begehung verschiedener Gedenktage, wie beispielsweise dem 8. Mai, dem 9. November oder dem 1. September (Weltfriedenstag). Als weitere Säule der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus stellt Müller außerdem die Bildung und hier insbesondere die Beschäftigung mit einschlägiger Literatur dar. Dabei betont sie, dass gerade die Kunst und die Literatur in der DDR ein Forum boten, um sich kritisch mit der „Vergangenheitsbewältigung“ Deutschlands auseinanderzusetzen.
Als deutlichen Bruch in den erinnerungspolitischen Vorgängen in der DDR stellt Müller abschließend die Entwicklung der 1980er Jahre heraus. Im Zuge der Bemühungen um eine bessere außenpolitische Stellung überdachte die DDR-Führung auch ihre Position bezüglich der Einbeziehung verschiedener Opfergruppen in nationale Gedenkkonzepte und signalisierte die Bereitschaft, Entschädigungszahlungen zu tätigen.
Birgit Müller liefert mit ihrem Aufsatz einen informativen Überblick über ostdeutsche Erinnerungspolitik, ritualisierte Gedenkkultur und staatlich verordneten Antifaschismus. Dabei werden einzelne Themen und Aspekte zwar oft nur angerissen, doch bietet der Text dadurch eine gute Möglichkeit, sich einen ersten Einblick zu verschaffen. Für eine tiefer gehende Fragestellung oder eine intensive Bearbeitung des Themenfeldes sollte jedoch weiterführende Literatur hinzugezogen werden.