Wie werden der Zweite Weltkrieg und der Kampf gegen den Nationalsozialismus in verschiedenen Ländern Europas erinnert? Und wie können – ergänzend zu den bestehenden – alternative Konzepte für die Gedenkarbeit mit jungen Menschen aussehen? Diese Fragen stellte sich Educat, ein Kollektiv von Bildungsreferent:innen, die diversitätsbewusste und machtkritische Bildungsformate anbieten. Auf ihre Initiative hin setzten sich rund 50 historisch-politische Bildner:innen aus Russland, Belarus, der Ukraine, Deutschland und Griechenland im Projekt „Cultures of Remembrance“ mit diesem Themenkomplex auseinander: Bei drei internationalen Fachaustauschen, zahlreichen Online-Seminaren und Workshops seit 2020 standen zunächst unterschiedliche erinnerungskulturelle Aspekte und im Besonderen verschiedene Narrative zum Zweiten Weltkrieg in Europa im Mittelpunkt. Im Projektverlauf wurde angesichts des Krieges in der Ukraine immer mehr die Frage nach der Instrumentalisierung historischer Narrative bis heute zum bestimmenden Thema.
Auf unseren Begegnungsreisen nach Griechenland, Russland und in die Ukraine wollten wir aus der Vergangenheit lernen, um die gegenwärtigen Verhältnisse besser zu verstehen. Die Teilnehmenden – darunter Lehrkräfte, NGO-Mitarbeitende, Sozialarbeiter:innen, Aktivist:innen, Journalist:innen und Wissenschaftler:innen – brachten aufgrund ihres jeweiligen beruflichen Hintergrundes sehr unterschiedliche Zugänge zum Thema mit. Das als Ergebnis des Projekts entstandene Multimedia-Archiv vereint dementsprechend eine multiperspektivische Vielfalt von mehrsprachig aufbereiteten Ansätzen, Medien und Methoden.
Zwei der dort dokumentierten Video-Vorträge greifen schwierige und emotionale Themen auf: Kollaboration unter der deutschen Besatzung und sexualisierte Gewalt. Am Beispiel der ukrainischen Hilfspolizei in Kiew und ihrer Rolle im Holocaust in der Ukraine erläutert Daniil Sytnyk von der Kiew-Mohyla-Akademie Strategien der nationalsozialistischen Besatzungsmacht zur Einbindung der lokalen Bevölkerung ebenso wie individuelle Motive für Kollaboration. Marta Havryshko beschäftigt sich mit Motiven und Strategien von Tätern sexualisierter Gewalt während des Holocaust. Sie untersucht Faktoren wie Alter, ethnische oder religiöse Identität, sozialer Status und die Machtposition der Täter, fragt aber auch nach dem Einfluss von Geschlechterrollen und kulturellen Vorstellungen etwa von (militarisierter) Männlichkeit.
Ein wichtiges Projektziel war es, neue Wege zu finden, das Interesse junger Menschen für die Auseinandersetzung mit Geschichte und für Gedenkarbeit zu wecken. Dazu wurde eine Broschüre mit Methoden erstellt, die gegenwärtige Herausforderungen in der Gedenkarbeit – wie etwa abnehmendes Faktenwissen, Umgang mit sozialen Medien, fehlende Zeitzeug:innen und persönlicher Bezug – berücksichtigt.
Darüber hinaus präsentiert die Projektwebsite unterschiedliche Zugänge zu verschiedenen Aspekten der Erinnerungskultur. So entstand in Zusammenarbeit mit dem FHXB-Museum in Berlin-Kreuzberg die Online-Ausstellung „before night falls“: Auf virtuellen Zeitreisen in das Berlin der nahen Zukunft und der 1920er Jahre können die User:innen mit einem Avatar durch die Stadt gehen. Durch den Rückgriff auf Hintergrundinformationen in Text-, Bild- und Audioform können sie den Alltag und die Lebenswirklichkeit von Arbeiter:innen in der Weimarer Republik erleben.
Dass Erinnerungs- und Gedenkorte auch akustisch erfahrbar sind, zeigt die Klanginstallation eines Besuches der St. Petersburger Gedenkstätte „Straße des Lebens“. Diese liegt am Ufer des Ladogasees, über den die Stadt Leningrad während der Belagerung durch die Deutschen versorgt wurde und Menschen evakuiert wurden. Über diese Blockade steht nun ebenfalls ein neu entwickelter Telegram-Informationskanal zur Verfügung, der einen Einblick in die „tödliche Zeit“ im Januar und Februar 1942, die schrecklichsten Monate der Belagerung Leningrads, gibt. Die Inhalte bauen auf den Tagebüchern von drei Zeitzeugen auf: dem Leiter der chirurgischen Abteilung eines Krankenhauses, einem Schullehrer und einem Schiffbauingenieur. Der Kanal möchte einen Beitrag zur Etablierung einer progressiven historischen Bildung in Russland leisten.
Die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg hat im (post-)sowjetischen Raum bis 1989/90 und erst recht danach erhebliche Wandlungen durchlaufen und wurde dabei nicht selten politisch instrumentalisiert. Vor dem Hintergrund des aktuellen Kriegs in der Ukraine haben diese – zum Teil deutlich propagandistischen – Narrative neue Bedeutung erhalten. In mehreren Essays gehen wir Zusammenhängen zwischen Mythisierung und Militarisierung nach und zeigen Parallelen und Kontinuitäten auf.
Zusätzlich hat sich Kai* Brust mit der Geschichte der Zuschreibung von Gender-Nonkonformität im Nationalsozialismus befasst und Ego-Dokumente von als Transvestit:innen identifizierten Personen transkribiert und eingesprochen. Dadurch werden Einblicke in die Lebenswelten von LGBITQ*-Menschen in der NS-Zeit möglich. So rückt eine kaum bekannte und bisher auch nur wenig erforschte Verfolgtengruppe des Nationalsozialismus in den Fokus, was einen Beitrag zu einer erst noch im Entstehen begriffenen Erinnerungskultur leistet.
Am Ende des Projekts steht auch die Erkenntnis, dass Frieden und Solidarität in Europa ohne eine transnationale Auseinandersetzung mit Geschichte nicht möglich sind. Zivilgesellschaftlicher Dialog und internationale Verständigung sind in Zeiten von Krisen und Konflikten wichtiger denn je. Im Projekt ist trotz der Corona-Pandemie und des russischen Angriffskriegs über die Ländergrenzen hinweg ein internationales Netzwerk entstanden, das nicht nur Raum für Informationsaustausch bot. Gelebt wurde und wird ebenso gegenseitige Unterstützung. Hier entstanden Freundschaften und Solidarität zwischen Menschen, deren Nationen sich feindlich gegenüberstehen.
Projektname: Cultures of Remembrance
Homepage: https://cultures-of-remembrance.com/en/
Projektträger: Educat e.V.
Social Media:
Instagram: https://www.instagram.com/cultures_of_remembrance
Materialien: Methodenbroschüre des Projektes