Ursula Sillge gibt 1991 in ihrem Buch „Un-Sichtbare“ Frauen einen interessanten und für Schüler/innen ab Sekundarstufe II geeigneten Einblick in lesbische Lebenswelten in der DDR.
Ein Phänomen, welches sich zumindest durch die deutsche Geschichte Homosexueller zieht, ist die Dominanz schwuler Männer in historischen Darstellungen. Einen gewichtigen Grund dafür stellt die unterschiedliche gesellschaftliche Bewertung männlicher und weiblicher Sexualität dar. Während Schwulsein in der Öffentlichkeit immens sexualisiert wird und damit als Gefahr für die heterosexuelle Ordnung steht, wird Zärtlichkeit unter Frauen gar nicht erst mit Lesbischsein in Verbindung gebracht. Sich selbstbewusst als Lesbe zu bezeichnen bedeutet also für eine heteronormative Gesellschaft, die eigene Sichtbarkeit erst zu erkämpfen, was eine Provokation darstellt. Letzteres äußerte sich in der DDR durch zahlreiche Anlässe Ende der 1980er Jahre, bei welchen zwar Schwule sprechen durften, Lesben – obwohl sie sich anmeldeten – jedoch nicht zugelassen wurden.
Ursula Sillge setzt in ihrem 1991 in Ost-Berlin erschienen Buch „Un-Sichtbare Frauen. Lesben und ihre Emanzipation in der DDR“ bewusst einen Schwerpunkt auf lesbisches Leben in der DDR und widersetzt sich damit der Unsichtbarkeit in Form einer historischen und gesellschaftskritischen Aufarbeitung. „Un-Sichtbare Frauen“ enthält zahlreiche autobiographische Anteile, geht also teils in Richtung einer Oral History, welche einer ungehörten lesbischen Stimme ebenso Platz einräumt wie empirisch nur schwer festzuhaltende Erfahrungen. Nach einer Einschätzung der allgemeinen Lesbenfeindlichkeit in Ländern wie der DDR geht die Autorin auf Coming outs in dem realsozialistischen Staat ein. Hierzu ergab sich für Lesben insbesondere die Schwierigkeit, lesbische Sexualität und lesbische Lebenswelten kennenzulernen in einem Umfeld, durch welche diese nicht existent zu sein scheinen. Mit einem persönlichen Einblick versehen werden Selbstzweifel, eine scheinbare Akzeptanz der Gesellschaft, das problematische Verhältnis zu Eltern sowie Kolleg/innen behandelt. Vor diesem Hintergrund ist auch zu erklären, inwiefern lesbische Beziehungen selbst von der lesbenfeindlichen Gesellschaft geprägt sind. Im Kapitel zu juristischen und medizinischen Fragen bezüglich Homosexualität findet sich auch ein kurzes Kapitel zu Transsexualität in der DDR, die gänzlich anders behandelt wurde als in der Bundesrepublik, wie auch Ullrike Klöppel in unserer vorliegenden Ausgabe erörtert (LINK). Auch der Lesbenbewegung und ihrem Verhältnis zum DDR-Regime widmet die Autorin einen Teil ihres Buches.
Trotz der autobiographischen Färbung bleibt Ursula Sillge in ihrer Schilderung differenziert. Sie beleuchtet das Leben von Lesben in der DDR zwar aus ihrer eigenen Perspektive, doch in seiner Vielfältigkeit und ohne den Versuch zu unternehmen, durchweg pauschale Ergebnisse präsentieren zu können. Inhaltlich ist „Un-Sichtbare Frauen“ durchaus fundiert und wird dennoch in leicht verständlicher Sprache präsentiert. Das ganze Buch oder einzelne Kapitel bieten sich somit hervorragend dafür an, sie im Unterricht ab Sekundarstufe II zu verwenden. Mit entsprechenden Fragestellungen lässt sich so ein guter Einblick für die Schüler/innen auf lesbische Lebenswelten in der DDR herstellen. Gleichzeitig werden viel allgemeinere Fragen zu Homosexualität und Lesbenfeindlichkeit behandelt, die auch heute noch Gültigkeit besitzen. Damit bietet Ursula Sillges Buch nicht nur eine historische Perspektive, sondern auch eine Möglichkeit, über Ausgrenzung und Akzeptanz im Unterricht zu sprechen.