Ort/Bundesland: Nordrhein-Westfalen |
|
Karin Ziaja Aktion West-Ost e.V. des BDKJ Carl-Mosterts-Platz 1 D-40477 Düsseldorf |
Im Jahr 2005 jährte sich das Ende des Zweiten Weltkrieges zum 60. Mal. Am 8. Mai 1945 wurde durch das nationalsozialistische Deutschland die bedingungslose Kapitulation gegenüber der USA in Frankreich unterschrieben, am 9. Mai 1945 gegenüber der Sowjetunion in Berlin. Was in Deutschland viele nicht wissen: der 9. Mai ist in der Ukraine ein nationaler arbeitsfreier Feiertag und wird jährlich als "Tag des Sieges" begangen. In Rivne, in der Westukraine finden wie in anderen Städten auch an dem Tag Paraden, Konzerte und Gedenkveranstaltungen statt. Es wird Überlebenden, Opfern und Veteranen gedacht.
Dieser Tag wurde zum Anlass genommen, ein Projekt zu gestalten, in dem 30 deutsche, polnische und ukrainische Jugendliche durch Zeitzeugengespräche an der Erinnerung der Geschehnisse am 8. und 9. Mai 1945 teilhaben konnten. Zeitzeugen, die das Kriegsende als Sieger oder Besiegte an verschiedenen Orten in Europa erlebt haben, wurden eingeladen und erzählten: Wie haben sie das Kriegsende erlebt? Was geschah im Mai 1945? Wie verlief der Übergang vom Krieg zum Frieden? Wie haben die Menschen den Alltag bei Kriegsende bewerkstelligt? Was dabei empfunden? Das Erzählte wurde als Tonmaterial aufgenommen und zu einer Zeitzeugen-CD, die es in drei Sprachen zu hören gibt, zusammengestellt.
Das Projekt gliederte sich in zwei Teilabschnitte:
Der erste Teil bestand aus zwei Wochenenden, die für die deutschen und polnischen Projektteilnehmer jeweils in ihrem Land stattfanden. In Olsztyn, Polen, wurden sechs Zeitzeugen interviewt, vier von ihnen vor der ganzen Gruppe der polnischen Teilnehmer. Die Region, in der Olsztyn liegt, Warmia i Muzury (Ermland und Masuren), gehörte bis zum Kriegsende zu Deutschland und wurde dann in Polen eingegliedert. Menschen mit sehr unterschiedlicher Geschichte und Herkunft wohnen heute dort. Zeitzeugen, die aus dem Gebiet von Vilnius, damals Polen, heute Litauen stammen und Mitglieder der polnischen Heimatarmee waren; Zeitzeugen, die als Deutsche in Polen blieben und Zeitzeugen, die als Ukrainer durch die "Aktion Weichsel" zwangsumgesiedelt wurden, wurden aufgenommen.
Die deutschen Teilnehmer trafen sich in Düsseldorf mit fünf Zeitzeugen. Drei erzählten über die Erinnerungen an die Bombennächte in Düsseldorf. Zwei der Zeitzeugen stammen aus Ostpreußen und berichteten über Flucht, Vertreibung und Aussiedlung.
Der zweite Teil des Projektes fand in Rivne, einer Stadt in der Westukraine statt. Die deutschen und polnischen Teilnehmer reisten gemeinsam zunächst nach Lemberg/Lviv, trafen dort zum ersten Mal die ukrainischen Teilnehmer und sammelten erste Eindrücke von der Ukraine. Von Lviv aus ging es dann nach Rivne, wo die folgenden acht Tage verbracht wurden.
In Rivne gab es eine Einführung in die Geschichte im Heimatmuseum, das Ausstellungsstücke verschiedenen Zeiten zeigte, die Rivne erlebt hat: die Stadt gehörte zu Polen, stand unter deutscher Verwaltung; Juden und orthodoxe und katholische Christen lebten dort nebeneinander. Die Zeitzeugen, die im Laufe der ersten Tage des Projektteiles eingeladen waren, erzählten sehr offen über ihre Vergangenheit und ihre Erlebnisse und Erinnerungen: Die Familien von zwei Zeitzeuginnen kämpften in der Ukrainischen Widerstandsarmee (UPA) und verloren durch Folter, Verschleppung und Erschießung viele ihrer Familienangehörigen. Ein Zeitzeuge gab Eindrücke aus seiner Zeit als Soldat in der Roten Armee, er war Frontoffizier bei der Eroberung von Königsberg. Der vierte Zeitzeuge hatte Erinnerungen unter anderem an den Bau des Konzentrationslagers Sobibor in der Nähe seines Wohnortes.
Neben den Gesprächen mit den Zeitzeugen gab es einige Ausflüge – ein deutscher Soldatenfriedhof außerhalb der Stadt Rivne wurde besucht und eine Mahn- und Gedenkstätte an einem Ort, an dem Massenermordung von Juden stattgefunden hatte. Auf dem Programm stand auch der Besuch einer kleinen Galerie, in der junge Künstler eine Ausstellung unter dem Namen "60 Jahre danach" organisiert hatten.
Am 9. Mai, dem „Tag des Sieges“ besuchte die Gruppe gemeinsam die Parade, die zur Feier des Tages veranstaltet wurde. Die deutschen und polnischen Teilnehmer staunten, worüber einige ukrainische Teilnehmer die Schultern zuckten und sagten: „Normal.“ In der Parade, angeführt von einem Panzer, liefen Kriegsveteranen, Soldaten und fahnenschwenkende Angehörige verschiedener Parteien mit – die Veteranen, die es zu Fuß nicht mehr schafften, wurden in alten Bussen mitgefahren. Überall hab es Blumen, die den Veteranen überreicht wurden und Ukraine-Fähnchen, mit denen gewinkt wurde. Die Gruppe reihte sich schließlich in die Parade ein und ging mit bis zum Ende, einem Friedhof mit einem großen Denkmal, wo einige Reden gehalten wurden und in einer Schweigeminute der Opfer des Zweiten Weltkrieges gedacht wurde.
Alle Zeitzeugengespräche wurden als Audiodateien aufgenommen und nachdem die Gespräche mit den Zeitzeugen beendet waren, fingen die Teilnehmer an, das Material zu sortieren, zu schneiden, die ausgewählten Passagen aufzuschreiben und zu übersetzen. Jeder der Zeitzeugen sollte auch in den jeweils anderen beiden Sprachen zu hören sein. Die Auswahl, welche Passagen aus den umfassenden Erinnerungen ausgewählt werden soll, fiel sehr schwer – die Aufgabe der Teilnehmer war es, Gespräche, die über ca. 2 Stunden gingen, auf 5-8 Minuten zu kürzen und zu kommentieren.
Andere kümmerten sich darum, das Layout für die CD zu entwerfen und Zusatzinformationen zu sammeln. Bei der Arbeit am Material selber entstanden viele Diskussionen und Fragen zu historischen Themen, vor allem mussten, um die Lage der einzelnen Zeitzeugen für die Hörer der CD kurz darzustellen, noch einige Informationen eingeholt werden. Sätze wie „Was heißt denn ‚Kinder-Landverschickung’ auf Polnisch?“ oder „Wer kann mir in einem Satz erklären, was die UPA ist?“ waren oft in den Arbeitsräumen zu hören. Nachdem die Zeitzeugengespräche übersetzt waren, wurde angefangen, die Sprecher, die die Texte in den anderen Sprachen für die CD lesen sollten, aufzunehmen. Diese Aufnahmen wurden dann über die Originalaufnahmen eingespielt, so dass man auf der CD die Stimmen der Zeitzeugen zu hören und auch in seiner eigenen Sprache zu verstehen bekommt.
„Erst wenn man viel voneinander weiß, kann man gemeinsam gedenken.“
„Der 9. Mai ist für mich – nach diesem Projekt – eine Brücke zwischen der Vergangenheit und der Zukunft Europas. Eine Brücke, deren Pfeiler wir sind, die Jugend. Es hängt von uns ab, ob die Erfahrungen unserer Großeltern zu den Erfahrungen unserer Enkel werden.“
„Dank der verschiedenen Erfahrungen der Zeitzeugen, die den Krieg erlebten, habe ich jetzt ein klares Bild davon, wie schrecklich es war, und dass es sich nie wieder wiederholen soll.”
„Mein Gewinn aus dem Zeitzeugenprojekt ist eine Erweiterung meines persönlichen Erlebens und Vorstellungsvermögens bezüglich der Geschehnisse des 2. Weltkriegs. Durch das Hören persönlicher Schicksale wird Geschichte lebendig. Fakten und Hintergründe geraten weniger schnell in Vergessenheit.“