Straßendemonstrationen standen keineswegs am Beginn des Aufstiegs der deutschen Arbeiterbewegung nach 1848. Die mehr als 200 Toten der Barrikadenkämpfe des 18. März 1848 in Berlin schwebten wie ein Damoklesschwert über der nach 1863 stetig anwachsenden organisierten Arbeiterschaft. 1863 gründete sich in Leipzig der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein (ADAV), geführt von Ferdinand Lassalle (1825–1964). Ihm folgte 1869 in Eisenach die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP), an deren Spitze August Bebel (1840–1913) und Wilhelm Liebknecht (1826–1900) standen. Nach deren Zusammenschluss zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD) im Mai 1875 in Gotha reagierte der preußisch-deutsche Obrigkeitsstaat bereits im Oktober 1878 mit Repression durch das „Sozialistengesetz“, das bis zum 30.9.1890 Gültigkeit behielt. Lediglich während der Periode der Reichstagswahlen konnte die Sozialdemokratie legal an die Öffentlichkeit treten. Unter dieser staatlichen Unterdrückung bildete sich eine Gegenkultur heraus, durch die sich die Arbeiterbewegung von der bürgerlichen Gesellschaft abschottete. Gleichzeitig sollten offene und gewaltsame Konflikte vermieden werden; so mahnten die nach der Verhängung des „Kleinen Belagerungszustands“ am 23.11.1878 aus Berlin ausgewiesenen Sozialdemokraten: „An unserer Gesetzlichkeit müssen unsere Feinde zu Grunde gehen.“ (Bernstein 1907: 27). Die eigene Gesetzestreue sollte die Obrigkeit zum Gesetzesbruch zwingen, um sie anzuklagen.
Nach 1890, als die nun wieder legale SAPD sich in Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) umbenannt hatte, blieb diese Zurückhaltung in Bezug auf Straßendemonstrationen bestehen. Stattdessen versammelten die Abgeordneten und Repräsentanten der Partei ihre Anhängerschaft auf großen „Volksversammlungen“ in Lokalen von oft beachtlichem Ausmaß. Diese Praxis einer Versammlungsdemokratie, durchaus nach antikem Vorbild, schuf ein starkes Band zwischen den Arbeiterinnen und Arbeitern und ihren politischen Vertretern der Arbeiterpartei SPD. Es war keine Seltenheit, wenn etwa den Versammlungen von Arthur Stadthagen (Niederbarnim) oder Georg Ledebour (Berlin VI) zwischen 1.000 und 3.000 Menschen beiwohnten. Bebel und Liebknecht galten als Volkstribunen der Arbeiterschaft. Im Arbeiterlied „Sozialisten auf der Reis`“ (1896) hieß es in der siebten Strophe: „Und der Wirt in Seelenqual schreit: Das schadet meinem Saal!“ (Volksliederarchiv: 1896). Aus der Not wurde eine Tugend: Funktionäre wie der spätere Reichspräsident Friedrich Ebert oder der Charlottenburger Reichstagsabgeordnete Fritz Zubeil wurden zu Gaststättenpächtern und ermöglichten der Partei reguläre Zusammenkünfte. Doch mit dem schier unaufhaltsamen Aufstieg der SPD als Wahlpartei wuchs auch die Bereitschaft zu neuen Aktionsformen (Hohorst 1978: 173–176).
Den wichtigsten Impuls zur Erweiterung des Aktionsraumes der Arbeiterbewegung auf die Straße lieferte die russische bürgerliche Revolution. Nach dem Petersburger „Blutsonntag“ vom 9.1.1905, als bei einer Großdemonstration 140.000 bis 150.000 Menschen protestierten, ließ der Zar auf die Demonstranten schießen. Rund 1.000 Tote waren zu beklagen. Dennoch kam es zu zeitweiligen Reformmaßnahmen, so dass das prinzipielle Erfolgspotenzial von großen Straßendemonstrationen auch in der deutschen Sozialdemokratie diskutiert wurde. Die „Massenstreikdebatte“ nahm an Fahrt auf. Versuche des linken Parteiflügels um Rosa Luxemburg, Arthur Stadthagen, Clara Zetkin und Georg Ledebour, den politischen Massenstreik als offensives Kampfmittel der Arbeiterbewegung durchzusetzen, scheiterten jedoch am Widerstand der Parteiführung um Bebel und an den Gewerkschaften. Dennoch beschloss der Parteitag in Jena im September 1905 eine Resolution, in welcher der Massenstreik als wirksames Kampfmittel zur Abwehr von Wahlrechtsverschlechterungen und weiteren schweren Angriffen auf die Rechte der Arbeiterschaft anerkannt wurde (Czitrich-Stahl 2024: 256–263). Da besonders der gemäßigte (revisionistische) Parteiflügel um Eduard Bernstein und Ludwig Frank den Massenstreik mit dem Kampf um ein demokratisiertes Wahlrecht kombinierte, kam es in den Jahren zwischen 1906 und 1913 zu mehreren Kampagnen, in denen Straßendemonstrationen ein Hauptmobilisierungsmittel darstellten. Sie wurden so zur wichtigen politischen Kampfform der Arbeiterbewegung, wie an den nachfolgenden Beispielen erläutert werden soll.
Ein Jahr nach der Revolution in Russland rief die internationale Sozialdemokratie zu Solidaritätskundgebungen auf. Am 21.1.1906, dem „Roten Sonntag“, trafen sich die Sozialdemokratinnen und -demokraten Groß-Berlins zu mehreren Zehntausenden auf Dutzenden von Solidaritätskundgebungen, die allesamt friedlich verliefen. Zusätzlich zu einer Solidaritätsbekundung mit den russischen Arbeitern hatten zuvor alle Versammlungen eine Resolution gegen das preußische Dreiklassenwahlrecht beschlossen, die dem Landtag als Petition übergeben werden sollte. Straßenumzüge unterblieben allerdings zunächst, weil sich am 17.1.1906 die bewaffnete Staatsmacht in Hamburg heftige und handgreifliche Auseinandersetzungen mit den Wahlrechtsdemonstranten geliefert hatte, die sich nicht wiederholen sollten. So wurde gesteigerter Wert auf diszipliniertes Verhalten gelegt. Dies galt fortan als Prinzip. Wie diszipliniert die Anhängerschaft der Sozialdemokraten sich eingedenk der preußischen Drohkulisse zu verhalten wusste, beschrieb der Vorwärts während der Wahlrechtskampagne 1910, als er über die Aussage eines Polizeiwachtmeisters in einem Prozess gegen Demonstrierende berichtete: „Das war eine Ordnung – eine militärische Abteilung konnte überhaupt nicht besser marschieren“. Weiter hieß es: „Von den militärischen Sachverständigen aber, den auf der Zeugenbank sitzenden Gendarmen, machten die meisten zu dieser eidlich abgegebenen Bemerkung – ein ernstes Gesicht“ (Vorwärts 1910: 2).
Doch stieg in der organisierten Arbeiterbewegung kontinuierlich die Bereitschaft, die Straßen als Stätten basisdemokratischer Artikulation zu nutzen. Die Weigerung der Regierung Preußens, einem Antrag der liberalen „Freisinnigen“ gemäß, das Reichstagswahlrecht (gleiches Männerwahlrecht) auf Preußen zu übertragen, brachte die Sozialdemokratie in die Spur: Am 12.1.1908 gingen etwa 100.000 Menschen in Berlin gegen das Dreiklassenwahlrecht auf die Straße. Die Polizei ritt mit gezogenem Säbel gegen die Demonstrierende aus. Die Massenaufmärsche folgten auf Kundgebungen der Sozialdemokratie, die um 12 Uhr mittags begannen und gegen 14 Uhr beendet waren. Das Viertel um das Berliner Schloss glich einem „Kriegslager“. Etwa gegen 16 Uhr hatte die Polizei die Demonstrationen mithilfe von Waffengebrauch aufgelöst (Czitrich-Stahl 2018: 162f.). Zwar brachten die Protestaktionen auf der Straße das Dreiklassenwahlrecht in Preußen nicht zu Fall. Diese stärkten jedoch bei den Landtagswahlen, an denen die SPD zum zweiten Mal nach 1903 überhaupt teilnahm, die Partei insgesamt: Sie wuchs auf 23,9 % der Stimmen an und wurde stimmenstärkste Partei. Jedoch versagte ihr das indirekte Dreiklassenwahlrecht mehr als sieben Sitze. Es sollte erst 1918 durch die Novemberrevolution abgeschafft werden.
Von ihrem Erfolg ermutigt, führte die SPD 1910 eine erneute Massenkampagne „gegen das elendste aller Wahlsysteme“ in Preußen unter dem Motto des „Wahlrechtssturms“ durch. Sie initiierte am 13.2.1910 in ganz Preußen Massenversammlungen, meist zusammen mit Wahlrechtsdemonstrationen. Frauen, die weder das Wahlrecht besaßen noch überhaupt rechtlich gleichgestellt waren, nahmen an den Demonstrationen teil, wenngleich unterrepräsentiert. Allein in Groß-Berlin fanden 42 Wahlrechtsveranstaltungen statt. Nachdem die Polizei eine Großkundgebung im Treptower Park untersagt hatte, orientierte die SPD unter der Hand ihre Anhänger in Richtung Tiergarten, wo schließlich etwa 150.000 Menschen zu einer machtvollen Kundgebung der Arbeiterbewegung zusammentrafen (Weipert 2013: 103f.). Am 6.3.1910 schließlich organisierte die Sozialdemokratie Groß-Berlins den Kampagnenhöhepunkt ihrer Wahlrechtsbewegung. Dabei kamen im Tiergarten rund eine Viertelmillion Menschen zusammen. Die Polizei ging konfrontativ gegen die Demonstrierenden vor, so wurde etwa der Reichstagsabgeordnete Arthur Stadthagen durch einen Säbelhieb leicht verletzt (Czitrich-Stahl 2018: 165). Doch erbrachte weder diese Kampagne noch die bis 1913 folgenden eine Ablösung des Dreiklassenwahlrechts. Erst durch die großen Straßendemonstrationen am 9.11.1918, als eine halbe Million Menschen aus allen Richtungen von Berlin und Umgebung zum Reichstagsgebäude heranströmte, und in der Novemberrevolution Zeuge der Abdankung der Monarchie und der Ausrufung der Republik wurde, erkämpfte sich das arbeitende Volk das allgemeine, freie, gleiche und geheime Wahlrecht für Männer und Frauen.
Doch wie wurde eigentlich demonstriert? Die Prinzipien der Disziplin, der Solidarität und des proletarischen Selbstbewusstseins bestimmten die Choreografie einer Straßendemonstration. Die beinahe militärische Disziplin bei Demonstrationen kam nicht von ungefähr, sondern rührte von der allgemeinen Wehrpflicht im Reich. Aber auch die Notwendigkeit eines gemeinsamen Tempos spielte eine Rolle, genauso wie Einhaltung der durch den Verkehr bestimmten Regeln, damit niemand beispielsweise durch eine Straßenbahn zu Schaden kam.
Auffällig bei den meisten Demonstrationen war die Kleidung der Demonstrierenden. Nicht die Arbeitskleidung dominierte das Bild, sondern der „Sonntagsstaat“ mit Anzug und Hut beziehungsweise Zylinder. Als „Pöbel“ verstanden sich die Arbeiterinnen und Arbeiter wahrhaftig nicht. Frauen trugen meistens lange Röcke und oft einen Hut. Auch Kinder wurden mitgenommen. Nicht selten standen sich Polizei und Demonstrationsspitzen direkt gegenüber. Doch, wie Fotos aus jener Zeit wiedergeben, ließen sich die demonstrierenden Arbeiterinnen und Arbeiter nicht länger einschüchtern. Eine solche Situation wirkte sicher als Quelle sowohl für Solidarität als auch für proletarisches Selbstbewusstsein. Das gemeinsame Singen von Arbeiterliedern durfte nicht fehlen und stiftete Gemeinschaftsgefühl nach dem Motto „Mit uns zieht die neue Zeit“ (Ludwig-Uhland-Institut 1986).
Straßendemonstrationen trugen dazu bei, dass die „kleinen Leute“ sich durch organisatorische Stärke und die Kraft der Massen, begleitet vom Glauben an den mit ihnen ziehenden Fortschritt, den Herrschenden ebenbürtig zu fühlen lernten. Die Straße war nun nicht länger ein demokratiefreier Raum.
Bernstein, Eduard: Abschiedsflugblatt der Berliner Ausgewiesenen, November 1878, in: ders., Geschichte der Berliner Arbeiterbewegung, Bd. 2, Berlin 1907.
Czitrich-Stahl, Holger: Der Oppositionelle. Georg Ledebour (1850–1947). Linksliberaler – Sozialdemokrat – Linkssozialist, Berlin 2024.
Czitrich-Stahl, Holger: Preußische Wahlrechtskämpfe vor dem Ersten Weltkrieg. Das Dreiklassensystem als Gegenstand öffentlichen Proteste, in: Detlef Lehnert (Hrsg.): Wahl- und Stimmrechtskonflikte in Europa. Ursprünge – Neugestaltungen – Problemfelder, Berlin 2018, S. 149–166.
Hohorst, Gerd/Kocka, Jürgen/Ritter, Gerhard (Hrsg.): Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch. Materialien zur Statistik des Kaiserreichs 1870–1914, Bd. 2, München 21978.
Ludwig-Uhland-Institut für empirische Kulturwissenschaften (Hrsg.): Als die Deutschen demonstrieren lernten. Das Kulturmuster „friedliche Straßendemonstration“ im preußischen Wahlrechtskampf 1908–1910. Begleitband zur Ausstellung im Haspelturm des Tübinger Schlosses vom 24. Januar bis 9. März 1986, Tübingen 1986.
o. A.: Ordnungsrettung in Weißensee, in: Vorwärts, 14.5.1910, S. 2.
Sozialisten auf der Reis‘ (1896), in: Volksliederarchiv, o.D., URL: https://www.volksliederarchiv.de/sozialisten-auf-der-reis-auf-der-landpartie/ [26.8.2024].
Weipert, Axel: Das rote Berlin. Eine Geschichte der Berliner Arbeiterbewegung 1830–1934, Berlin 2013.