Ute Scheubs Vater nahm sich am 19. Juli 1969 auf einer Veranstaltung des evangelischen Kirchentages in Stuttgart vor zweitausend Menschen öffentlich mit Zyankali das Leben. Mit der Schilderung dieses Ereignisses beginnt ihre schonungslose und schmerzhafte „Vatersuche“.
Nach einer Lesung von Günter Grass aus seinem noch unveröffentlichten Roman „Örtlich betäubt“ hatte ihr Vater, Apotheker, damals 56 Jahre alt, sich am Saalmikrofon zu Wort gemeldet und nach einigen erregten, wirren Sätzen in die Menge gerufen „Ich provoziere jetzt und grüße meine Kameraden von der SS“. Danach setzte er die Giftflasche an den Mund, brach zusammen und starb auf dem Weg ins Krankenhaus.
Die Presse berichtete in Schlagzeilen über die dramatische Szene. Günter Grass beschrieb den Vorfall in seinem "Tagebuch einer Schnecke". Er gab dem Mann, der als Nebenfigur in dem Roman immer wieder auftaucht, das Pseudonym Manfred Augst, - Augst wie Angst.- Die Autorin behielt diesen Namen in ihrem Buch zum Schutz ihrer Familie bei.
Die Darstellung von Günter Grass, der selbst erst 2006 mit dem Geständnis seiner Mitgliedschaft in der Waffen-SS die Weltöffentlichkeit erregte, provoziert vor diesem Hintergrund ganz neue Fragen, - auch für die Autorin, die das Buch vor diesem Geständnis schrieb. Damals besuchte Grass schockiert von dem Erlebnis die Familie um etwas über die Motive für den Selbstmord zu erfahren.
Heute vermutet sie, dass Grass, selbst Vater von vier Kindern, mehr interessierte, wie die Kinder zur Vergangenheit ihres Vaters standen. Ute Scheub war damals dreizehn Jahre alt und wusste darüber so gut wie nichts. Besonders traurig war sie über den Tod des Vaters nicht, den sie als "freudlosen Peiniger" erlebt hatte. Er blieb für sie ein Fremder. Erst 35 Jahre später fand sie auf dem Dachboden des Elternhauses Tagebuchnotizen, Feldpostbriefe, Manuskripte und Abschiedsbriefe des Vaters, die sie veranlassten, sich mit seiner Nazi-Vergangenheit auseinander zu setzen.
Ihre Spurensuche ist gründlich und schmerzhaft. Sie setzte sich akribisch mit seiner Lebens- und Sozialisationsgeschichte auseinander, die auch sie geprägt hat. Sie arbeitet sich durch seine schwierig zu entziffernde und zu verstehende schriftliche Hinterlassenschaft, forschte in Archiven, arbeitete sich durch die einschlägige wissenschaftliche Literatur über die NS-Zeit und bezieht diese Ergebnisse ihrer Recherchen ein in das Psychogramm des Vaters. Sie will herausfinden, wo er im Krieg als Soldat eingesetzt war und ob er, der auf Postkarten an die Eltern zuhause stets schrieb: „Mir geht es immer gut“, an Massakern beteiligt war. Es bleibt bei Vermutungen, Beweise findet sie nicht.
Der Vater, 1913 geboren, wuchs in pietistischem Milieu als ältester Sohn eines Volkschullehrers in einem Schwarzwalddorf auf. Dem tyrannischen Großvater, von der „Tugend der Härte“ als Frontkämpfer des Ersten Weltkriegs geprägt, aber auch der schwäbischen falschen Frömmelei und der mangelnden Anerkennung schreibt Ute Scheub zu, dass ihr Vater selbst so unfähig zu Mitgefühl und Mitteilsamkeit wurde. Bereits als Abiturient trat er 1931 in die NSDAP und SA ein, 1933 in die SS, war Hitlerjugendführer und begannt 1934 ein Studium an der SS-Elite-Universität Jena, wo er Schüler des „Rassen- Günther“ wurde.
Er trat den „Deutschen Christen“ bei und dem „Kampfbund für deutsche Kultur“, wurde also ideologisch ein hundertfünfzigprozentiger Nazi, ein eifriger Mitmacher. Seine zweimalige Bewerbung bei der Waffen-SS wurde zu seiner großen Enttäuschung jedoch abgelehnt, weil er Brillenträger war. Er machte weiter keine große Karriere. 1939 wurde er eingezogen und diente als Flak-Kanonier, war im Afrika-Korps und bei der Partisanenbekämpfung in Oberitalien eingesetzt.
Was mit ihm 1945 nach dem Zusammenbruch seiner Welt innerlich passierte, blieb sein Geheimnis. Der Verlust der „Kameradschaft" musste ein tiefes Loch in seinen Seelenhaushalt gerissen haben. Er litt an Depressionen aber er schwieg. Die Tochter vermutet, dass er an diesem Schweigen und seinen Schuldgefühlen erstickte. Günter Grass räumte erst in seinen späten Memoiren ein, dass ihn das Schweigen bedrückt habe. Den Selbstmord hatte Manfred Augst schon länger geplant, wie die 14 Abschiedsbriefe enthüllten.
Ute Scheub, Journalistin und Mitbegründerin der Tageszeitung „taz“ hat mit dieser Vatersuche zugleich ihre persönliche Geschichte geschrieben und sich mit dem Verdrängen der Vatergeneration auseinandersgesetzt. Der Drang, unbedingt anders sein und alles gegenteilig machen zu wollen, bestimmte ihr Leben. Am Ende kann sie sich aus dieser negativen Symbiose lösen und den Vater in Frieden ruhen lassen.
Sie erzählt in ihrem Buch auch die Geschichte ihrer Generation, der Täter und Mitläuferkinder. Sie stellt Fragen über die Auswirkungen der Taten auf die Nachfahren der Täter und insbesondere die wichtige Frage, wie man umgehen kann mit Schuld. Das Buch von Ute Scheub vermittelt packend und klug analysierend an einem Einzelschicksal NS-Tätergeschichte und ihre langen familialen Nachwirkungen bis heute. Eine unerlässliche Lektüre auch zum sensibleren Verständnis über die deutsche Nachkriegsgeschichte.