Auch vier Jahre nach der großen Erweiterungsrunde der EU ist im allgemeinen Bewusstsein der Bürger aber auch der "Europaexperten" noch nicht die Erkenntnis angekommen, dass die traditionellen Beschreibungen des Projekts der europäischen Integration, wie sie in den Nachkriegsjahrzehnten in den sechs "alten" westlichen Mitgliedstaaten entwickelt wurden, nicht unverändert fortgeführt werden können.
Die traditionellen Konzepte und Bilder von Europa, die in der alten westlich geprägten EU über lange Jahre dominierten, entsprechen nicht mehr der heutigen Realität von nun 27 Mitgliedstaaten der nach Osten und Südosten ausgeweiteten Union. Eine Analyse der vorhandenen Denkmuster in Politik und Gesellschaft ist daher dringend erforderlich. Die Mehrheit der Bürger in den einzelnen Mitgliedsländern hat zu dem EU Verwaltungsapparat ein distanziertes Verhältnis, was sich vor allem in geringer Wahlbeteiligung für das Europaparlament und Skepsis bis Ablehnung gegenüber der EU-Verfassung auch in der reformierten Fassung von Lissabon manifestiert. Zu sehr lag der Interessenschwerpunkt der EU bislang auf Wirtschaft und Verteidigung, zu wenig auf dem kulturellen Zusammenwachsen. Ein Defizit ist und bleibt bislang die nachhaltige Kooperation zwischen Politik und Kultur.
Bei der Vorstellung dieser Studie am 17. September 2008 in Berlin in der Vertretung des Saarlandes beim Bund wurde daher die Notwendigkeit der Entwicklung der kulturellen Europa- Identität von dem von Prof. Frank Baasner (Herausgeber und Direktor des deutsch-französische Instituts in Ludwigsburg) moderierten Podium besonders hervorgehoben. Die Unterschiede zwischen den verschiedenen Staaten sind nicht nur ökonomisch sondern auch sozial und insbesondere mental erheblich. Die gesamte Konzeption dessen, was Europa bedeuten soll, divergiert von Land zu Land - insbesondere im Verhältnis zwischen den mittelosteuropäischen Staaten und den westeuropäischen Mitgliedern. Daher ist es für eine fundierte Debatte vor allem über Europas Zukunft unerlässlich, sich genau mit den jeweils spezifischen nationalen Narrativen, historischen Identitäten und politisch-kulturellen Prägungen vertraut zu machen, die die Debatten über Europa in Politik und Öffentlichkeit bestimmen.
In 12 Beiträgen werden in diesem Band Vorstellungen über Europa, Erwartungen an die Europäische Union sowie Argumente dafür und dagegen in einzelnen Mitgliedstaaten untersucht. Die Beiträge beleuchten Aspekte, wie das Spannungsverhältnis zwischen nationalen Interessen und einer Wertegemeinschaft, zwischen dem Anspruch der für alle verbindlichen EU Verfassung und der von den Bürgern "gefühlten", gelebten sozialen Wirklichkeit. Europabilder in den neuen Beitrittsländern Polen, Tschechien und Ungarn werden denen der alten Mitgliedsländer Frankreich, Italien und Großbritannien gegenübergestellt.
Ferner enthält der Band eine Analyse der Debatten in Deutschland und Frankreich um die Türkei als Beitrittskandidat sowie eine Selbstbeschreibung der Europäischen Union über die Zukunft Europas. Ein Einblick in die Europadiskurse in der Öffentlichkeit der USA schließt den Band ab. Der Zeitraum für diese von der Asko Europa-Stiftung geförderten Untersuchung lag zwischen 2003 und 2005, die im Zeichen der negativen Referenden in Frankreich und den Niederlanden standen. Eine Analyse des gescheiterten irischen Referendums für den Reformvertrag von Lissabon enthält der Band daher noch nicht. Doch die Studie begreift sich als eine nicht abgeschlossene Zwischenbilanz mit dem Ziel, die notwendigen Europa-Diskurse über Differenzen und Gemeinsamkeiten in den Mitgliedsländern weiter anzustoßen.
Kritisch ist zur Edition anzumerken, dass dem Band, der den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erhebt und nicht nur für Insider verfasst sein sollte, leider nicht nur ein Verzeichnis mit Kurzbiografien der elf Autoren der einzelnen Beiträge fehlt, damit deren Kompetenzen und Publikationen zur Thematik offengelegt werden. Auch die Literaturnachweise und Anmerkungen wurden editorisch nicht einheitlich gehandhabt. Ein Index wäre ebenfalls hilfreich gewesen.
Das Deutsch-Französische Institut in Ludwigsburg (dfi) ist ein unhabhängiges sozialwissenschaftliches Informations- Dokumentations- und Forschungsinstitut über das zeitgenössische Frankreich und die deutsch-französischen Beziehungen. Als Kompetenzzentrum für das aktuelle Frankreich und die deutsch-französischen Beziehungen, als Plattform für den Dialog zwischen den Akteuren beider Länder begleitet und gestaltet es seit mehr als 50 Jahren die deutsch-französische Kooperation. Träger sind das Auswärtige Amt, das Wissenschaftsministerium Baden-Württemberg und die Stadt Ludwigsburg. Renommierte Stiftungen (Robert Bosch Stiftung, Asko Europa-Stiftung, Fondation Entente Franco-Allemande, Wüstenrot-Stiftung usw.) fördern zahlreiche Projekte des dfi. Zu den Sponsoren und Freunden des Instituts zählen bedeutende Unternehmen aus Frankreich und Deutschland.