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Das DIZ Torgau wurde 1991 gegründet und ist heute Teil der Stiftung Sächsische Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer politischer Gewaltherrschaft. Die Gedenkstätte widmet sich der komplexen und mehrschichtigen Vergangenheit Torgaus als Haftort in drei verschiedenen historischen Perioden: während des Nationalsozialismus, der sowjetischen Besatzungszeit und der DDR. Der Schwerpunkt liegt auf dem Bewahren der Erinnerung an die Opfer der Wehrmachtjustiz.
Torgau entwickelte sich während des Zweiten Weltkriegs zur Zentrale des Wehrmachtstrafsystems, das von den Nationalsozialisten parallel zur zivilen Strafjustiz geschaffen wurde. Hier befanden sich zwei von insgesamt acht Wehrmachtgefängnissen im Deutschen Reich – Fort Zinna und Brückenkopf.
Zu den Gefangenen gehörten Befehlsverweigerer, Deserteure und „Wehrkraftzersetzer“. Auch wegen kriminell er Delikte verurteilte Soldaten waren unter den Häftlingen. Im August 1943 verlegte zudem das Reichskriegsgericht seinen Sitz von Berlin-Charlottenburg in die Torgauer Zietenkaserne. Im Wallgraben des Wehrmachtgefängnisses Fort Zinna und einer nahegelegenen Kiesgrube wurden nach Schätzungen bis zu 1.000 Todesurteile von Wehrmachtgerichten durch Erschießen vollstreckt.
Zwischen 1945 und 1948 wurden zwei Speziallager des sowjetischen Geheimdienstes NKWD im Fort Zinna und der Seydlitzkaserne eingerichtet. Im Speziallager Nr. 8 waren Deutsche inhaftiert, die gemäß einem NKWD-Befehl wegen der tatsächlichen oder angeblichen Mitgliedschaft oder als Funktionsträger in nationalsozialistischen Organisationen vollkommen von der Außenwelt isoliert wurden. Konkrete Vergehen wurden ihnen nicht angelastet. Ihre strafrechtliche Verurteilung war nie beabsichtigt. Das Lager Nr. 10 diente als Durchgangsgefängnis für Tausende Deutsche und sowjetische Staatsbürger vor dem Abtransport in „Besserungsarbeitslager“ in der Sowjetunion. Sie waren von Sowjetischen Militärtribunalen (SMT) verurteilt worden. In den beiden Torgauer Lagern starben mindestens 800 Menschen.
Ab 1950 bis 1990 wurde das Fort Zinna als DDR-Gefängnis genutzt. In den ersten beiden Jahrzehnten der DDR saßen vor allem politische Gefangene hier ein, später überwog der Anteil derjenigen, die wegen krimineller Delikte inhaftiert waren. Bis Mitte der siebziger Jahre wurden in Torgau auch jugendliche Strafgefangene inhaftiert. Nach der Wiedervereinigung wurde das Fort Zinna weiter genutzt – nun als Justizvollzugsanstalt des Freistaats Sachsen. Die Gedenkstätte befindet sich schon deshalb nicht an ihrem wichtigsten historischen Ort. Sie ist im Torgauer Schloss Hartenfels untergebracht, dem zentralen touristischen Anziehungspunkt der Stadt. Hier wird die ständige Ausstellung „Spuren des Unrechts“ mit drei Ausstellungsabschnitten zur Wehrmachtjustiz, den sowjetischen Speziallagern Nr. 8 und Nr. 10 und dem DDR-Strafvollzug in Torgau gezeigt.
Das DIZ Torgau richtet sich mit seinem Bildungsangebot gleichermaßen an Erwachsene wie Jugendliche. Ziel ist es, differenziert über die Geschichte Torgaus als Haftort in den drei verschiedenen politischen Systemen und über den jeweiligen historischen Kontext zu informieren. Darüber hinaus soll zur selbstständigen, reflexiven Auseinandersetzung mit Geschichte und Gegenwart angeregt werden.
Das DIZ Torgau versteht sich als lebendiger, offener Lernort und zugleich als eine Art „zeitgeschichtliche Serviceeinrichtung“ der Stadt. Das Bildungsangebot ist vielfältig und umfasst Überblicks- und Schwerpunktführungen, Projekttage, Stadtrundgänge und Exkursionen zu den historischen Orten, Zeitzeugengespräche, regelmäßige Abendveranstaltungen mit Vorträgen, Lesungen und Filmvorführungen sowie Seminare, Tagungen und Fortbildungen. Daneben werden Abschlussarbeiten von Studenten und Schülerarbeiten unterstützt.
Die Bildungsarbeit mit Schüler/innen konzentriert sich in der Regel auf eine einzelne Periode. So ist im engen Zeitrahmen einer Führung die differenzierte, kontextualisierte und gesprächsorientierte Vermittlung eines der drei Ausstellungsbereiche Herausforderung genug. Überblicksführungen durch die drei unterschiedlichen Abschnitte überfordern Schüler/innen häufig kognitiv, zumal sie in den wenigsten Fällen von ihren Lehrer/innen auf den Besuch vorbereitet werden und das Vorwissen meist gering ist. Die Gefahr einer emotionalen Überforderung ist in der Ausstellung, die nicht am „authentischen“ Ort liegt, und praktisch ohne Inszenierungen auskommt, gering.
Thematisch sinnvoll kann es sein, die beiden Ausstellungsabschnitte Wehrmachtjustiz und Speziallager gemeinsam in einer Führung zu behandeln, weil die Ausstellung besondere Anknüpfungspunkte für die Thematisierung des Zweiten Weltkriegs und seiner Folgen bietet. Die Blickbeziehungen zu historischen Orten aus den Fenstern des ersten Ausstellungsraums unterstützen dies. Hier sind die Reste der historischen Elbbrücke zu sehen, die am 25. April 1945 Schauplatz der ersten direkten Begegnung amerikanischer und sowjetischer Soldaten war – dieses Zusammentreffen markiert in Torgau nicht nur das Ende der Wehrmachtjustiz, sondern auch den Beginn der Nachkriegszeit. Auf der anderen Elbseite liegt das ehemalige Wehrmachtgefängnis Brückenkopf – dort fanden an den Tagen darauf die Treffen der alliierten Befehlshaber statt, die in Wochenschauberichten um die Welt gingen. Schließlich fällt ein weiterer Blick auf das sowjetische Denkmal der Begegnung, das bereits im September 1945 eingeweiht wurde – zu dieser Zeit war im Fort Zinna bereits das NKWD-Lager Nr. 8 eingerichtet. Diese Erinnerungslandschaft regt an, über die Zäsur 1945, über Brüche und Kontinuitäten in der Geschichte des Haftortes Torgau und über den Umgang mit den NS-Verbrechen nach 1945 nachzudenken.
Sinnvoll lässt sich auch der Ausstellungsbereich Speziallager mit dem Bereich DDR-Strafvollzug verbinden, denn die neugeschaffene Vollzugsanstalt Torgau übernahm Ende Januar 1950 SMT-Verurteilte, die nach Auflösung der letzten Speziallager an die DDR-Behörden übergeben wurden.
Auch bei Projekttagen befassen sich Schüler/innen in der Regel nur mit einem der drei Themenbereiche Wehrmachtjustiz, Speziallager oder DDR-Strafvollzug.
Das Thema Wehrmachtjustiz erschließen sie sich während eines Projekttages multiperspektivisch in Kleingruppen: sie behandeln Fälle von Häftlingen, die von der Militärjustiz verurteilt und wegen Desertion, »Wehrkraftzersetzung« oder anderen Delikten in Torgau inhaftiert waren. Sie befassen sich mit den Haftgründen und den Motiven der Verurteilten, aber auch mit der Frage nach den Handlungsspielräumen der Richter und dem Umgang mit der NS-Militärjustiz nach 1945.
Während eines Projekttages zur Geschichte der Speziallager erarbeiten sich Schüler/innen mit Hilfe unterschiedlicher Quellen wie Akten, Kassibern oder Erinnerungsberichten Biografien ehemaliger Insassen der Speziallager Nr. 8 und Nr. 10 – NS-Täter und Mitläufer, Jugendliche, die wegen „Werwolf“-Verdachts verurteilt wurden, sowie Gegner/innen der sowjetischen Nachkriegspolitik. Sie befassen sich u.a. mit den Gründen für die Einrichtung der Lager, den Haftgründen und -bedingungen auseinander. Auch hier setzen sie sich mit verschiedenen Perspektiven auseinander und lernen bei der Arbeit mit Biografien, dass die Häftlinge ebenso wenig „alle unschuldig“ wie „ausschließlich NS- und Kriegsverbrecher“ waren.
Im Zentrum eines Projekttags zum DDR-Strafvollzug stehen Biografien von Häftlingen, die aus politischen Gründen in der DDR-Strafvollzugseinrichtung Torgau inhaftiert waren. Der zeitliche Schwerpunkt liegt dabei auf den 1950er und 1960er Jahren. Unterschiedliche Themenschwerpunkte, wie Widerstand von Schüler/innen und Jugendlichen in der SBZ / DDR oder Protest gegen den Mauerbau, sind möglich. Hier lässt sich leicht an aktuelle Diskussionen wie zum Beispiel die Frage “War die DDR ein Unrechtsstaat?“ anknüpfen, wobei Jugendliche ihr Vorwissen aus der Familie einbringen und neue Gesichtspunkte zurückbringen können.
Einen Projekttag zur mehrschichtigen Vergangenheit Torgaus führten wir 2011 erstmals durch. Er ging auf den Wunsch einer Geschichtslehrerin zurück, die die Ausstellung bereits mehrfach mit Schulklassen besucht hatte, und war in den Unterricht eingebunden. Der Besuch in Torgau war dabei Teil einer Projektwoche mit Schüler/innen zweier Leistungskurse Geschichte der Klassen 11 und 12. Durch den Besuch der JVA Torgau mit Diskussion über den heutigen Strafvollzug wurde auch der Bogen zur Gegenwart geschlagen. Unter solchen Bedingungen – als mehrtägiges Projekt in der gymnasialen Oberstufe – ist eine differenzierte Erarbeitung der Unterschiede zwischen den verschiedenen Verfolgungsperioden und Arten des Haftvollzugs möglich und lohnend.
Biografien von Häftlingen, die mehrfach verfolgt wurden, oder die Beschäftigung mit Häftlingsgruppen wie den Zeugen Jehovas, die sowohl in den Wehrmachtgefängnissen als auch im DDR-Strafvollzug in Torgau gefangen gehalten wurden, sind andere Anknüpfungspunkte für Projekte zur mehrfachen Vergangenheit.
Das DIZ Torgau führt daneben seit vielen Jahren mit Torgauer Schulen längerfristige Projekte des forschenden Lernens durch. Gerade in diesen Projekten, bei denen vorzugsweise nicht bearbeitete Themen der Torgauer Haftstättengeschichte beleuchtet werden, gelingt es nach unseren Erfahrungen am besten, die Teilnehmer/innen zur aktiven, selbstständigen Auseinandersetzung mit Geschichte und eigenständigem Denken anzuregen.