Die Beiträge stammen von Expert*innen aus den Bereichen der historisch-politischen Bildung, der Didaktik, der Geschichtsvermittlung und Erinnerungskultur in Gedenkstätten sowie der Games-Entwicklung. Die Organisation, Koordination und Zusammenstellung der Beiträge haben Lucas Haasis und Peter Färberböck vom Arbeitskreis Geschichtswissenschaft und Digitale Spiele übernommen.
Wie können wir uns an Ereignisse erinnern, die wir nicht erlebt haben? Kann Erinnerung spielbar sein? Wie kann Erinnerung interaktiv erfahrbar gemacht werden? Was tragen Spiele zur Erinnerungskultur an die NS-Terrorherrschaft bei? Diesen und weiteren Fragen widmete sich im September 2023 ein interdisziplinär besetzter Roundtable des Arbeitskreises Geschichtswissenschaft und Digitale Spiele am Beispiel des neuen Digitalen Remembrance Games „Erinnern. Die Kinder vom Bullenhuser Damm”, in dessen erstes Kapitel erste Einblicke gewährt wurden.
Die Gedenkstätte Bullenhuser Damm in Hamburg erinnert an 20 jüdische Kinder und an die mindestens 28 Erwachsenen, die am 20. April 1945 im Keller eines leerstehenden Schulgebäudes von der SS ermordet wurden. Vor ihrer Ermordung wurden die Kinder zu pseudomedizinischen Versuchen im KZ Neuengamme missbraucht. Das Spiel versetzt in die Perspektive von fünf Schüler*innen der Schule Bullenhuser Damm in den späten 1970er Jahren. In deren Rollen begehen Spielende unterschiedliche Pfade des Erinnerns, die aber alle mit der NS-Zeit und auch mit dem Ort des Verbrechens verknüpft sind. Durch die Interaktion mit anderen Menschen im Spiel und die Integration verschiedener Zeitebenen entsteht aus Sicht der spielenden Protagonist*innen ein persönliches Erinnerungsnarrativ.
Mit diesem Setting wird ein neuer Weg der Thematisierung der Verbrechen, aber auch ihrer Aufarbeitung, d.h. der Verortung und Verbildlichung der Erinnerung an die Gräuel des Nationalsozialismus, gewählt. Indem im Spiel eine zweite Zeitebene eingezogen wird – das Spiel weder zur Zeit des Nationalsozialismus noch heute spielt, sondern in den 1970er Jahren – wird unser mediales Gedächtnis, d.h. auch geläufige Geschichtsbilder zum Holocaust, zunächst irritiert. Das ermöglicht sowohl die Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen als auch mit deren Aufarbeitung und schafft neue Formen der Darstellbarkeit (zum medialen Gedächtnis vgl. Widmann 2023). Die gewählte Farbskala für das Setting entspricht der Lebenswelt der 1970er Jahre und steht im starken Kontrast zu Farbschemata, die üblicherweise in Spielen zur NS-Terrorherrschaft vorherrschen, und oft in Grau- und Schwarztönen gehalten werden. Inhaltlich bedeutet dieser Schritt, dass das Spiel in eine Zeit versetzt, in der die NS-Aufarbeitung auch in Hamburg gerade erst einsetzte, während die Erinnerungen der Älteren an die NS-Zeit zugleich noch sehr präsent waren. Das steht im krassen Kontrast zur Erfahrung heute, in der die Stimmen der Zeitzeug*innen immer mehr verstummen und dadurch neue Wege der Auseinandersetzung – wie durch ein Spiel – gefunden werden müssen.
Damals wuchs eine junge kritische Generation auf, die Fragen stellte und die fehlende Aufarbeitung der NS-Vergangenheit thematisierte. Genau in dieses Setting und in diese Spieler*innenperspektive versetzt uns das Spiel. Es entwickelt gerade über diesen unüblichen Alteritätseffekt einen Sog. Die Perspektive schafft zudem Anlässe, als Spieler*in den Prozess der Aufarbeitung und die eigene Rolle darin zu reflektieren. Entscheidend ist, dass die Erfahrung des Spielenden eine Parallele zur Erfahrung der Schüler*innen im Game darstellt und die jungen Menschen dadurch ermutigt, sich im Spiel über die zeitliche Distanz hinweg zu erkennen. Aufgrund dieser Zielsetzung wird das Spiel als Digital Remembrance Game bezeichnet.
Vielleicht wird gerade durch solche Entscheidungen im Game-Design ein Weg beschritten, der es erlaubt, in der Diskussion um die Rolle von Serious Games in Forschung und Bildung den Mehrwert aufzuzeigen, nach dem Felix Zimmermann in seinem Beitrag in dieser LaG-Ausgabe fragt, nämlich wie Spiele wie dieses zwar „nicht mit millionenschweren Blockbuster- Produktionen konkurrieren […], aber trotzdem für sich stehende, gelungene Spielerfahrungen bieten“ können. Mittels der Entwicklung eines Spiels zur Gedenkstätte des Bullenhuser Damms sollen neue Impulse der Vermittlungsarbeit in der Gedenkstätte und der digitalen Geschichtskultur geschaffen werden. Das Spiel soll den Besuch der Gedenkstätte nicht ersetzen, sondern ergänzen, neue Fragen anregen und die Auseinandersetzung mit der Gedenkstätte an die Lebenswirklichkeit der Besucher*innen anpassen, für die Digitale Spiele längst einen Teil ihres Alltags darstellen.
Digitale und analoge Spiele haben eigene Qualitäten der Vermittlung, gerade bezogen auf den Aspekt der Erinnerungskultur. Diese Qualitäten diskutierten die Teilnehmer*innen des Roundtables. Die Bedeutung, aber auch die Grenzen von Serious Games in der Vermittlung und die Charakteristika der Spielerfahrung waren ebenso Gegenstand der Diskussion wie die Wichtigkeit neuer Impulse in der Gedenkstättenpädagogik. Der Roundtable kann auf YouTube abgerufen werden. Die aus Perspektive der teilnehmenden Expert*innen wesentlichen Punkte sind im Folgenden verschriftlicht.
Veranstaltungsplakat des Roundtables. © Painbucket Games; Design: Alina Menten
Die Repräsentation historischer Ereignisse, insbesondere politisch so sensibler wie die Geschichte des Nationalsozialismus, stellt Spieleentwickler*innen vor eine große Herausforderung: Wie kann Geschichte interaktiv erfahrbar gemacht werden, ohne die Deutungshoheit durch Interaktionsmöglichkeiten so weit zu öffnen, dass Darstellungen in ihr Gegenteil verkehrt und missbraucht werden können (vgl. Pfister 2018)? Die Antwort auf diese Frage ist weder einfach noch eindeutig, berührt sie doch zwei der zentralen medialen Eigenschaften Digitaler Spiele, Prozeduralität und Partizipation (vgl. Murray 1997: 71). Gerade darin liegt aber auch das Potenzial Digitaler Spiele: den Akt der Konstruktion von Geschichte, also die Geschichtsschreibung und Erinnerungskultur selbst, zu thematisieren. „Erinnern. Die Kinder vom Bullenhuser Damm“ stellt genau diese Konstruktion und die Erinnerung über Generationsgrenzen hinweg in den Mittelpunkt seiner narrativen und visuellen Erkundung von Geschichte.
Dafür bedient sich das Spiel eines interessanten erzählerischen Kniffs: Anstatt die Handlung direkt in der thematisierten Vergangenheit von 1945 oder in einer nicht näher spezifizierten Gegenwart anzusiedeln, spielt es in den späten 1970er Jahren, wo die Spieler*innen die Kontrolle über eine Reihe fiktiver Figuren übernehmen. Auf diese Weise wird zum einen erzählerische Freiheit gewonnen, da man nicht an reale Biografien gebunden ist. Zum anderen kann durch die Ansiedlung der Handlung in den 1970er Jahren der Einfluss des zeitgeschichtlichen Kontextes auf das Verständnis und den Umgang mit Geschichte thematisiert werden. So wird vermieden, dass durch eine Verortung der Handlung im Jahr 1945 der Eindruck einer Darstellung von Geschichte „wie es eigentlich gewesen [ist]“ (von Ranke 1885: VII) entsteht. Stattdessen wird das Entdecken der Vergangenheit als Prozess dargestellt, der schließlich in einem spezifischen, aber nicht singulären Geschichtsverständnis mündet. Dadurch, dass die Hauptfiguren in den 1970er Jahren leben, wird implizit auch kommuniziert, dass der Prozess des Erinnerns und der Geschichtsschreibung nicht final abgeschlossen werden kann, sondern der aktiven Beteiligung bedarf, was gerade für die Erinnerungskultur des Holocaust und der Verbrechen des NS-Regimes von zentraler Bedeutung ist.
„Erinnern. Die Kinder vom Bullenhuser Damm“ zeigt den Akt des Erinnerns als Suche nach Spuren der Vergangenheit, denen man ähnlich wie Detektiv*innen folgt. Dieser Vergleich wird gerne genutzt, um die Aufgaben von Historiker*innen anschaulich zu machen. Er hinkt allerdings insofern, als man als Historiker*in weniger nach der ultimativen Wahrheit sucht, sondern vielmehr gemeinsam mit einem großen Netzwerk von Geschichtsschreiber*innen das Verständnis und die Wirklichkeit von Geschichte immer wieder neu formiert. Entsprechend wird unser Verständnis der Vergangenheit geformt: nicht nur als Entdeckung der Vergangenheit, sondern als Verantwortung, die sich aus der Vergangenheit in der Gegenwart für die Zukunft konstituiert. Ich verstehe Spuren der Vergangenheit hier also nicht als eindeutige Zeugnisse einer konkreten Vergangenheit, sondern als Verweis auf etwas, das sich verschiebt, sich auflöst und dessen Erlöschen zu seiner Struktur gehört (vgl. Derrida 1990: 107). Spuren müssen stets neu gefunden, kontextualisiert und interpretiert werden, sonst wird das, worauf sie verweisen, zusammen mit den Spuren selbst aus unserer Erinnerung verschwinden.
In diesem Sinne leistet „Erinnern. Die Kinder vom Bullenhuser Damm“ erzählerisch einen wesentlichen Beitrag, wie man die politisch hochsensible Vergangenheit der NS-Diktatur mit Spielen thematisieren kann. Voll ausgeschöpft wird die prozedurale und partizipative Natur von Spielen zwar nicht – das Spiel bleibt ein lineares Point & Click-Erzählspiel mit wenig Raum für individuelle spielerische Entfaltung –, doch ist dies gerade in Anbetracht des Themas verständlich.
Dass Digitale Spiele in der Praxis zunehmend als Erinnerungsmedien eingesetzt werden, ist in meinen Augen eine positive und notwendige Entwicklung: Erinnerungskulturen haben den Anspruch, dass sie lebendige Kulturen sind – kulturelles Erinnern sollte daher mit den gegenwärtigen Lebensrealitäten der nachgeborenen Generationen verknüpft werden: mit den Realitäten der heutigen Pädagog*innen und Lehrer*innen, die den Appell zur verantwortungsvollen Weitergabe weitervermitteln, wie auch mit der Realität der heutigen jungen bzw. jugendlichen Generation, die zukünftig die Erinnerungskulturen mitgestalten werden. Dass sich entsprechende Spielkonzepte weiterentwickeln, ist ebenso eine positive Entwicklung. Denn zwar mögen gerade historisch-immersive Atmosphären in Games das Gefühl eines eigenen Geschichtsverständnisses erzeugen, doch beschränkt sich dieses letztlich auf eine ‚gefühlte‘ Nähe im Spielakt. Deshalb kann eine Reflexion der Spielenden über die spielerisch erlebte Vergangenheit in der Regel erst über einen entsprechenden Begleitkontext erfolgen, nicht über das Spiel selbst. Ein solcher Begleitkontext kann sich ganz unterschiedlich gestalten, z.B. als pädagogisch angeleiteter Workshop, in dessen Rahmen das Spiel eingesetzt wird. Niederschwelliger kann es sich jedoch ebenso z.B. um den Einsatz von bereits entwickelten Begleittexten, wie z.B. das Handbuch „Erinnern mit Games“ der Stiftung Digitale Spielekultur, handeln.
Umso fruchtbarer erscheint mir eine Entwicklung, die sich mit„Attentat 1942“ als prominentem Beispiel seit 2017 im Erinnerungsdiskurs verankert, und die sich nun auch im Spiel „Erinnern. Die Kinder vom Bullenhuser Damm“ zeigt: die Vermengung eines eher gegenwärtigen, aber letztlich „erinnernden“ Spielsettings und einer erinnerten Vergangenheit in der Spielwelt. In beiden Spielen steht die Begegnung von Gegenwart und Vergangenheit im Vordergrund, indem Biografien aus dem Familiengedächtnis nachgespürt wird. Die Spieler*innen-Handlungen lassen die Verflechtungen von Geschichte und Gegenwart zutage treten; die Vergangenheit selbst tritt nur fragmentiert als Spur von Erzählungen in Erscheinung. Besonders gelungen erscheint dabei, dass sich der Spielraum durch die erzählten Zeugnisse verändert, die Geschichte visuell in den Raum der vermittelten Gegenwart eintritt.
Darin zeigt sich, wie unmittelbar Vergangenheit und Gegenwart ineinandergreifen und sich gegenseitig beeinflussen. Im Spielraum tritt die Geschichte als wörtliches Fundament der erzeugten Welt in Erscheinung. Zugleich geschieht dies nur in solchen Augenblicken, in denen die Erzählungen in der Spielgegenwart den Raum geben, darauf zu sprechen kommen. „Erinnern. Die Kinder vom Bullenhuser Damm“ illustriert damit höchst anschaulich das Wechselverhältnis von Gegenwart und Vergangenheit: Die Geschichte ist nicht abgeschlossen, sondern ragt überzeitlich in unsere heutigen Lebensrealitäten. Zugleich beeinflussen unsere heutigen Handlungen, Entscheidungen und Perspektiven, welche Ausschnitte aus der Vergangenheit sichtbar gemacht werden und somit Raum erhalten. Das für mich zentrale Potenzial von Digitalen Spielen als Erinnerungsmedien liegt eben darin, diese Verschränkung von Gegenwart und Vergangenheit mit den Spieler*innen-Handlungen zu verknüpfen. Dabei gestalten sich diese Handlungen in Tradition von bereits in den Erinnerungskulturen verankerten Tätigkeiten, die sich im weitesten Sinne als „bezeugende“ Tätigkeiten begreifen lassen: die Gespräche mit der Familie, die historische Recherche wie auch die Auseinandersetzung mit Erinnerungsorten. Dies alles sind bereits erinnerungskulturell kodierte Handlungen, derer es bedarf, um Erinnerungskulturen weiterzuführen. „Erinnern. Die Kinder vom Bullenhuser Damm“ klärt somit über das Schicksal der historischen Opfer auf und skizziert verschiedene Erinnerungsorte wie auch Formen (die Bibliothek, die Plakette in der Schule etc.). Wichtiger erscheint mir jedoch der Aspekt, dass die Spielenden in ihrer Rolle als transgenerationell involvierte Akteur*innen die Erfahrung erinnerungskultureller Teilhabe machen; sie agieren aus derPosition von distanzierten Zeug*innen, indem ihre Spielehandlungen erinnerungskulturell bezeugende Handlungen nachahmen. So erfahren sich die Spielenden selbst als sinnstiftend und letztlich verantwortungsvoll involviert in die Aufarbeitung der traumatischen Vergangenheit (vgl. Widmann 2023).
Freilich bleibt die tatsächliche Handlungsmacht über die relativ lineare Handlungsführung eingeschränkt – dies ist aber im Rahmen des Formats nachvollziehbar. Eine spannende Frage ist zum jetzigen Zeitpunkt, inwiefern aus den verschiedenen, mitunter transnationalen Spiel-Perspektiven womöglich Widersprüche in der erspielten Geschichte erwachsen und wie mit diesen umgegangen wird. Bleiben sie als Grauzonen oder Leerstellen erhalten oder werden sie in einem eindeutigen, erfolgreichen Spielabschluss aufgelöst? Dies ist einer der Aspekte, wo an der Schnittstelle vom Medium Digitales Spiel und den Erinnerungskulturen noch kreative Lösungen gefunden werden müssen: Denn Spiele sind in der Regel aufs Gewinnen ausgelegt. Zugleich bringt kulturelles Erinnern selten eindeutige, abgeschlossene Narrative hervor. Vielmehr sperrt es sich gegen einen umfassenden und erfolgreichen Abschluss der Aufarbeitung der Vergangenheit, in der Metapher des Spiels also ein umfangreiches „Gewinnen“. Diesem Widerspruch fruchtbar zu begegnen, ist eine der wichtigsten Herausforderungen, der sich Digitale Spiele als kulturelles Erinnerungsmedium insgesamt noch bewusster werden stellen müssen.
Der Zweite Weltkrieg ist seit Jahrzehnten ein fester Bestandteil der Gameskultur (Pfister 2018). Trotzdem ist es ein relativ junges Phänomen, dass innerhalb dieses Mediums offen über die von den Nationalsozialisten verübten Verbrechen gesprochen wird. Dieses heiße Eisen wollte man – ähnlich wie die Verbrechen im Zuge des Kolonialismus und des europäischen Imperialismus oder der Sklaverei – lange nicht anfassen. Dass sich das nun ändert, ist begrüßenswert. Ebenso begrüßenswert ist, dass immer mehr Akteure der Erinnerungskultur das Medium Digitales Spiel als eine Möglichkeit sehen, wie Wissen an ein digital affines Publikum weitergegeben werden kann. Mit „Erinnern. Die Kinder vom Bullenhuser Damm“ reiht sich die Gedenkstätt Bullenhuser Damm der KZ-Gedenkstätte Neuengamme in eine Entwicklung ein, die im deutschsprachigen Raum von der Gedenkstätte Wehnen e.V. mit dem Remembrance Game „Spuren auf Papier“ und durch das Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände mit dem Titel „Behind the Scenes: Nuremberg `34“ angestoßen wurde.
Diese Entwicklung hilft dem Medium Digitales Spiel, mehr politische Relevanz zu erlangen und zu zeigen, dass Games in der Lage sind, ernsthafte Inhalte zu vermitteln und mit ihnen umzugehen. Institutionen der Erinnerungskultur und Spiele-Entwickler*innen arbeiten hierbei zusammen. Da dies jedoch eine sehr junge Entwicklung ist und sich die Anzahl an gelungenem Referenzmaterial zur Orientierung in Grenzen hält, liegt eine große Verantwortung auf den Schultern der an der Entwicklung beteiligten Akteur*innen. Die sensible Thematik der NS-Verbrechen stellt sie vor verschiedene spielkonzeptionelle Herausforderungen: Welche Perspektive nehmen die Spielenden ein? Welche anderen Perspektiven sollen gezeigt werden? Ist der Avatar des Spiels Zeitzeug*in oder nicht? Wie konkret oder abstrahiert erfolgt die Konfrontation mit NS-Verbrechen und ihre Darstellung? Wie stark ist der Interaktionsrahmen eingeschränkt? Was erfährt man über die Täter*innen und deren Ideologie(n)? Fragen, die, da sie einen Genozid behandeln, eine gründlichere Recherche und sorgfältigere Überlegungen erfordern als ohnehin schon. Hier bringen die Akteur*innen der Gedenkstätte Neuengamme und das Entwickler*innenstudio Paintbucket Games freilich ausreichend Erfahrung und Expertise mit, so dass das Projekt in guten Händen liegt.
Gerade der letztgenannte Aspekt – die Darstellung der Täter*innen und die Behandlung ihrer Ideologie – ist ein heikler Punkt. Es ist nachvollziehbar, dass die Leidensgeschichten der Opfergruppen erzählt werden sollen, was im Fokus vieler Projekte stand und steht. Um die Öffentlichkeit mit diesem sensiblen Thema innerhalb Digitaler Spiele vertraut zu machen, ist dies auch ein kluger Schritt. Doch dabei darf es nicht bleiben. Die Täter*innenseite, ihre Ideologie und Biografien, zu beleuchten, ist für ein Verständnis ihrer Verbrechen unumgänglich. Der Blick auf die Verbrechen aus dem Blickwinkel der Opfer tendiert dazu, Täter*innen als Monster darzustellen. Nachvollziehbar, denn das, was passiert ist, war monströs. Aber die Täter*innen waren keine Monster, sondern Menschen mit eigenen Motiven und Ideologien. Eine Entmenschlichung der Täter*innen verharrt in einem moralischen Urteil und lädt dazu ein, die Frage nach den Ursachen und Dynamiken von Faschismus und Genozid auszuklammern und zu externalisieren. Das führt zu einer Entlastung der damaligen und der gegenwärtigen Gesellschaft nach dem Motto: „Das waren nicht wir, das waren Monster und keine Menschen. Uns kann das nicht passieren.“
Dies ist mitnichten ein Plädoyer zur Entwicklung eines Spiels, in dem man aus der Perspektive der Täter*innen die begangenen Verbrechen ‚nachspielen‘ kann. Dies sollte auch in Zukunft nicht möglich sein. Es ist eher ein Aufruf zur Diskussion an die Games-Branche, die Öffentlichkeit und die Wissenschaft: Es ist notwendig, sich zu überlegen, wie im Medium Digitales Spiel Täter*innen in Zukunft dargestellt werden könnten, um Täter*innen-Karikaturen wie in „Wolfenstein II – The New Colossus“ (2017, Bethesda) oder grobe Schnitzer wie in „Company of Heroes3“ (2023, Relic Entertainment) in Zukunft zu vermeiden (vgl. Fischer 2023).
Digitale Spiele nicht nur als Freizeitbeschäftigung, sondern auch als Medien der historisch-politischen Bildung zu begreifen, ist ein Ansatz, der enorme Chancen und ebenso große Herausforderungen birgt. Zunächst ist es unwichtig, ob es sich um ein Serious Game mit starken Vermittlungsaspekten handelt oder um ein Produkt, das mit einem großen Budget für einen stetig wachsenden Markt konzipiert wurde und eben nicht in allererster Linie in Bildungskontexten verwendbar ist. Finden sich darin historische Themen, Personen und/oder Ereignisse, sind sie erst einmal interessant, geben die den Spielen eingeschriebenen Narrative uns doch Aufschluss über den Umgang mit Geschichte innerhalb der Gesellschaft.
Digitale Spiele werden zunehmend auch von Gedenkstätten entdeckt, wobei sie hier vor allem neue und immersive Wege oder Perspektiven eröffnen sollen, die ansonsten nicht so einfach umzusetzen sind – oder, um es mit den Worten der Alfred Landecker Foundation zu sagen, „Wie können wir uns an Ereignisse erinnern, die wir nicht erlebt haben?”
„Erinnern. Die Kinder vom Bullenhuser Damm“ thematisiert ein Kriegsendphasenverbrechen der SS in der Nacht zum 21. April 1945, begangen an 20 jüdischen Kindern, zwei niederländischen Pflegern, zwei französischen Ärzten und 24 sowjetischen Kriegsgefangenen. Die Abscheulichkeit dieser Tat offenbart gleichzeitig das Problem ihrer (digitalen) Aufarbeitung: Wie will man dieses Thema einer breiten jungen (und älteren) Öffentlichkeit über das Medium Spiel zugänglich machen? Wie die Balance wahren zwischen der Darstellung der Ereignisse, der würdevollen Erinnerung an die Opfer dieses Verbrechens, der Initiierung von Lernprozessen und der damit verbundenen Wahrung des Beutelsbacher Konsens (vgl. Schiele/Schneider 1977)?
Diesen Fragen muss sich gestellt werden – vor allem, weil nach wie vor viele Menschen den Einsatz Digitaler Spiele im Zusammenhang mit Gedenk-, Erinnerungs- und Geschichtskultur kritisch sehen. Bei der Beantwortung muss ein Augenmerk auf dem spielinternen Mechanismus liegen, der einen zeitlichen Perspektivwechsel vorsieht. Ob über die Verbindung verschiedener Erzähl- und Zeitlinien auch tatsächlich ein ‚Einfühlen‘ und ‚Hineinversetzen‘ in Erinnerungen und Emotionen möglich wird, wird die Praxis zeigen. Es ist eine Frage, die nicht nur eine Herausforderung für Medien jeglicher Art, sondern auch für Institutionen wie Gedenkstätten etc. im Allgemeinen darstellt (für die Problematik des Umgangs mit Gedenkstätten in diesem Kontext vgl. Pampel 2007). Es bleiben bezüglich des Spielkonzepts also noch Fragen offen und die Alfred Landecker Foundation muss zusammen mit ihren Kooperationspartner*innen zeigen, dass sie den eigenen hochgesteckten Ansprüchen gewachsen ist – ein bezüglich des Themas Nationalsozialismus äußerst erfahrenes Entwickler*innenstudio konnten sie ja bereits gewinnen.
Das Medium Digitales Spiel erfährt in den letzten Jahren immer mehr Zuwendung. Vor allem im Bereich der schulischen und außerschulischen Bildung beweist es großes Potenzial: Junge Menschen greifen in hohem Maße auf dieses Medium zurück. Dabei wünschen sie sich oft einen Bezug zur Gegenwart, um nicht nur Fakten zu lernen, sondern um reflektieren und somit Geschichte begreifen zu können. Um dies zu ermöglichen, arbeiten Digitale Spiele mit verschiedenen Spielmechaniken. Ein grundlegendes Element ist Interaktion: mit der Spielwelt, den Charakteren, Objekten und anderen Spieler*innen. Das Digital Remembrance Game „Erinnern. Die Kinder vom Bullenhuser Damm“ setzt diese Spielmechanik ein, um der Leitfrage des Projekts – „wie kann Erinnerung interaktiv erfahrbar gemacht werden?“ – gerecht zu werden. Das Spiel soll Jugendlichen und jungen Erwachsenen ermöglichen, Bezüge zwischen der Vergangenheit und ihre eigenen Erfahrungen herzustellen.
Daneben steht das Konzept des Erinnerns im Mittelpunkt: Das eigene Erleben der Gegenwart bezieht sich hier nicht nur auf den Ort, sondern auch auf intergenerationelles Erinnern. Man könnte also weiterführend die Frage einbringen: Wie erinnern sich unsere Eltern und Großeltern? Durch das Interagieren mit anderen Generationen im Spiel wird eine Verbindung zur Vergangenheit hergestellt, die auditiv, visuell und kommunikativ erfolgt. Durch diese Kommunikationsebenen ergibt sich ein Bild unterschiedlicher intergenerationeller Erzählungen: Das Erinnern der Großeltern etwa zeigt ein womöglich eher generalisiertes Bild, das mit eigenem Sinn versehen und somit verändert werden kann (vgl. Moller 2010). Erinnerungen sind darüber hinaus immer subjektiv, da jeder Mensch „andere, subjektiv bedeutsame Ausschnitte der Wirklichkeit“ wahrnimmt (ebd.).
Durch Erzählungen anderer Charaktere wiederum erfahren die Spielenden ein eher faktenbasiertes Erinnern. Gleichzeitig haben sie die Chance, Vergangenheit und Gegenwart gleichzeitig zu erleben: Dadurch, dass das Setting in den 1970er-Jahren angesiedelt ist, wird möglich, die Vergangenheit der Eltern in der gespielten Welt als Gegenwart kennenzulernen und diese auf die eigene Gegenwart außerhalb des Spiels zu beziehen. Durch das Erinnern der verschiedenen Generationen in Form von Interaktion verknüpft das Spiel verschiedene Wahrnehmungen von Vergangenheit und Gegenwart und erweist sich somit auf mehreren Ebenen als Verbindung zwischen Vergangenheit(en) und Gegenwart(en).
Innerhalb des Spiels ist es den Spielenden aufgrund der Interaktionsmechanismen möglich, zu entscheiden, was sie tun und was sie hören wollen. Dadurch lernen sie nicht nur historische Fakten, sondern sie treffen eigene Entscheidungen und gestalten Erinnerungskultur mit. Durch das Hören, Sehen und den Austausch werden zudem verschiedene Lerntypen angesprochen. Dies führt auch zur Mitgestaltung und zum Erleben von Geschichte. Ein wichtiger Aspekt eines interaktiven Mediums ist demnach, dass nicht nur (passiv) Sachwissen vermittelt, sondern ein Transfer geschaffen wird, der die unmittelbare Anwendung des neuen Wissens fordert.
Bevor mit dem Inhalt eines Digitalen Spiels interagiert wird, rezipieren Spielende immer erst eine mediale Präsentation des Spiels. Diese muss ein intrinsisches Interesse bei den Betrachtenden wecken, sie müssen motiviert und überzeugt werden, Zeit in das spezifische Spiel zu investieren. Während für die meisten Digitalen Spiele Atmosphäre, Spektakel und Thema maßgebende Kriterien sind, müssen Spiele mit dem explizit formulierten Ziel der Wissensvermittlung auf andere oder zusätzliche Faktoren zurückgreifen, um Relevanz über ihr Thema hinaus zu erzeugen. Typisch hierfür ist die Kennzeichnung mit dem Begriff Serious Game, der einerseits das explizite Ziel der Wissensvermittlung verdeckt, andererseits durch die Betonung einer vermeintlichen Ernsthaftigkeit eine kulturelle Aufwertung enthält. Letzteres ist sowohl für die externe Finanzierung digitaler Spielprojekte als auch für die potenzielle Einbindung in Schule und institutionelle Bildungsangebote von Bedeutung. Und so finden sich im deutschsprachigen Kontext diverse Digitale Spiele zur NS-Zeit oder zur deutsch-deutschen Geschichte, welche auf diese Weise Ernsthaftigkeit für sich beanspruchen.
Im Hinblick auf „Erinnern. Die Kinder vom Bullenhuser Damm“ fällt daher die Abwesenheit des Begriffs Serious Game auf. Stattdessen begegnen wir der Bezeichnung des Digital Remembrance Games. Ungleich deutlicher als das vage bleibende Serious Game formuliert dieser Begriff, was Spielende erwartet: eine digitale Praxis der Erinnerungskultur.
Dennoch muss die sprachliche Repräsentation des Spiels kritisch hinterfragt werden, wird hier doch weiterhin ein spielerisches Potenzial für Wissensvermittlung evoziert. Dafür soll hier, basierend auf Bart Simons Ansatz zur Unseriousness (Simon 2017) Digitaler Spiele, eine zusätzliche Perspektive geliefert werden, welche sich nicht auf den Prozess des Spielens selbst bezieht, sondern auf konstruierte Erwartungshaltungen und die damit verbundene Repräsentation des Spiels.
In Bezug auf die Perspektive von Forschenden und Lehrenden stellt Simon die Kernfrage: „Why do we take games more seriously than most of the folks who play with them?“ (Simon 2017: 610). Der professionelle Diskurs zum Digitalen Spiel und seinem Potenzial ist bestimmt von dem Versuch, dessen positive und produktive Einflüsse auszumachen, was sich in der Sprache über sogenannte Educational Games, zu welchen ich folgend „Erinnern“ zähle, niederschlägt. Es werden wiederholt die neuen Möglichkeiten der Reflektion und Wissensaneignung für Spielende betont, welche durch das Medium geschaffen werden. Gleichzeitig ignoriert diese These die inhärente Natur des Spiels: den bewussten temporären Ausbruch aus der Produktivität (Simon 2017: 614). Sind Digitale Spiele also für die Wissensvermittlung ungeeignet? Während sich diese Frage theoretisch einfach verneinen lässt, sollte sie aber dennoch kritisch reflektiert und beantwortet werden. Folgend betrachten wir hierfür konkrete Beispiele.
Die in „Erinnern“gewählte Ansprache richtet sich meist nicht an individuelle Spielende, sondern an Lehrende und Anleitende in der Bildungsarbeit, was bereits auf ein angeleitetes Spiel hindeutet. Dem Gedanken der Unseriousness des Digitalen Spiels folgend, sollte jedoch versucht werden, die Spielenden selbst anzusprechen und eine intrinsische Motivation zu erzeugen. Besonders, da „Erinnern“ theoretisch dieses Potenzial zur Motivierung enthält, aufgrund seines Schwerpunkts auf die Mechanik des Erkundens, auf die nahezu detektivische Interaktion mit der Vergangenheit. Eine subjektive und nicht fremdmotivierte Auseinandersetzung wird so möglich, zumindest wenn im Vorfeld versucht wird, individuelle Spielende anzusprechen, was allerdings eine vollkommen andere Rhetorik erfordertals die Ansprache von Lehrenden. Hierzu, also im Kontext der sprachlichen Analyse, muss ein Kernaspekt kritisiert werden. So formuliert die Alfred Landecker Foundation mit konkretem Bezug auf „Erinnern“, aber auch zum Potenzial Digitaler Spiele allgemein: „Wie kein anderes Medium rücken sie die Möglichkeit der Interaktion, der Veränderbarkeit und des Handlungsspielraumes der Benutzerinnen und Benutzer in den Vordergrund.“ Hier begegnen wir einem üblichen Fehler in der Repräsentation von Educational Games: die reine Präsenz interaktiver Elemente im virtuellen Raum und Spielen als Prozess werden undifferenziert gleichgesetzt. Denn in der spielerischen Realität folgt „Erinnern“ der typischen Mechanik von Educational Games mit stark beschränkter Handlungsmacht und linearer Erzählung (siehe hierzu weiter oben auch Tabea Widmann) und widerspricht so fast vollständig dem formulierten Versprechen. Die erzeugte Erwartung kann nicht befriedigt werden, was in der nachträglichen Reflektion potenziell zu einer Abwertung der Sinnhaftigkeit des Mediums für die Wissensvermittlung führen kann.
Dieser kurze Blick auf die Rolle von begrifflichen Etiketten bei der (Re-)Präsentation von Digitalen Spielen soll verdeutlichen, dass eine kritische Reflektion auch der Begleittexte unabdingbar ist, um keine falsche Erwartungshaltung aufzubauen. Keinesfalls soll diese kontextgebundene Kritik den Wert von „Erinnern“ herabwürdigen, sondern vielmehr als Anregung dienen, die Rezeption von Begrifflichkeiten und durch sie erzeugte Erwartungshaltungen zu antizipieren und auf eine mediengerechte und reflektiere Sprache zur Vermittlung hinzuarbeiten.
Von Gedenkstätten (mit-)entwickelte Spiele, wie etwa „Forced Abroad“ oder „Spuren auf Papier“, entstehen bisher – soweit man dies von außen nachvollziehen kann – innerhalb von kurzen Projektlaufzeiten und mit kleinem Budget. Dadurch war weder eine systematische wissenschaftliche Begleitung der Projekte möglich, noch kann nach Veröffentlichung der Spiele auf etwaige Protokolle oder andere Dokumentationen der Entwicklung zurückgegriffen werden. Solche Projekte zehren im hohen Maße vom Engagement der daran arbeitenden Personen, die über ihren Stellenumfang hinaus tätig werden (müssen). Ein Hauptgrund dafür ist in der Finanzierungsgrundlage von Gedenkstätten zu suchen, die in der mittlerweile völlig veralteten Gedenkstättenkonzeption des Bundes von 1993 fest- und 2008 fortgeschrieben, und bis dato nicht an die Bedingungen einer durch die digitale Transformation veränderten Ausgangslage angepasst wurde. Damit einher gehen – soweit von außen feststellbar – nur schwach institutionalisierte Formate, in denen sich Gedenkstätten über die Entwicklung von Digitalprojekten austauschen können.Es gibt zwar größere Veranstaltungen, wie das sogenannte Gedenkstättenseminar, doch ist hier bislang wenig Austausch möglich. Ein erster Versuch, ein weiteres Format zu etablieren, war das Barcamp „Erinnerung und Digitales“, welches 2022 in der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück, 2023 in der Gedenkstätte Dachau stattfand. Der fehlende Austausch wurde zuletzt auch bei der Veranstaltung des Forschungslabor Spur.lab zur Ausstellungseröffnung der Ausstellung „Digitale Wege in der Erinnerungskultur“ moniert.
Dass die Förderung der Alfred Landecker Foundation im Fall von „Erinnern. Die Kinder vom Bullenhuser Damm“ eine Laufzeit von zwei Jahren hat, ist also bemerkenswert. Wünschenswert wäre allerdings eine höhere Transparenz hinsichtlich der Entscheidungsfindung im Auswahlverfahren und des Förderantrags. Erfreulich ist aber, dass Markus Bassermann, Projektleiter und Koordinator des Spiels, das Netzwerk Erinnerungskultur und Digitale Spiele (dem ich angehöre) ins Leben gerufen hat, bei dessen erstem Arbeitstreffen die Erfahrungen der Teilnehmenden, die selbst innerhalb ihrer Institutionen für die Entwicklung von Spielen verantwortlich sind, aktiv eingeholt wurden. Bei der Entwicklung des Spiels ebenfalls positiv zu bewerten ist die Miteinbeziehung des Arbeitskreises Geschichtswissenschaft und Digitale Spiele (wobei ich als Mitglied des Arbeitskreises natürlich voreingenommen bin) sowie die frühe Einbeziehung von Lehrkräften, die das Spiel auf seine Praxistauglichkeit hin bewerten sollen und sich mit Verbesserungsvorschlägen einbringen können. Auch wenn sich aus dem bisher vorliegenden Material nicht abschließend beurteilen lässt, inwieweit Spielenden mehr Handlungsmacht als in bisher produzierten Spielen zugestanden wird, ob sie Erinnerungen unvollständig oder „falsch“ rekonstruieren können, oder wie differenziert die Darstellung von Täter*innen ausfallen wird, ist bereits klar, dass mit diesen Aspekten wiederkehrende Probleme für Entwickler*innen solcher Spiele beschrieben sind und dass der hier eingeschlagene Weg zwar originell ist, aber vermutlich auch nicht das volle Potenzial des Mediums auszuschöpfen vermag. Mit Blick auf die Gedenkstättenlandschaft und die beschriebenen Rahmenbedingungen für solche Projekte, die sich auf absehbare Zeit nicht gravierend ändern werden, wäre es deswegen wünschenswert, wenn die hier gewonnenen Erfahrungen weiterhin geteilt werden würden und sich das erwähnte Netzwerk fest etablieren würde.
Serious Games erfüllen eine wichtige Funktion im Bildungssystem (einen guten Überblick bieten Behnke 2022 und Göbel 2020). Bei aller berechtigten Kritik am Begriff und Konzept des ernsten Spiels, geht es doch zuvorderst darum, das Medium Spiel als Lernmedium in Bildungsinstitutionen zunächst einmal zu verankern, wovon wir noch weit entfernt sind (neue empfehlenswerte Publikationen zum Thema Games in der Schule: Stiftung Digitale Spielekultur 2022; Lenz/Nolden 2022; Bernsen/Behnke 2022; mit empirischer Basis: Rüth/Birke/Kaspar 2022; siehe auch den Beitrag von Sabrina Pfefferle in dieser Ausgabe). Im deutschen Schul- und Hochschulsystem – auch wenn es der Serious Game-Boom anders erwarten lässt – sind Spiele immer noch nicht im Kanon der Lernmedien angekommen. Die Herausforderung, dies zu ändern, kann aber nur in der Praxis gemeistert werden – und dabei helfen Serious Games. Erst wenn Spiele in der Schule selbstverständlich werden, sind wir an dem Punkt angelangt, an dem wir uns über zu viele Serious Games beschweren können. Zuvor sollten wir begleiten, beraten, testen, durchaus kritisieren, aber vor allem spielen, spielen, spielen. Im Rahmen des Projekts in der Villa Geistreich und der Lehramtsausbildung in Oldenburg versuchen wir deshalb, Lehrkräfte und Lehramtsstudierende so früh wie möglich mit dem Einsatz von Games im Geschichtsunterricht vertraut zu machen (weitere praxisbasierte Ansätze bei Katharina Sambeth und Björn Hennig oder Christoph Kehl in Jena; vgl. auch Pauli 2023. Seit Jahren ein Vorreiter auf dem Gebiet ist das GameLab Wien, geleitet von Alexander Preisinger).
Indes: Dass das Thema Spiele im Unterricht überhaupt in der Gesellschaft präsent und auf gewisse Weise auch bei Geldgebern salonfähig geworden ist, ist das Verdienst von Serious Games – gerade auch, weil der Begriff als Etikett funktioniert. Wenn derzeit also ein Serious-Games-Boom besteht, ist das zuallererst eine positive Entwicklung – auch wenn sich natürlich das jeweilige Spiel, wie jedes andere Lernmedium auch, für den Unterrichtskontext anbieten und sich darin auch bewähren muss (so auch Preisinger 2021).
Aus den Schulprojekten, die ich in den letzten Jahren begleiten durfte, kann ich jedoch berichten, dass der Einwand, Serious Games wären ernüchternd, böten keine richtige Spielerfahrung oder würden von Schüler*innen nicht angenommen, nicht zutrifft. Schüler*innen, die mit Spielen im Unterricht arbeiten (dürfen), sind vielmehr glücklich darüber, über dieses Thema, das sie im Alltag viel beschäftigt, im kompetenten Rahmen Schule überhaupt sprechen zu dürfen – und ihre Eltern sind froh, dass es dort und nicht nur zuhause thematisiert wird. Der Fakt, dass die Schüler*innen oft im Spielen geübter sind als die Lehrkraft, sollte nicht als Hindernis aufgefasst werden (häufig wird dieses Argument als Begründung für den Nicht-Einsatz verwendet), sondern als Chance: Denn als Expert*innen adressiert zu werden, ist für die Schüler*innen ein großer Anreiz zur Auseinandersetzung mit Spielen, dem eigenen Spielverhalten und Wissen (vgl. auch Simonović 2020). Jegliche „Bildungsarbeit kann [...] von ihrem Einsatz [also] nur profitieren, da dieser bedeutet, die Lebenswirklichkeit von jungen Menschen zu bejahen [...]“, beschreibt es Çiğdem Uzunoğlu, Geschäftsführerin der Stiftung Digitale Spielekultur, treffend (Uzunoğlu 2019: 5).
Deshalb ist es Studios wie Paintbucket Games hoch anzurechnen – gerade, weil sie meist mit verhältnismäßig wenig Budget für die Spiele ausgestattet sind –, dass sie sich der Aufgabe stellen, entsprechende Spiele zu entwickeln. Es ist der Kreativität der Entwickler*innen geschuldet, dass diese dann auch noch Spaß machen, ein Aspekt, der nicht außer Acht gelassen werden sollte. Solche Spiele zu entwickeln, geht mit Verantwortung einher, nicht nur bezogen auf die historischen Inhalte, die recherchiert werden müssen und an denen sich das Spiel neben den Mechaniken messen lassen muss, sondern auch mit einer Verantwortung für die Zukunft dieser Art von Spielen.
Das Spiel „Erinnern. Die Kinder vom Bullenhuser Damm“ zeigt auf eindrückliche Weise, dass man dieser Herausforderung gewachsen ist und wie Scharfsinn in der Recherche, Kooperation mit der Gedenkstätte und geistreiche Entwicklung zu einem zukunftsfähigen Model zusammenwachsen können. Als Digital Remembrance Game zielt das Spiel auf einen Bereich in den Kerncurricula, der in Anbetracht des Erstarkens von Rechtspopulismus und der gleichzeitigen zeitlichen Distanz zum Nationalsozialismus sowie dem Verschwinden der Zeitzeug*innen zentraler nicht sein könnte: den der Erinnerungs- und digitalen Geschichtskultur (als Beispiel Bayern, Gymnasium: Klasse 9, Realschule: Klasse 9, Klasse 10). Diese können im Unterricht über Spiele thematisiert werden, einhergehend mit der Schulung einer der wichtigsten Kompetenzen, die im Geschichtsunterricht gelehrt werden sollten: Medienkritik. Spiele funktionieren allerdings nur in Kombination mit weiteren Lernmedien. Im Falle von „Erinnern. Die Kinder vom Bullenhuser Damm“ sind das Originalquellen und – sofern möglich – auch der Besuch des Ortes des Verbrechens selbst sowie der Gedenkstätte. Letzteres entfaltet eine starke pädagogische Wirkung auf die Lernenden, die den Ort bereits aus dem Spiel kennen und dann mit Vorwissen neu entdecken. Das Spiel agiert sehr geschickt, indem es die Lernerfahrung von Schüler*innen im Spiel in das Setting der 1970er-Jahre legt und zum eigenen Spielelement macht.
Entgegen der Kritik von Felix Zimmermann in diesem Heft, dass für den Einsatz im Unterricht konzipierte Spiele meist nicht gespielt würden, mache ich eine gegenteilige Erfahrung: Schüler*innen spielen gerne im Unterricht, gerade auf ihren Tablets, aber in der Tat sollten die Spiele noch mehr gespielt werden. Ich möchte daher eine Lanze für Serious Games brechen – nicht nur als Lernspiel, sondern als Experimentierfeld, das thematisch und spielmechanisch dazu einlädt, Spiele im Unterricht einzusetzen. Daher der Appell an alle Lehrkräfte: Traut euch!
Literatur
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