Die Zeit des Nationalsozialismus und die Geschichte der NS-Verbrechen ist wohl die schwierigste unserer Vergangenheiten, zu der wir uns als Individuen wie auch als Gesellschaft in Beziehung setzen. Lange dominierte die „Opferthese“ den öffentlichen Diskurs, darauf folgte eine Zeit heftiger Auseinandersetzungen der Nachkriegsgeneration mit ihren Eltern, die zu einem guten Teil über den Nationalsozialismus geführt wurde. In den letzten Jahren scheint eine neue Phase angebrochen zu sein, in der unsere Gesellschaft ihr kulturelles Gedächtnis über diese Jahre ausbildet, sich also öffentlich mit der Frage auseinander setzt, was an Erinnerung und in welcher Form sie diese Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus, namentlich den Holocaust, an die kommenden Generationen weiter geben will.
Nunmehr kommt neben den Massenmedien, den Museen und Gedenkstätten wiederum dem Bildungswesen eine ganz besondere Bedeutung zu. Die Auseinandersetzung mit den Themen Nationalsozialismus und Holocaust im österreichischen Bildungswesen zu fördern, ist die Aufgabe des Projekts „Nationalsozialismus und Holocaust: Gedächtnis und Gegenwart“, das vom Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur (Abteilung für politische Bildung, Abteilungsleiter MinR Mag. Manfred Wirtitsch, und Abteilung für bilaterale Angelegenheiten, Abteilungsleiterin Mag. Martina Maschke) getragen wird. Die Module des Projekts sind: Seminare in Yad Vashem (Jerusalem), das jährlich stattfindende „Zentrale Seminar“, dezentrale Netzwerke in den Bundesländern und die Website www.erinnern.at.
Bis Juli 2005 nahmen an den bisher neun Seminaren 196 Lehrer/innen unterschiedlicher Schultypen aus ganz Österreich an den bisherigen sechs Seminaren in Yad Vashem“ teil, großteils unterrichten sie an Allgemeinbildenden und Berufsbildenden Mittleren und Höheren Schulen, aber auch an Volks- und Hauptschulen oder Pädagogischen Akademien sowie in der Erwachsenenbildung. Die Mehrzahl unterrichtet Geschichte in Verbindung mit weiteren Fächern, es finden sich auch ReligionslehrerInnen, KunsterzieherInnen, DeutschlehrerInnen usw. unter den TeilnehmerInnen.
Die Abteilung für bilaterale Angelegenheiten im Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur trägt diese Seminare an der „International School for Holocaust Studies in Yad Vashem“ in Erfüllung von Art. 2.4 des österreichisch-israelischen Memorandum of Understanding. Die Seminare werden in Österreich jeweils an einem Wochenende vor- und nachbereitet. Die Nominierung der TeilnehmerInnen erfolgt über die jeweiligen Landesschulratspräsidenten, in Wien über den Stadtschulrat. Für viele KollegInnen ist das Yad Vashem Seminar das Eingangsportal ins Projekt. Mit der Teilnahme verpflichten sich die KollegInnen, eine Multiplikationstätigkeit zu übernehmen, eine didaktisch-methodische Arbeit zu schreiben, ein Projekt an ihren Schulen durchzuführen, in einer Klasse oder fächerübergreifend. Einige dieser Arbeiten sind auf der Homepage des Projekts als „Best Practise“ Modelle dargestellt und stehen damit anderen zur Verfügung.
Im Zentrum des Seminarprogramms stehen das jüdische Leben in Europa vor der Shoah, die Shoah selbst und das Leben nach der Shoah. Einen weiteren Schwerpunkt bilden pädagogische Programme, also die Präsentation von Vermittlungsmöglichkeiten, vorwiegend von in Yad Vashem entwickelten didaktisch-methodischen Modellen. In der Konfrontation mit dem jüdisch-israelischen Narrativ werden auch die mitgebrachten Narrative der TeilnehmerInnen in Frage gestellt sowie ihre Einstellungen und Werthaltungen herausgefordert - beides kann und soll wertvolle Reflexionsprozesse auslösen.
Ganz besonders einprägsam sind die Begegnungen, etwa mit den Referent/innen und ihrer sehr häufig auch persönlichen Geschichte. In den Diskussionen mit ihnen sowohl über historische Fragestellungen als auch über die Unterrichtspraxis machen wir immer wieder die Erfahrung, wie schwer es ist, Verständigung und Verständnis zu erzielen - zu gegenwärtig sind vielen noch die Erfahrungen und Erinnerungen der Nazizeit und zu häufig noch steht ausgesprochen oder unausgesprochen die Frage an die Österreicher/innen nach ihrem Umgang mit dieser Vergangenheit im Raum: warum so spät und warum so zögerlich?
Gerade in der Begegnung mit den Überlebenden im von Moshe Harel-Sternberg moderierten Workshop wird die Gegenwart der Vergangenheit deutlich, in Einheiten mit auf Traumata spezialisierten Psychologen wird verständlich, wie präsent dieser Schrecken in den Alltag der Überlebenden reicht und wie dieser im Prozess der „Transgenerational Transmission of Trauma“ auch weitergereicht wird an die nächste Generation.
Hört man dann israelischen SchülerInnen zu, die von ihren Eindrücken berichten, die sie von ihrer Polenreise und insbesondere aus Auschwitz mitnahmen, dann wird auch deutlich, wie verschieden die Schlussfolgerungen junger israelischer Jüdinnen und Juden von denen ihrer österreichischen GesprächspartnerInnen sind, die in jeweils unterschiedlichen historischen Traditionen leben. Das „niemals wieder“ ist allen gemein, doch welche Werthaltungen und welche konkrete Politik das sicherzustellen vermag, dazu werden die Gegensätze - wenn sie denn ausgesprochen werden - schnell deutlich.
Ganz besondere Bedeutung erlangte mittlerweile ein gemeinsamer Abend mit einer Gruppe von aus Österreich nach Israel geflohenen bzw. ausgewanderten Juden und Jüdinnen. Die „Jerusalem Austrians“. Aus vorsichtigen Anfängen entstand ein zentrales Ereignis des Seminars. Dieser gemeinsame Abend im Hotel, an dem jeweils auch ein Vertreter / eine Vertreterin von der österreichischen Botschaft in Tel Aviv teilnimmt, wird von Anita Goldschmidt sowie von Felix Jaffé (beide Jerusalem) organisiert. Im Durchschnitt folgen etwa 25 ehemalige ÖsterreicherInnen der Einladung, sie sprechen in der Regel im Gegenzug Einladungen zu Gegenbesuchen an die LehrerInnen aus.
Ist auch die aktuelle Situation in Israel und der andauernde Konflikt mit den PalästinenserInnen nicht Thema des Seminars in Yad Vashem selbst, so ist es doch - gerade im Hinblick auf die Vermittlungsdimension an den Schulen - notwendig, ihn anzusprechen und den österreichischen TeilnehmerInnen auch Raum für ihre Fragen zu geben. Bei den letzten Seminaren hat jeweils der Kulturattaché der österreichischen Botschaft in Tel Aviv eine Gesprächsrunde zur aktuellen Lage und möglichen Perspektiven für Israel und die palästinensischen Autonomiegebiete organisiert.
Das „zentrale Seminar“ ist eine jährlich stattfindende, mehrtägige Veranstaltung, bei der sich Vertreter/innen der relevanten wissenschaftlichen Forschung mit PädagogInnen, DidaktikerInnen, SchulbuchautorInnen sowie StudentInnen und SchülerInnen treffen. Hier soll die grundsätzliche Debatte um einen angemessenen Umgang mit dem Thema „Nationalsozialismus und Holocaust“ im österreichischen Bildungswesen geführt werden.
Am 1. Zentralen Seminar waren Lehrer/innen aus ganz Österreich, Wissenschafter/innen, Student/innen der Universitäten Salzburg und Innsbruck sowie eine kleine Gruppe von Schüler/innen eines Bregenzer Gymnasiums beteiligt. Die insgesamt 75 Teilnehmenden setzten sich ausgehend von drei Orten mit drei Themenstellungen auseinander:
Neben den Exkursionen und wissenschaftlichen Referaten nahmen Workshops breiten Raum ein. In ihnen erörterten die Teilnehmer/innen ihre Vermittlungspraxis und erweiterten ihr Spektrum um neue Möglichkeiten.
Das Seminar hatte zwei Schwerpunkte: Die Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung im Burgenland und Fragen der schulischen Vermittlung.
Ein zentrales Thema auf der Ebene der Geschichte ist der Einsatz von ungarischen Jüdinnen und Juden als Zwangsarbeiter/innen beim Bau des Südostwalls. Die Verfolgung der ungarischen Juden, die Todesmärsche und Auschwitz bilden dafür den Kontext.
Auf der Ebene des Gedächtnisses sind Rechnitz und die Auseinandersetzung um die Erinnerung an die ausgelöschte jüdische Gemeinde sowie an die Ermordung von Zwangsarbeiter/innen von paradigmatischer Bedeutung. Hier können wir uns anhand der Erfahrungen von RE.F.U.G.I.U.S (der Rechnitzer Flüchtlings- und Gedenkinitiative und Stiftung) mit der Frage des Erinnerns und der Verweigerung von Erinnerung auseinander setzen.
Die Verfolgung der Roma ist ein weiteres wichtiges Thema. Ausgehend von der Geschichte werden wir uns der Erinnerung annähern, wie sie in der Roma Gemeinde überliefert wird, und erörtern, welchen Stellenwert diese Erinnerung innerhalb der burgenländischen Gesellschaft hat. Hier werden u.a. die Ergebnisse der Arbeiten der Österreichischen Historikerkommission einfließen. Gäste aus der Volksgruppe der Roma sprechen über die Verfolgungsgeschichte und die aktuelle Lage der Roma im Burgenland.
Die Frage, wie über Nationalsozialismus und Holocaust im Unterricht gelernt werden kann, ist der rote Faden im Seminarprogramm. Weil wir im Zuge der Arbeit im Projekt recht deutlich ein Bedürfnis nach altersspezifisch adäquater Vermittlung wahrnehmen, bieten wir neben Impulsen für die Oberstufe, Stichwort „reflektiertes Geschichtsbewusstsein“, einen eigenen Schwerpunkt für das Lernen zu Nationalsozialismus und Holocaust mit jüngeren Schüler/innen. Multiethnische Lerngruppen verlangen von Lehrer/innen eine besondere Sensibilität.
Aus Auschwitz stammt ein Fotoalbum, das vermutlich ein SS-Mann zusammenstellte und das die Ankunft und Ermordung ungarischer Jüdinnen und Juden dokumentiert. Die Bilder dieses Albums fanden Eingang in jenes Bildgut, aus dem wir unser Bild des Holocaust konstruieren.
In Anbetracht ihrer prägenden Wirkung ist der Umgang mit Bildern, die Auseinandersetzung mit ihrem Potential von besonderer Bedeutung. Workshops dienen dem Erfahrungsaustausch und der Vertiefung.
Die Gedenkstätte Mauthausen zählte die letzten Jahre jeweils knapp 200.000 Besucher/innen - davon waren etwa 90.000 Schülerinnen und Schüler. Im Jahr 2000 besuchten mit knapp 53.000 österreichischen Schülern etwa 10 % der relevanten Altersgruppe Mauthausen. Aus dem ehemaligen Konzentrationslager Mauthausen war schon 1949 die Gedenkstätte entstanden und ihre Darstellung der Verfolgungsgeschichte wurde für ganze Generationen von jungen Menschen prägend.
Während sich das Gedenken lange Zeit auf Mauthausen konzentrierte, verschwanden viele weitere Orte der Verfolgung und Verbrechen aus dem öffentlichen Bewusstsein in Österreich, bzw. waren darin nie so recht als Gedächtnisorte präsent gewesen. Lager wie Gusen oder Ebensee und die Mordstätte Hartheim waren zwar Überlebenden und Angehörigen der dort Umgebrachten als Gedächtnisorte präsent, das offizielle Österreich wendet sich jedoch erst in den letzten Jahren diesen Orten zu: In Ebensee entstand die Gedenkstätte und das Zeitgeschichtemuseum, in Hartheim der "Lern- und Gedenkort Schloss Hartheim" zur Erinnerung an den Krankenmord, in Gusen wird kommenden Herbst ein Besucherzentrum eröffnet.
Im dritten Zentralen Seminar haben wir uns mit der Stadt Steyr, seiner ausgelöschten jüdischen Gemeinde und den mit der dortigen Rüstungsproduktion verbundenen Lagern, mit Ebensee, Hartheim und Mauthausen beschäftigt. Ausgehend von einem Besuch dieser Gedenkstätten / Gedächtnisorte standen vor allem Fragen des Lernens im Zentrum: eine ans jeweilige Lernalter angepasste Pädagogik und methodisch-didaktische Annäherungen.
Die Rolle von Lehrern als gedächtnispolitische Akteure ist das Generalthema des 4. Zentralen Seminars in Klagenfurt/Kärnten. In der heutigen pluralistischen österreichischen Gesellschaft wird Lehrer/innen nicht mehr die Rolle zugewiesen, die verbindliche, einigende österreichische Geschichtserzählung an die nachwachsende Generation zu vermitteln. Lehrerinnen und Lehrer sind insofern gedächtnispolitische Akteure, als wir einerseits auch uns und unsere Geschichten einbringen sowie bestimmte Geschichten aus der Geschichte auswählen, andererseits können wir mit unseren Lernenden einen Austausch über die mannigfachen Erzählungen organisieren, welche vielstimmig die Erinnerung an die Zeit des Nationalsozialismus bilden.
Die sozialpsychologische Dimension der Erinnerung bzw. Auseinandersetzung mit Holocaust und Nationalsozialismus bildet den ersten Schwerpunkt. Klaus Ottomeyer, Vorstand der Abteilung für Sozialpsychologie, Ethnopsychoanalyse und Psychotraumatologie an der Universität Klagenfurt, sowie Natan Kellermann, der lange für AMCHA, die israelische Hilfsorganisation für psychosoziale Betreuung von Holocaust-Überlebenden arbeitete, werden einen Einstieg ins Thema ermöglichen. In sechs Workshop-Gruppen ist Platz für die persönlichen Zugänge der Teilnehmer/innen.
Die Kärntner Erinnerungslandschaft, das zweite Schwerpunktthema, ist vielleicht frag-mentierter und divergenter als anderswo, jedenfalls kann an ihr gut aufgezeigt werden, wie konkurrierende Erzählungen in parallelen Erinnerungsgemeinschaften tradiert werden und welche Bedeutung diese Erzählungen für gegenwärtiges Bewusstsein haben. Heidemarie Uhl von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften wird sich mit der Bedeutung und Relevanz von Gedächtnis beschäftigen und damit die Grundlage für den Klagenfurter Germanisten Klaus Amann, den gleichfalls an der Universität Klagenfurt lehrenden Historiker Karl Stuhlpfarrer und die Historikerin Lisa Rettl legen, die einen Überblick über die konkreten Formungen der Kärntner Gedächtnislandschaft geben werden. An fünf ausgewählten Exkursionsorten in Kärnten können sich die Teilnehmer/innen, geleitet von kundigen Begleitern, selber auf die Spurensuche machen.
Wie das alles in schulische Praxis übersetzt werden kann und welche Relevanz das für verschiedene Lerngruppen hat, ist zentraler Gehalt des dritten Schwerpunkts. Das Seminarprogramm sieht Zeit für den Austausch der Erfahrungen der Teilnehmer/innen vor: Erfahrungen mit im Unterricht aufeinander prallenden, teils widersprüchlichen und konkurrierenden Erzählungen, von den Chancen und Schwierigkeiten, Multiperspektivität möglich zu machen und klare Standpunkte und Verständnis zu vereinen, Erfahrungen mit dem Lernen zu Nationalsozialismus und Holocaust allgemein. Das Seminar bietet Gelegenheit zur Begegnung mit vielen engagierten Kolleg/innen.
In jedem Bundesland, in Wien ab 2005 ist seit Ende 2004 ein dezentrales Netzwerk eingerichtet, das Institutionen und engagierte LehrerInnen vernetzt, LehrerInnenfortbildung organisiert und eine wesentliche Rolle in den Arbeitsgruppen zur Sichtung und Erarbeitung von Unterrichtsmaterialien einnimmt. Für ganz Österreich relevantes Material soll dabei um solches ergänzt werden, das einen Bezug zum regionalen kulturellen bzw. politischen Umfeld der Schulen hat, um einerseits dem Interesse von Lernenden als auch Lehrenden an regionaler Geschichte entgegenzukommen, wie andererseits Nationalsozialismus und Holocaust als integralen Bestandteil der Regional- bzw. „Heimat“-Geschichte verankern zu helfen.
Zweimal jährlich organisieren wir ein gesamtöstererichisches Treffen der Koorinator/innen, Neben einem jeweils im Voraus durchgeführten Assessment und Berichten zur Lage und Entwicklung stehen der gemeinsame Erfahrungsaustausch und die Planung weiterer Aktivitäten im Vordergrund. Die Arbeit der Netzwerk Koordinator/innen ist auf der jeweiligen Bundesländer-Homepage abgebildet.
ist Wissens- und Kommunikationsplattform des Projekts. Die Bibliothek enthält eine Fülle von thematisch gegliederten Materialien und didaktisch-methodische Aufbereitungen von Unterrichtseinheiten.
Univ.Prof. Dr. Ernst Hanisch, Historiker, Universitität Salzburg
Dr. Reinhard Krammer, Geschichtsdidaktiker, Universität Salzburg
Dr. Eva Grabherr, Judaistin, Dornbirn
Dr. Heidemarie Uhl, Historikerin, Österreichische Akademie der Wissenschaften
Dr. Falk Pingel, Historiker, Georg-Eckert-Institut für Internationale Schulbuchforschung
Dr. Bertrand Perz, Historiker, Universität Wien
Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur
Mag. Martina Maschke, Abteilung für Bilaterale Angelegenheiten
Mag. Manfred Wirtitsch, Abteilung für Politische Bildung
Dr. Werner Dreier
werner [dot] dreier [at] vol [dot] at
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